Eine Rezension von Gerhard Fischer
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Gerhard Zwerenz:
Krieg im Glashaus oder: Der Bundestag als Windmühle
Autobiographische Aufzeichnungen vom Abgang der Bonner Republik.
Edition Ost, Berlin 2000, 440 S.

Von 1994 bis 1998 gehörte der parteilose Schriftsteller Gerhard Zwerenz zu „Gysis bunter Truppe“, der PDS-Gruppe im Deutschen Bundestag. Das war dessen 13. Legislaturperiode - die letzte, die er voll in Bonn verbrachte -, und die PDS stellte 30 von 672 Abgeordneten. „Als politisches Versuchskaninchen recherchierte ich in vier Jahre langer Mitgliedschaft des Bonner Bundestages Glanz und Elend der Politiker“, schrieb der Autor am Ende dieser Zeit. In schlaflosen Nächten zwischendurch füllte er fast 2 000 Blatt mit Notizen - Eindrücken und Begebenheiten, Gedanken und Erinnerungen -, die er Ende 1998 und Anfang 1999 zu dem vorliegenden Buch verarbeitete. In dieser gedruckten Fassung wird weder ein systematisches noch ein chronologisches Ordnungsprinzip erkennbar; auch Wiederholungen unterlaufen. Aber vielleicht liegt gerade in solch scheinbarer Unordnung der Reiz der Publikation: Sie wirkt unmittelbar, authentisch, weithin überzeugend.

Ihr Titel erklärt sich nicht nur aus der Bauweise des Hauses, in dem der Bundestag zusammentrat. „Die Chiffre Glashaus bedeutet auch, der Ort der langen Fensterreden und großen falschen Worte soll durchsichtig werden bis ins letzte Hinterstübchen ...“, schreibt der Verfasser. Weder er selbst noch sein Stil leugnen den geborenen Satiriker. Das Buch besteht zu weiten Teilen aus Sottisen. Teils süffisant, teils mit bitterer Ironie schreibt er sich von der Seele, was ihm im Bundestag begegnete. Das ist seine Art, Erlebtes zu verarbeiten. Nur selten wird seine Schilderung freundlich, nämlich dann, wenn er auf Leute trifft, die - zumindest in Einzelfragen - ihm gleich- oder ähnlich gesinnt sind. Geradezu liebevoll äußert er sich über Fraktionskollegen wie Stefan Heym oder Heinrich Graf Einsiedel.

Dieser nennt ihn einen „Choleriker“, Zwerenz selbst bezeichnet sich als „Sanguiniker“, aber er weiß auch: „... ich bin kein Gutmensch und liebe meine Aggressionen mehr als mich selbst.“ Das Buch lebt von seiner Subjektivität, oft sind Emotionen spürbar. Das ist begreiflich und gutes Recht des Literaten. Dahinter steht die Erfahrung eines wechselvollen Lebens. Krieg und Gefangenschaft hat er mitgemacht, dann fast ein Jahrzehnt in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR gelebt, 1957/58 in West-Berlin, anschließend als freier Schriftsteller in der Alt-BRD: zunächst in Kasbach am Rhein, ab 1961 in Köln, ab 1967 in München, bis er im Hochtaunus ansässig wurde. Wie vereinbart sich die Ungebundenheit, in der er bis dahin lebte und schrieb, mit einer Abgeordnetenexistenz, die ihn nun vier Jahre lang fast ausfüllt? Das ist eine Frage, über die er häufig nachdenkt. Diese Reflexionen sind, als er das Buch schreibt, offenbar noch nicht abgeschlossen.

Ursprünglich wollte er im Parlament lediglich recherchieren. „Was aber, wenn am zentralen Ort der Diskurse nur Theater gespielt würde? Der Gedanke, dies direkt und konkret überprüfen zu können, ist reizvoll.“ Oder an anderer Stelle: „... der Bundestag als Zielort von Erfahrung und Recherche übertraf die anderen Gründe meines Engagements.“ Aber zugleich merkt man, Zwerenz nimmt die Aufgaben eines MdB zunehmend ernst. Er gibt Reden wieder, die er gehalten, Zwischenrufe, die er gemacht, Ausschußberatungen, an denen er teilgenommen, und Episoden, die er erlebt hat. Ja, zuweilen schlägt er die Redeschlachten, die er im Parlament schlug, im Buch ein zweites Mal.

Daneben aber erzählt er, was ihm sonst noch durch den Kopf ging und geht - von Reminiszenzen an den Kampf gegen die Startbahn West im Flughafen von Frankfurt am Main oder an die Kommandeurtagung der Bundeswehr in Würzburg 1988, an der er als Sonderkorrespondent der „taz“ teilnahm, bis hin zu Erkenntnissen über Leo Trotzki und zu Überlegungen über die CDU-Schwarzgeldaffäre, die ihm 1999 im Zusammenhang mit der NATO-Aggression gegen Jugoslawien in den Sinn kommen. Dabei spürt der Leser immer deutlicher, daß es eigentlich zwei Grunderlebnisse sind, die das politische Engagement von Gerhard Zwerenz motivieren.

Das eine: Den Krieg hat er 1943/44 erlebt, zuerst in Italien, dann an der deutsch-sowjetischen Front. Dort im Sommer 1944 noch den Warschauer Aufstand, der ihn „endgültig bewog, am 18. August von der Fahne zu gehen“ und zur Roten Armee überzulaufen. Seine „Solidarität mit den Wehrmachtdeserteuren“ rührt daher, daß „deren Absonderung und Kriminalisierung 1945 nicht endete“. So erklärt sich sein steter Einsatz für ihre Rehabilitierung, aber auch für die Ausstellung „Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht“, sein Widerstand gegen eine Neuauflage der Dolchstoßlegende, letztlich sein Bekenntnis zum Antifaschismus. Lange Passagen des Buches zeugen davon.

Das andere Grunderlebnis: die Konflikte mit seiner früheren Partei, der SED, der er 1948 beigetreten war und die ihn 1957 ausschloß. Der Zorn auf sie zittert nach. Aber genauso entschieden wendet er sich gegen den Antikommunismus einschließlich des „Neo-Antisozialismus“, wie er seit 1989/90 im Schwange ist. Anfänglich hat er verständlicherweise ein etwas gebrochenes Verhältnis zu den ostdeutschen PDS-Abgeordneten im Bundestag. Auf die kommunistische Plattform ist er gar nicht gut zu sprechen. Aber gerade die feindseligen Tiraden, die er im Plenum und auch anderwärts ständig zu hören bekommt, veranlassen ihn, sich in wachsendem Maße mit der PDS, ja mit der Ex-DDR zu solidarisieren, und zwar zu seiner eigenen fortgesetzten Verwunderung. Auch davon zeugt das Buch an vielen Stellen.

Über dem Unrecht, das ihm, Zwerenz, und anderen in der DDR angetan wurde, so seine Maxime, darf nicht die schwerwiegende geschichtliche Schuld vergessen werden, die das deutsche Bürgertum und auch sozialdemokratische Führungskreise auf sich geladen haben, von der unvergleichlichen Schuld des Hitlerfaschismus ganz zu schweigen. In der PDS dagegen erblickt Zwerenz eine „linkssozialistische Reformpartei“. Die Funktion ihrer Bundestagsgruppe sieht er so: „Die PDS verschiebt den rigiden Dauerzustand des konservativ-nationalen Übergewichts im Bundestag ein wenig nach links, was Feindschaft von rechts einbringt und die Burgfriedensmentalität der Sozis und Grünen stört.“ Er selber plädiert für einen „dritten Weg“, aber nicht im Sinne von Tony Blair und der SPD-Führung, von denen er sich vehement abgrenzt. Bleibt ihm am Schluß ein Gefühl fortbestehender politischer Heimatlosigkeit? „Ich ging immer nur weg und kam nie an“, klagt er. Haben die „späteren Lehrjahre“ in Bonn daran etwas geändert?

Sein Urteil über den Bundestag als solchen fällt vernichtend aus: „Manege“, „Staatstheater“, die „übliche gedankenlose Polithaltung der Parteien“. Er kommt zu dem Schluß: „80 Prozent der Bundestagsreden sind nicht sachbezogen, billige Ideologie-Polemik, schlankweg überflüssig ...“ Er resümiert: „Wenn ich Ende 1998 auf meine vier Recherchejahre im Glashaus zurückblicke, erkenne ich drei unterschiedliche Erfahrungsweisen, die einander abwechseln: Empörung - Galgenhumor - Melancholie.“

Was bei der Annäherung der beiden ehemaligen deutschen Staaten erreicht wurde, nennt er nach dem Stand von 1998 die „veruneinigten Deutschlande“. Bemerkenswert seine Urteile über weitere Persönlichkeiten und Vorgänge der Zeitgeschichte, so über Gorbatschow: „der gutwillige, glücklose, naive Vollender des sowjetischen Untergangs“, den er mit den Worten kennzeichnet: „... das Imperium zerfiel, nur ein leises Stöhnen und rasant wachsende Armut blieben zurück.“

Überhaupt sind viele Stellen in dem Buch so treffend formuliert, daß es reizen würde, sie hier zu zitieren; der Platz verbietet es. Darüber seien dem Autor die relativ wenigen Stellen nachgesehen, an denen er irrt: so, wenn er den Brester Frieden um ein Jahr vorverlegt, das Reichskriegsgericht mit dem Reichsgericht verwechselt, Mandela zu den Kommunisten zählt und Lafontaine erst im Herbst 1999 zum Finanzminister werden läßt. Polemisieren müßte man dagegen, daß er die Sprachregelung von den „ehemals kommunistischen Blockparteien“ in der DDR übernimmt; aber die gehören unter Umständen zu jenem „DDR-Leben, das mir so unbekannt geblieben ist wie die Abenteuer der australischen Ureinwohner“. Auf diesen Umstand ist wohl auch zurückzuführen, daß der Verfasser anscheinend nicht weiß: In jedem DDR-Bezirk, nicht nur in Leipzig, gehörte der Leiter der MfS-Bezirksverwaltung zur „Einsatzleitung“ beim 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung.

Energisch widersprechen muß der Historiker allerdings der Behauptung: „Der Westfälische Friede, der 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendete, leitete zu hundert Jahren kriegerischer Enthaltsamkeit über. Erst 1756, mit dem Beginn des Siebenjährigen Krieges, setzte die neue Epoche großer Völkerschlachten wieder ein.“ Was ist mit den französisch-spanischen Kriegen, dem Schwedisch-Polnischen Krieg, den „Raubkriegen“ Frankreichs gegen Holland und Deutschland, den „Türkenkriegen“, dem Spanischen Erbfolgekrieg, dem Nordischen Krieg, dem Polnischen Thronfolgekrieg, dem Österreichischen Erbfolgekrieg, dem 1. und 2. Schlesischen Krieg? War das etwa kein Völkerschlachten? Das hätte spätestens dem Lektorat auffallen müssen. Gleiches gilt übrigens für einen zweimal als Faksimile wiedergegebenen Zeitungsausschnitt.

Doch dafür bietet Zwerenz herrliche Fundstellen anderer Art. Kanzler Kohl beispielsweise schrieb 1996 an den Präsidenten des Heimkehrerverbandes, General Kießling: „Kollektivurteile sind von vornherein falsch.“ Dem Bundesvorsitzenden des Verbandes Deutscher Soldaten, Generalmajor a. D. Schreiber, erklärte 1997 Kanzleramtsminister Bohl, „daß sowohl der Bundeskanzler als auch er selbst Gegner jeglicher Pauschalisierung wären“. Diese Wertungen bezogen sich allerdings nicht etwa auf die DDR, sondern auf die Hitlerwehrmacht und auf die ihr gewidmete antimilitaristische Ausstellung.

Zu den Eigenheiten von Zwerenz' Büchern - viele von ihnen erwähnt er hier rückblickend - gehört, daß der Leser am Schluß oft nicht recht weiß, welchem Genre er sie zuordnen soll. Ein Trost mag ihm sein, daß auch der Autor sich fragt, „ob die hier vorgelegten Kapitel zur Sparte Belletristik, Sachbuch oder den Abenteuergeschichten einer Mondfahrt zählen. Ich ziehe es vor, keiner Sparte zugerechnet zu werden. Im Glashaus ist Notizbuch, subjektive Reportage, impressionistische Bestandsaufnahme, Abfuhr nazistischer Legenden - alles zusammen in vier langen sauschönen und schweineunschönen Jahren vorgefertigt ...“ Dem sei nichts hinzugefügt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
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