Eine Rezension von Eva Kaufmann

Auf der Suche nach der eigenen Geschichte

Christine Wolter: Das Herz, diese rastlose Zuneigungs- und Abneigungsmaschine
Roman einer deutschen Trennung.
Das Arsenal, Verlag für Kultur und Politik Berlin 2000, 224 S.

„Die Liebe höret nimmer auf“ lautet der Leitspruch, den einst ein sächsischer Landpfarrer seiner Tochter Carola mit auf den Weg gab. Sie hält sich daran, zu ihrem Glück, aber auch zu ihrem Unglück, denn ihr Ehemann kündigt Liebe und Ehe nach zwanzig Jahren auf. Von dieser Liebes- und Ehegeschichte berichtet eine Ich-Erzählerin, die sich nur zögernd als Tochter dieses Paares zu erkennen gibt.

Der Untertitel dieses Romans, dessen Handlung von 1930 bis 1990 reicht, verweist darauf, daß die erzählte Geschichte wesentlich mit konkreten Bedingungen deutscher und Weltgeschichte zu tun hat. Die Bezeichnung „Roman einer deutschen Trennung“ mag irritieren, denn beide Eheleute leben, auch nach der Scheidung, in der DDR. Die Ich-Erzählerin, die vergeblich an die immerwährende Liebe glauben möchte, will herausfinden, was ihre Eltern zusammen- und später auseinandergebracht hat.

Es sind, so der Befund, in hohem Maße politische und moralische Differenzen, die sich vor allem aus dem Beruf des Protagonisten Hanns Fraemke ergeben. Er ist Architekt. Um 1930, als die Handlung mit der reizvollen Darstellung einer Reisebekanntschaft einsetzt, hatte sich Fraemke mit einer Reihe moderner, funktional orientierter Bauten hauptsächlich in Ostpreußen, speziell in Königsberg, einen Namen gemacht. Das rechtskonservative Klima, das sich in dieser Region auch im Kulturbereich auswirkt, stoppt zu Beginn der 30er Jahre seine Karriere. Nach 1933 paßt er sich dem Geschmack der Nazis nicht an. Seine junge Frau unterstützt ihn dabei. Das Paar übersteht die Nazizeit mit kargen Einkünften einmütig. Der Krieg verschlägt sie und ihre beiden kleinen Kinder nach Sachsen, wo Fraemke bald als „Unbescholtener“ zum kulturellen Wiederaufbau herangezogen wird. Weil er mit Leib und Seele bauen will, hält er in Ost und West Ausschau nach Bauaufträgen. Angebote kommen Anfang der 50er Jahre für die Stalinallee in Berlin. Ihn lockt die Chance, sich mit 60 alte Träume von großzügigem modernen Bauen fürs Volk ohne Rücksicht auf Bodenpreise zu erfüllen. Er macht Karriere - um einen hohen Preis. Denn seine vom Bauhaus geprägten künstlerischen Überzeugungen werden in der DDR verteufelt. Er beugt sich.

Als junger Architekt, der als „links“ galt, hatte er die Kraft aufgebracht, sich den Forderungen zu widersetzen, im völkischen Sinne zu bauen. In der DDR gibt er immer wieder nach, nicht nur aus Karrieregründen, sondern weil er glaubt, die offizielle Städtebaupolitik mit den Sozial- und Kunstutopien seiner jungen Jahre vereinbaren zu können. Welch ein Paradox! Im Schlepptau sowjetischer Architekturmuster und im Kampf gegen den „Kosmopolitismus“ läßt er sich darauf ein, im Namen wirklicher und angeblicher „nationaler Traditionen“ gegen Bauhaus-Prinzipien zu bauen.

Seine Frau kritisiert diesen Verrat unnachgiebig. Sie ahnt lange Zeit nicht, daß er nicht nur seinen Kunstanschauungen, sondern auch ihr untreu wird. Während sie sein anstrengendes Taktieren mit ihren Dreinreden stört, findet er Bestätigung bei einer jungen Assistentin.

Die politischen, sozial- und kulturgeschichtlichen Fakten interessieren, weil sie nicht als platte Geschichtsillustrationen daherkommen, sondern als emotional getönte, persönliche Geschichte vorgetragen werden. Die Ich-Erzählerin verhehlt nicht die Mühe, angesichts des Zwists der Eltern unparteiisch zu sein. Sie erinnert sich auch daran, daß sie sich als Heranwachsende der verlassenen und bitter werdenden Mutter gegenüber zuweilen ungeduldig und ungerecht verhalten hatte. Als Tochter war und ist sie unmittelbar beteiligt. Die vielfache subjektive Verwicklung der Ich-Erzählerin macht die Darstellung atmosphärisch eindringlich.

Es ist zu ahnen, daß Christine Wolter (geb. 1939) der Ich-Erzählerin und ihrer Familie nahesteht. Sicher ist, daß die Bindung ans Autobiographische die Fiktion, die Fabulierfreude in keiner Weise behindert. Wolter erzählt sehr dicht. Wer sich auf die Unmittelbarkeit ihres Erzähltons eingestellt hat, fühlt sich in die dargestellten Ereignisse und Stimmungen hineingezogen.

Die ausgefeilte Erzählkunst dieses Romans hat mit Wolters jahrzehntelangen Erfahrungen als Prosa-Autorin zu tun, die 1973 im Aufbau-Verlag ihren Anfang hatten.

Nicht nur als Romanistin, als Übersetzerin und Herausgeberin vor allem italienischer Literatur, auch durch ihren Wohnort Mailand (seit 1978) ist sie in anderen Kulturkreisen heimisch. Von da aus blickt sie auf deutsche Lebensverhältnisse mit großer Genauigkeit, mit Anteilnahme und Distanz.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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