Eine Rezension von Manfred Lemaire

Er kennt keine heiligen Hallen

Tom Wolfe: Hooking up. Neuigkeiten aus dem Weltdorf.
Aus dem Amerikanischen von Benjamin Schwarz.
Karl Blessing Verlag, München 2001, 347 S.

Berühmtes Foto von Jacques Lowe: Da sitzt er, auf dem Umschlag des Buches, der Mann in Weiß, leicht ironisches Lächeln im angejahrten Gesicht. Weißer Anzug mit weißer Weste und weißen Knöpfen, weißer Schlips und weißer Hut, weißes Hemd mit Streifen, weißes Taschentuch mit Rand, linke Hand lässig auf der Stuhllehne, die rechte graziös auf den Stock gestützt. Dandy Tom Wolfe, Jahrgang 1931, geboren als Thomas Kennerly, Südstaatler, nichts Menschliches ist ihm fremd. Autor des schon legendären Bestsellers A Man in Full (New York 1999, deutsch Ein ganzer Kerl, bei Kindler 2000, siehe BLZ 2/1999) nach dem längst legendären Fegefeuer der Eitelkeiten von 1987.

Das jüngste Buch nun von Wolfe ist eine Sammlung von Aufsätzen, Essays, Berichten, zwei Nachdrucken aus alten Tagen, anno 1965, sie wirbelten als Originale beträchtlichen Staub auf, das konnte Wolfe schon damals gut. (Starkolumnist Walter Lippmann: W. „ist ein inkompetenter Scheißkerl“.) Dazu eine glänzende Novelle Hinterhalt in Fort Bragg, Satire auf den Quoten-Fernsehjournalismus, der sich hier selbst ein Bein stellt. Mittendrin die köstliche, bissige, geistreiche Abrechnung mit drei ebenso weltbekannten wie steril gewordenen Literaten, Kritiker seines Man in Full. Nicht zu vergessen das kleine erste Kapitel des Buches: „Hooking up“ ist die titelgebende Betrachtung über das Leben in den USA an der Wende zum dritten Jahrtausend, darin eine saftige Analyse des Sexualverhaltens amerikanischer Jugendlicher mit dem Hinweis auf ihr schon etwas älteres Vorbild im Weißen Haus. Ein unvermeidlicher Hinweis auf Bill und Monika - hier schreibt Tom Wolfe, und für den gibt es keine heiligen Hallen, so weiß sie auch sein mögen. (Mit hooking up wird in den USA das Balzverhalten vor alltäglicher Intimität und Ehe bezeichnet, das - wiederholbare - Stadium, in dem das Mädchen sich einen Jungen oder der Junge sich ein Mädchen angelt. Darüber hinaus meint Wolfe wohl auch die Komödie menschlicher Beziehungen ebenso wie die Tragödie internationaler Konflikte um nichts als money in einer sich verändernden Welt, in der es eine Konstante gibt, den Mangel an Lernfähigkeit der Menschen.)

Das folgende zweite Kapitel „Bestie Mensch“ bietet in einem ersten Teil - die beiden weiteren Aufsätze hätte der Hobby-Philosoph Wolfe sich sparen können - einen allgemeinverständlichen Einblick in Entstehen und Wirkung der Halbleitertechnik, integrierte Schaltkreise und Speicherchips, dargestellt an Pionieren wie Bob Noyce, Vater des Silicon Valley. Das ist ein Lobgesang auf junge, höchst unkonventionelle, vorwärtsdrängende Ingenieure und Wissenschaftler, die mehr als ein Tor zu neuester Technik und Technologie aufgestoßen haben, übrigens nicht gelähmt, sondern beflügelt durch den Start von Sputnik I. Hier bleibt Wolfe bei seinem ursprünglichen Metier, als Journalist Recherchiertes zu berichten und an Hand von Fakten zu werten. Lesenswert für deutsche Unternehmer dürften die Hinweise auf die Führungsmethoden sein, mit denen in Kalifornien bahnbrechende Erfolge erzielt wurden, und die Kritik an den erstarrten Prestige-Konventionen der Ostküstenmanager. Daß inzwischen so viele Hightech-Blasen in Silicon Valley und anderswo geplatzt sind, konnte (auch) Tom Wolfe nicht voraussehen.

“Eins kann ich Ihnen sagen: Elf Jahre an einem einzigen Buch zu schreiben ist finanziell tödlich, geistig und physisch ein Schlag ins Genick, die Hölle für die eigene Familie und eine Zumutung für alle Beteiligten - kurz, ein unentschuldbares, beinahe unanständiges Verhalten.“ Nach diesem Satz schildert Wolfe, selbstverständlich nicht ohne Eitelkeit, den unleugbaren Erfolg von A Man in Full und nimmt seine Kritiker auf die Hörner, die drei Literaturgrößen John Updike, Norman Mailer, John Irving. „Drei prominente alte Romanciers erwachen in ihren literaturhistorischen Nischen und belegen einen neuen Roman mit ihrem Bannfluch.“ Scharf und durchweg elegant bürstet er seine drei Kollegen ab, die offensichtlich seine Neider sind.

Er setzt ihrer Kritik die Art seines Vorgehens entgegen, die er von Zola gelernt und John Steinbeck nachempfunden hat, bewußt oder unbewußt: „Früchte des Zorns ist ein amerikanisches Beispiel für Zolas Romanmethode: das Arbeitszimmer verlassen, in die Welt hinausgehen, die Gesellschaft erforschen, individuelle Psychologie mit ihrem gesellschaftlichen Kontext verbinden, sich genügend Material zur höchstmöglichen Ausübung seiner Macht als Schriftsteller verschaffen - und damit den Leser vollkommen in Bann schlagen.“ Wolfe schließt diesen zornigen Essay mit einem Hinweis, wie der nach seinen Worten an Magersucht sterbende amerikanische Roman gerettet werden kann, nämlich durch Autoren, die an Amerika herangehen „mit einer unersättlichen Neugier und dem Drang, sich hinaus unter seine 270 Millionen Bewohner zu begeben und ihnen ins Auge zu sehen“.

Das letzte Kapitel des Sammelbandes ist der mit einem Nachwort versehene Nachdruck jener zwei Beiträge aus dem Jahr 1965, die, inhaltlich zusammenhängend, in der Sonntagsbeilage der „Herald Tribune“ erschienen sind. Wolfe, damals Lokalreporter, und ein Kollege kamen auf die Idee, die einst bedeutende Literatur-Wochenzeitung „New Yorker“ satirisch anzugreifen, und zwar durch ein Porträt ihres publikumsscheuen Herausgebers William Shawn. Der Vorwurf, der auf diese Weise transportiert wurde, war eine Kritik am abgesunkenen literarischen Niveau des „New Yorker“. Wolfe äußert zum Nachdruck dieser beiden Zeitzeugnisse, seine größte Sorge bei der Wiederveröffentlichung sei gewesen, daß Leser im Jahr 2000 sich fragen könnten, worum dieses ganze Theater gegangen sei, das sich daraus ergab. Nun, diese Frage stellt man sich in der Tat, und darüber hinaus ist nicht ersichtlich, warum die Beiträge nach 35 Jahren überhaupt noch einmal veröffentlicht werden. Vielleicht fehlte dem Buch etwas Volumen, und da hat man in die Mottenkiste gegriffen, das ist durchaus branchenüblich. Wolfe jedenfalls, elegant wie immer, fängt jede solche Kritik mit der Bemerkung auf, er biete dem Leser mit diesen beiden Beiträgen zum Schluß noch zwei dieser mit Schokolade überzogenen und in Goldfolie gehüllten Pfefferminztaler an, wie sie dem Hotelgast vom Zimmermädchen abends aufs Kopfkissen gelegt werden. Wohl wahr, und noch dazu uralte Pfefferminztaler. Aber der Leser ist durch die anderen Teile des Buches vollauf entschädigt. Und er hofft auf den neuen Roman, an dem dieser Vollblutautor schreibt. Möge es nicht wieder ein Jahrzehnt dauern, bis er erscheint.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite