Eine Rezension von Cristina Tudorica

Zukunft! Zukunft?

Tübinger Poetik-Vorlesung
Herausgegeben von Jürgen Wertheimer.
Claudia Gehrke Konkursbuch, Tübingen 2000, 141 S.

Der Band dokumentiert unter dem Titel „Zukunft! Zukunft?“ die diesjährige Tübinger Poetik-Dozentur, eine seit 1995 regelmäßig stattfindende Veranstaltung. Die Beiträge der acht Schriftstellerinnen fallen - bedingt durch ihre Herkunft, die literarische Tradition, der sie sich zugehörig fühlen, und durch die Projektion eigener Wünsche und Vorstellungen in die Zeit des anbrechenden Jahrtausends - sehr unterschiedlich aus.

Es kristallisieren sich nach der Lektüre zwei Richtungen heraus. Man findet einerseits etwas wie die „ältere“ Generation der Schreibenden, die sich der Herausforderung Zukunft! Zukunft? aus künstlerisch-ästhetischer Perspektive nähert: Im Mittelpunkt der Betrachtung steht die Beschäftigung mit der Weiterentwicklung und der Rolle der Literatur.

Batya Gurs (geb. 1947) Ausführungen gleichen einem philosophischen Nachdenken im Zeichen der Weisheit des alttestamentarischen Königs Kohelet, wonach „das, was gewesen ist, das, was sein wird, ist“. Die Zukunft kehrt diesen Grundsatz um. Die beunruhigende Warnung heißt Unwiederholbarkeit. Das will sagen, daß die Welt aus den Fugen gerät, weil der Mensch die Begleiterscheinungen von Fortschritt und Technik nicht mehr beherrschen können wird.

Dubravka Ugresic (geb. 1949) stellt die kritische Frage nach den Grundvoraussetzungen für das Fortbestehen von Literatur in einer Zeit, in der der Markt zur Ideologie geworden ist, in der Bücher „Produkte des wirtschaftlichen Gebarens von Verlagen“ sind und der Slogan „money creates taste“ das literarische Wertsystem bestimmt.

Auch die italienische Germanistin Anna Maria Carpi (geb. 1939) fühlt sich fremd in einer Welt der genetischen Manipulation, der chronischen Eile und der aufs Notwendigste reduzierten alltäglichen und literarischen Kommunikation. Auf ihrer Zeitreise führen zahlreiche Verweise zu Nietzsche, Ingmar Bergman, H. M. Enzensberger oder zu Montale. Die Wahlverwandtschaften versteht man als Widerstand gegen die Zukunft des „wetware“.

Die Reihe schließt Barbara Honigman (geb. 1949). Für sie bedeutet Zukunft, „das Weibliche, das Jüdische, das Schreiben“, das Leben in einer Tradition, die von Glückel von Hameln über Rahel von Varnhagen bis hin zu Anne Frank reicht. Schreiben ist das Bewußtsein um die Zugehörigkeit zu einer Randliteratur und zugleich die innere Verpflichtung und der Stolz, diese Literatur weiterzuführen. Gut recherchiert, flüssig geschrieben, mit einem soliden kulturgeschichtlichen Hintergrund, lesen sich die Essays der „älteren Generation“ wie prägnante Skizzen, die trotz ihrer Kürze wertvolle Anregungen zum Nachdenken, Lesen oder Wiederlesen vermitteln.

Im Gegensatz dazu zeichnen sich die Beiträge der „jüngeren Generation“ von Schriftstellerinnen durch betonten Subjektivismus und Introspektion aus.

Herta Müllers (geb. 1953) Ausführungen setzen sich zusammen aus Rückblenden in die Vergangenheit der rumänischen Diktatur, die erzähltechnisch mal mehr, mal weniger erfolgreich in die Gegenwart eingebaut werden. Thematisch findet man auch hier das alte Muster wieder, das bereits aus ihrem ersten Erzählband, den Niederungen (1982), bekannt ist und das sich durch die gesamte spätere Prosa ziehen wird: Im Mittelpunkt des Geschehens steht die intensive Beschäftigung mit dem erzählerischen Ich, das den bedrohlichen Zwangsvorstellungen der Diktatur ausgesetzt ist. „Zukunft“ heißt es, „das wird wiederum die Zuspitzung einer gewesenen Gegenwart.“

Yoko Tawada (geb. 1960) möchte auf spielerische Art erlebten Alltag, linguistische Sprachkombinationen und ernstes Nachdenken über die Zeit verbinden. Kein besonders gelungenes Unterfangen, denn die versuchten Assoziationen kommen durch sprachliche und inhaltliche Redundanzen oft gar nicht zustande. Der Diskurs selbst ist stellenweise undeutlich und unzusammenhängend.

Eher bruchstückhaft erscheint auch der Beitrag von Zoe Jenny (geb. 1974), die Gedanken über Gestalten aus der eigenen Prosa neben Überlegungen zu Flaubert, Kafka oder Jean Paul stellt. Die fehlenden Zusammenhänge machen es dem Leser schwer, sprunghafte Wechsel nachzuvollziehen, so daß letzten Endes die Absicht des Textes unklar bleibt.

Bei Alissa Walser (geb. 1961) findet die Beschäftigung mit den eigenen Empfindungen ihren Ausdruck in einer überwältigenden Ich-Bezogenheit, die jegliche andere Perspektive überschattet.

Die Sammlung von Aufsätzen ist insgesamt gesehen eine interessante und anregende Lektüre. Darüber hinaus ist der Band durch seine ansprechende Gestaltung dem Buchliebhaber eine Freude.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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