Eine Rezension von Horst Wagner

Judiths verspätete Republikflucht

Bernd Wagner: Paradies
Ullstein-Taschenbuch-Verlag, Berlin 2000, 439 S.

Auf den ersten 120 Seiten dieses Romans geht es vorwiegend um die Erlebnisse der Ich-Erzählerin Judith Mehlhorn in der Zeit, da das „Neufünfland“ noch DDR hieß, und es erscheint alles ein bißchen langweilig. Etwa wie ein Sommermittag am Prenzlauer Berg, den Autor Bernd Wagner - geborener Wurzener, gewesener Lehrer, als freier Schriftsteller 1985 von Ost- nach West-Berlin übergesiedelt - so beschreibt: „Im Hof dudelt ein Kofferradio. Pack die Badehose ein, singt Conny im RIAS, die Gören folgen ihr, packen Handtuch, Stullen und Limoflasche dazu, fahren aber ins Freibad Pankow und nicht zum Wannsee hinaus, weil der infolge Mauerbaus für sie nicht zugänglich ist. Der Vater gibt jedem zwei Groschen und wäscht dann weiter den neuen Trabant.“ Später kommt Spannung ins Paradies: Transparente neben brennenden Kerzen in der Gethsemanekirche. Die Demo in der Schönhauser, dem „großen Broadway unserer kleinen Welt ... Ja, ich marschierte, obwohl ich das haßte und mich stets geweigert hatte, bei den Maiumzügen mitzutraben“, notiert Judith, Geräuschassistentin beim Rundfunk in der Nalepastraße, in ihr nächtliches Tonband-Tagebuch. Neben Konopkes Würstchenbude „Bullen hinter ihren dunkelgrünen Wasserkühen ... Polypen hinter riesigen Gittern“. Dann: „Weißt du etwa nicht, daß die Grenze offen ist?“ Die „Schabe vom Dienst“ habe es doch auf einer Pressekonferenz verkündet.

Über die Wende- und Vereinigungstage habe ich schon viel gelesen, auch in Romanen. Aber selten so originell, so lakonisch verdichtet, manchmal ins Groteske gesteigert und gerade dadurch Erinnerung herausfordernd, wie in diesem Buch. In diesem Stil geht es weiter bei der Entdeckungsreise in den Westen, zu der Judith gleich nach der Einheitsfeier auf dem Kollwitz-Platz zusammen mit ihrem Freund Konrad in dessen himmelblauen Ford ins „Altzehnland“ aufbricht. In Hitzacker an der Elbe ist sie überrascht von den weichen Betten und der großen Speisekarte, ißt erstmals in ihrem Leben Miesmuscheln und feiert mit Konrad ihre „verspätete Republikflucht“. In Hamburg erlebt sie angesichts der Asylbewerber in ihren Containern und den „siegreich in die Ferne schauenden“ Häusern der Wohlhabenden einen „Rückfall in den Bolschewismus“. Bei Worpswede unterhält sie sich mit torfstechenden Moormenschen über die Vorzüge von Jacobs Krönung gegenüber Kaffeemix und warum man im Westen keine vernünftigen Brötchen backen kann.

Judith grübelt darüber nach, „ob es wirklich so ist, daß der wesentliche Unterschied zwischen den Westmenschen und uns darin besteht, daß die sich durch ihre Pubertät gekifft haben, während wir an den transslawischen Alkoholkreislauf angeschlossen wurden“. Und ob nicht „die deutsche Vereinigung vor allem im Bett stattfinden“ müßte. „Denn nicht umsonst heißt es schon im Alten Testament ‚und sie erkannten sich‘.“ Sie entdeckt Osnabrück als Filmstadt, wird in einer medizinischen Notaufnahme-Klinik von ihrer „blutvergiftenden“ Ostspirale befreit und frischt im Gespräch mit der hübschen Jelena ihre Russischkenntnisse auf. Im Obdachlosenasyl von Ruhrort wundert sie sich, wie ungestört dort gebumst wird, und auf dem Rummelplatz zu Duisburg lernt sie Gewehre kennen, die zum Leben erwecken. In rheinpfälzischen Weinbergen sieht sie Ölpumpen zwischen den Rebstöcken, und im bayrischen Wallfahrtsort will sie beinahe katholisch werden, weil es bisher weder mit dem Glauben an die Liebe noch an den Sozialismus geklappt hat. Am Vogelsberg, im hessischen Bergland also, wo sie ihren unterwegs verlorengegangenen Konrad wiedertreffen will, stößt sie auf kasachische Steppenpferde, was sie veranlaßt, alte Rotgardistenlieder vor sich hinzupfeifen. Ihren Konrad findet sie zunächst als toten Vogel wieder, bevor er dann lebendig neben ihr auftaucht. Nachdem sie nackt in einem Schafstall gelegen hat, fliegt sie auch noch nach Griechenland, wo ihr die Schrift, weil der kyrillischen ähnlich, vertrauter vorkommt als die schreienden Reklametexte in der Fußgängerzone von Essen. Schließlich muß sie sich aber, da ihr alles Reisegeld gestohlen wurde, auf Kreta als olivenölgesalbte „Tempelpriesterin“ prostituieren.

Es geht recht abenteuerlich zu im Paradies und auch ein bißchen märchenhaft. Reale Beziehungen und Begebenheiten sind oft in einer Phantasiewelt versteckt. Poetisches wechselt mit Groteskem. Vieles, was ernst genommen sein soll, wird gänzlich unernst gesagt. Das Buch ist ebenso sinnlich wie hintersinnig. Der eine oder andere Ost-Leser wird finden, daß bei der Schilderung von Zuständen in der DDR zuweilen Delegitimierungs-Schablonen und Stasi-Hysterie bedient werden. Manchmal hat man auch Schwierigkeiten mit der Schreibweise des Berlinischen, Sächsischen, Niederdeutschen, Rheinischen, Bayrischen oder anderer Mundarten. Trotzdem liest sich der Roman mit Vergnügen und nicht ohne Gewinn.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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