Eine Rezension von Gisela Reller

„Bin quitt mit dem Leben ...“

Nyota Thun: Ich - so groß und so überflüssig
Wladimir Majakowski, Leben und Werk, mit 67 Abbildungen.
Grupello Verlag, Düsseldorf 2000, 383 S.

Immer schon empfand ich Majakowskis Leben als außerordentlich spannend. Man denke nur an sein konfliktreiches Zusammenleben mit Lili und Ossip Brik, an Stalins zweckbestimmte Feststellung, Majakowski sei „der beste, talentierteste Dichter unserer Sowjetepoche“, an seinen tragischen Selbstmord, um den sich bis heute - wohl doch ungerechtfertigte - Gerüchte ranken, er sei im Auftrag der GPU ermordet worden. An einige Werke des großen Dichters (1,89 Meter, Schuhgröße 46) war man trotzdem schwer ranzukriegen, sie blieben einem fremd mit ihrem Getöse, rochen zu sehr nach dem „Schreihals der Revolution“.

Aufhorchen ließ da vor zwei Jahren das Buch Cityfrau (LeseZeichen 5/99) aus dem Grupello Verlag mit den futuristischen Gedichten von Burliuk und Majakowski. Durch seine Übersetzungen und kundigen Nachbemerkungen überzeugte der Übersetzer Alexander Nitzberg mit eindrucksvollen Beispielen davon, daß sich Majakowskis deutsche Übersetzer schuldig gemacht haben, weil sie dessen Sprache (bewußt?) vergröberten, vulgarisierten, sie noch „proletarischer“ gestalteten. „Wie stark das Bild eines Dichters verfälscht werden kann“, schreibt Nitzberg, „zeigt die Majakowski-Rezeption in Deutschland.“

Nach der Ankündigung der Majakowski-Biographie aus der Feder der Berliner Slawistin Nyota Thun, geboren 1925 in Nordhausen (Harz), war man in Fachkreisen und bei Freunden der russischen Literatur mehr als gespannt. Um es gleich zu sagen: Diese großformatige und groß angelegte Lebensbeschreibung, die vom Umfang her alle bisherigen übertrifft, ist hervorragend recherchiert, tief bewegend, zeigt Wladimir Majakowski - gestützt auf bisher unerschlossenes Archivmaterial - nicht einseitig als „Trommler der Revolution“, sondern als Menschen, Lyriker, Maler, Journalisten - als einen, der sich quält, der irrt, der mutig für seine künstlerische Überzeugung eintritt, sich auch einmischt: ... Macht Lenin nicht zur Schablone. / Druckt nicht seine Porträts auf Plakaten, Wachstuch, Tellern, Krügen, Zigarettenetuis. / Bronziert ihn nicht ...

Nyota Thun - von der wir seit 1973 einige gewichtige Publikationen kennen - läßt uns Leben und Werk Majakowskis chronologisch nacherleben: Kindheit und Jugend (1893 - 1910), Maler und Dichter (1910 - 1913), Vom Bildersturm zur Verkündigung des freien Menschen (1914 - 1918), Revolution. Vision und Wirklichkeit (1918 - Anfang 1923), Die Wende zum Journalismus (März 1923 - 1927), Im Widerstreit mit sich und der Welt (1928 bis 14. April 1930). Trotz dieser strengen Chronologie behält die Biographin immer die 37 Jahre des ganzen Dichterlebens im Auge. In allen Kapiteln verbindet sie akkurate Wissenschaftlichkeit mit ansprechender Lesbarkeit. Wer wußte schon, daß Majakowski adliger Herkunft ist? Wem war bewußt, daß seine Mutter, Ukrainerin, dem Geschlecht der freien Saporoger Kosaken entstammte? War überhaupt bekannt, daß Majakowski - in eine „lyrische Grube gefallen“ - schon einmal einen Selbstmordversuch unternommen hatte? Unmißverständlich schreibt die Verfasserin über Lenins negative Einstellung zu dem Dichter, über Trotzkis Vorbehalte gegenüber seiner Verskunst, über die sehr widersprüchliche Aufnahme seines Stückes „Die Wanze“, wie „Das Schwitzbad“ totgeschwiegen, seine Ausstellung „20 Jahre Arbeit“ boykottiert wurde ... Auch die Liebe zwischen Lili Brik und Majakowski, die bisher stets etwas Undurchschaubares umgab, erscheint in neuem Licht. Lili und Ossip Brik hatten einander versprochen, sich niemals zu trennen. Dennoch hatten Lili Brik und Wladimir Majakowski innerhalb eines „Familienverbandes zu dritt“ ein viele Jahre langes Liebesverhältnis. Aber nach Majakowskis Tod sagte Lili: Als Majakowski starb, sei Majakowski gestorben, als Ossip starb, sei sie gestorben ... Auch dieses Verhältnis, an das man sich in der russischen Gesellschaft nach anfangs bissigen Sticheleien mit der Zeit gewöhnt hatte, wird von Nyota Thun, ausgewogen nach allen Regeln der Schreibkunst, dargestellt.

Vermißt habe ich in der Biographie - die anläßlich des 70. Todestages Majakowskis erscheint - lediglich, daß das in den ersten Kapiteln sehr intensiv dargestellte Verhältnis zur Mutter (Der Vater starb bereits 1906 ganz unerwartet an einer Blutvergiftung) und den beiden Schwestern keine kontinuierliche Darstellung findet.

Lektor dieser hervorragenden Biographie - die die Autorin ihren fünf Enkeln gewidmet hat - ist Alexander Nitzberg. Da erstaunt, daß viele Auszüge aus Gedichten und Poemen aus der Feder des von Nitzberg besonders scharf angegriffenen Übersetzers Hugo Huppert stammen, dem es, so Nitzberg, an der nötigen sprachlichen Subtilität fehle, um einen Dichter vom Range eines Majakowski zu übersetzen. Aber ein anderer als der Österreicher Huppert, der Majakowski noch persönlich kannte, hat die meisten seiner Werke nicht übersetzt! Man darf also gespannt sein, wer sich wie einer neuen Übersetzung von Majakowskis Werken stellen wird.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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