Eine Rezension von Gudrun Schmidt

Plädoyer für Zivilcourage

Carola Stern: Doppelleben
Eine Autobiographie.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001, 317 S.

Carola Stern ist eine couragierte Frau. Sie wird geschätzt als brillante Publizistin ebenso wie als Autorin erfolgreicher biographischer Bücher, u. a. über Dorothea Schlegel, Rahel Varnhagen oder Fritzi Massary. Und wer auf ein dreiviertel Jahrhundert zurückblicken kann, hat viel erlebt, erfahren, durchlitten in dieser von Krisen, Zusammenbrüchen und Aufbrüchen, Hoffnungen und Niederlagen erfüllten Zeit. Doch Carola Sterns Autobiographie ist alles andere als ein abgeklärtes, kontemplatives Buch. Aber weise, altersweise vielleicht, ist es schon. Sympathisch daran, weil sie als Fazit keine perfekten Antworten parat hat, niemanden belehren will. Statt dessen ehrlicher Umgang mit der eigenen Geschichte, schuldhaften Verstrickungen, fortwährende Suche nach sich selbst.

Carola Stern hat in zwei totalitären Regimes - im Nationalsozialismus und im stalinistisch geprägten Sozialismus - erfahren, wie verhängnisvoll der Anspruch, im Besitz der alleinigen Wahrheit zu sein, für menschliches Verhalten werden kann. 1925 an der Ostsee, auf Usedom, als Erika Assmus geboren, wuchs sie auf in einer kleinbürgerlichen Welt, die das Aufkommen der faschistischen Bedrohung mit all den furchtbaren Konsequenzen nicht wahrhaben wollte, die versuchte, sich damit zu arrangieren. Als Führerin der Ahlbecker Jungmädel zog sie, Hitlerlieder singend, durch die Dörfer. Das Ende des Krieges erlebte sie mit ihrer Mutter als Flüchtende durch halb Deutschland. Um zu überleben, verdingte sie sich als Landarbeiterin, nahm später eine Stelle als Bibliothekarin in einem Raketenforschungsinstitut der Sowjets an. Diese kurze Episode führt sie in die Fänge des amerikanischen Geheimdienstes, da hat sie aber schon das Pädagogische Institut im brandenburgischen Wiesenburg absolviert und arbeitet als Neulehrerin, die damals dringend gebraucht wurden. Informationen über das Raketeninstitut, mit denen sie allerdings nur spärlich dienen kann, werden mit Medikamenten und medizinischer Betreuung der Mutter in einem West-Berliner Krankenhaus abgegolten. Als weitere Gegenleistung fordern die Amerikaner Erika Assmus auf, in die SED einzutreten und dort Karriere zu machen. Besuch der Landesparteischule und Arbeit als Dozentin an der Parteihochschule der SED, der Kaderschmiede in Kleinmachnow, sind die nächsten Stationen. Um nach einer Denunziation der Verhaftung zu entgehen, flieht sie 1951 nach West-Berlin.

Wieder ein Bruch, ein harter Schnitt in ihrer Biographie. Die ungewohnte Freiheit verunsichert sie zutiefst. Niemand mehr da, der vordenkt, sagt, wie zu reden und zu handeln, was richtig und was falsch ist. Sie beginnt ein Studium, wird wissenschaftliche Assistentin, entgeht zwei Entführungsversuchen durch die Staatssicherheit. Psychischer Zusammenbruch. Erst allmählich schwindet das Gefühl des Verlorenseins in einer fremden Welt.

Unter dem Pseudonym Carola Stern beginnt sie zu schreiben, meldet sich im Hörfunk und Fernsehen zu Wort. Von den 60er Jahren bis nach der Wende lebt sie in Köln. Bei Kiepenheuer und Witsch leitet sie das politische Lektorat, arbeitet als Journalistin beim Westdeutschen Rundfunk. Carola Stern gehört zu den Mitbegründern der deutschen Sektion von Amnesty International, mit Heinrich Böll und Günter Grass gibt sie die Zeitschrift „L 76“, ein Forum für in ihrer Meinungsfreiheit bedrohte und verfolgte Autoren aus Osteuropa und der DDR, heraus. Mit vierzig findet sie in Heinz Zöger die Liebe ihres Lebens, ein Mann, der für seine kommunistischen Ideale mit langjähriger Kerkerhaft gestraft wurde - unter Hitler und in den 50er Jahren in der DDR. Ein deutsches Schicksal.

Die 15 Jahre als Redakteurin beim WDR nennt Carola Stern in der Rückschau ihre glücklichsten Berufsjahre. Als erste Frau schafft sie es, in die Kommentatorenrunde aufgenommen zu werden. Ihre „unerhörten Kommentare“ sind berühmt und polarisieren die Hörer. Sie engagiert sich leidenschaftlich für die neue Ostpolitik der SPD, die Friedens- und Menschenrechtsbewegung, die Reform des Abtreibungsparagraphen 218. Sie ist unangepaßt und stellt unbequeme Fragen. Woher nimmt diese Frau, die im Buch bekennt, lebenslang Angst vor „Respektspersonen“ gehabt zu haben, diesen Mut und diese Energie? Es ist die „Überwindung meiner Angst“, meint sie. „Nur wer weiß, was Angst bedeutet, und versteht, sie zu bezähmen, kann auch mutig sein. Darum schäme ich mich meiner Angst nicht mehr. Umsetzung von Angst in Energie, auch in Zivilcourage, bedeutet Bei-sich-Sein, ist immer ein Stück Selbstverwirklichung.“

In den Kölner Jahren, so Carola Stern, habe sie „das große Glück erlebt, nicht länger Objekt zu sein, ohne eigenen Willen durch die Welt geschleudert zu werden. Ich lernte, ‚Ich‘ zu sagen, außerhalb von Kollektiven am Geschehen mitzuwirken und zusammen mit meinem Mann nach unseren selbstgesetzten Maßstäben zu leben.“

Um so mehr schmerzt es sie, „angesichts wachsender sozialer Ungleichheit am Ende meines Lebens dazustehen ohne Antworten, ohne Perspektive, wie eine menschenwürdige Gesellschaft für alle erreicht werden kann“. Doch ein pessimistisches Buch ist diese Autobiographie nicht. Carola Stern steht mit ihrem Leben dafür, daß man etwas tun kann.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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