Eine Rezension von Ursula Reinhold

Vom Wert authentischer Zeitzeugenschaft

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William L. Shirer: Berliner Tagebuch
Bd. 1: Aufzeichnungen 1934-1941; Bd. 2: Das Ende 1944-1945.
Übertragen und herausgegeben von Jürgen Schebera.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1999

William L. Shirer (1904-1993) gehörte in den dreißiger und vierziger Jahren neben Dorothy Thompson, Hubert R. Knickerbocker u. a. zu den führenden amerikanischen Publizisten der Zeit. Seit 1925 war er als Korrespondent, später als Leiter des europäischen Büros der „Chicago Tribune“ in Paris tätig. Ab 1934 kam er nach Berlin, wo er bis 1937 als Korrespondent für die Nachrichtenagentur „Universal News Service“ und dann bis Ende 1940 als Europaberichterstatter für den Rundfunk, für CBS New York, wirkte. Er vermittelte damals vielen Amerikanern das Bild eines Europa, „das sich bereits in Agonie befand und das, je mehr Monate und Jahre ins Land gingen, unerbittlich dem Abgrund von Krieg und Selbstzerstörung“ entgegentaumelte. Er erlebte die Vorbereitung des Angriffskrieges durch die Deutschen, die den Weltkrieg entfesselten, der ganz Europa in eine unvorstellbare Katastrophe führte. Noch mitten im Krieg, 1941 in die USA zurückgekehrt, publiziert er den 1. Teil vom Berliner Tagebuch. Ende 1944 kehrt er nach Europa zurück und bleibt dort bis Ende 1945. Die Aufzeichnungen aus dieser Zeit umfassen den 2. Band des Berliner Tagebuches.

Der 1. Band, der hier nach 50 Jahren erstmals in deutsch vorliegt, wurde zu seiner Zeit ein Weltbestseller. Das Buch vermittelt Innenansichten aus Nazideutschland und Europa während einer Periode der Geschichte, in der Europa der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges zutrieb. Ab September 1939 schien es so, als könnte und würde niemand dem kriegerischen Mechanismus Nazi-Deutschlands wirksamen Widerstand entgegensetzen. Das Buch gewinnt sein Gewicht aus der Tatsache, daß es aus authentischer Zeitzeugenschaft hervorgegangen ist und eine Fülle von dem heutigen Leser nicht mehr verfügbaren Details von den verschiedenen Kriegsschauplätzen und aus der Reichshauptstadt Berlin präsentiert. Da der Ausgang zu diesem Zeitpunkt des Krieges offen ist, beeindruckt die analytische Fähigkeit des Publizisten, der aus dem damaligen Stand der Dinge das Für und Wider von Sieg und Niederlage Hitlers erörtert. Es läßt keinen Augenblick Unklarheit darüber entstehen, daß ein deutscher Sieg für die anderen Völker Europas eine Sklavenordnung bedeuten würde. Dabei macht der Autor aus seinem Abscheu gegen die rassistischen Weltherrschaftspläne der Nazis keinen Hehl, beobachtet mit Faszination und Schrecken die Massenpsychologie des Faschismus, der viele Deutsche erlegen sind. Noch heute regen seine Urteile und Erklärungsversuche über den deutschen Nationalcharakter zu Bedenklichkeit nicht nur über vergangene, sondern auch über aktuelle Vorgänge an. Da er in seinen Berichten der nazistischen Zensur ausgesetzt ist, bringt er in seinem Tagebuch auch das zur Sprache, was er in seinen Korrespondentenberichten auslassen mußte. Er vermittelt den Schrecken des amerikanischen Zeitzeugen angesichts des Jubels vieler Deutscher bzw. ihres Desinteresses an den allgemeinen Vorgängen, gibt aufschlußreiche Einblicke in den Alltag des Lebens während der Diktatur, porträtiert die Nazi- Repräsentanten. Schon 1940 prophezeit er die globale Ausweitung des Krieges. Von besonderem Wert scheint mir die Analyse der nazistischen Friedensrhetorik, die blumige Propagandasprache, hinter deren Hüllen die Nazis ihren Aggressionskrieg vorbereiteten. Zugleich stellt der Autor den europäischen Kontext dar, zeigt die Haltung der Alliierten, berührt kritisch die Haltung Großbritanniens und Frankreichs, die Hitlerdeutschland mit dem Münchener Abkommen gestatteten, einen Teil seiner Kriegsziele im Frieden zu erreichen.

Der 2. Band setzt im Sommer 1944 ein. Es ist als Fortsetzung des bereits veröffentlichten Tagebuches gedacht und erschien erstmalig 1947. Im Vorwort zur damaligen Ausgabe charakterisiert der Autor es als Schluß seines „eigenen kleinen Beitrags zur Geschichte Nazi-Deutschlands und Berlins.“ Ab Sommer 1944 berichtet Shirer aus San Francisco über die Gründungskonferenz der Vereinten Nationen, auf die damals große Hoffnungen für die Gestaltung einer friedlichen Nachkriegsordnung gesetzt wurden. Im Herbst 1944 kehrt er nach Europa zurück. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die alliierten Truppen auf dem Vormarsch, und die Siegermächte verhandelten über die Nachkriegsordnung. Shirers Weg führt ihn ins zerstörte Berlin, er spricht mit Überlebenden, will herausfinden, ob „Niederlage und Zusammenbruch das deutsche Problem gelöst haben“. Als Resümee seines Besuchs in der zerstörten Reichshauptstadt notiert er: „Überall die Tendenz zur Bitterkeit, überall Gerangel um Macht, Einfluß, ja sogar um Territorien. Haben wir dafür gekämpft?“ Er erlebt die ersten Anzeichen des Kalten Krieges. Er berichtet von der Eröffnung des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses und gibt aufschlußreiche Psychogramme der einstigen Nazigrößen. Der 2. Band hat gegenüber dem 1. Band einen etwas veränderten Charakter. Der Hauptgrund liegt darin, daß Shirer jetzt Zugang zu den Hinterlassenschaften und Dokumenten des Nazi-Reiches hat und davon auch reichlich Gebrauch braucht. Besonders interessieren ihn die Dokumente über die Entfesselung des Krieges, den er als Augenzeuge miterlebt hat. Er zitiert aus einer Fülle von historischen Dokumenten, die den verbrecherischen Charakter der faschistischen Politik belegen und den Anteil der Generalität u a. Gruppen an seiner Vorbereitung und Durchführung erkennen lassen. Auch die Dokumente über das Ende des Nazi-Reiches, als einige Nazigrößen noch versuchten, einen Separatfrieden mit den westlichen Alliierten zu schließen, während sich Hitler u. a. im Berliner Führerbunker umbrachten, gibt Einblicke in die Psychopathologie dieser Machthaber. Shirers Zeitzeugenschaft belegt die großen Hoffnungen, die die Mehrheit der Menschen für eine friedliche Nachkriegsordnung hatten. Der Atombombenabwurf und die ersten Anzeichen des Kalten Krieges lassen diese Hoffnungen zerbrechen. Er wird zu einem Kritiker der amerikanischen Nachkriegspolitik, weil er in ihr nicht ausgeschlossen sieht, daß Nachkriegsdeutschland je wieder zu einer industriellen Großmacht wird, von der erneut kriegerische Aktivitäten ausgehen können. Er gehörte in den USA zu Kräften, die von einer deutschen Kollektivschuld ausgingen. Diese Haltung bleibt auch durch das Zusammentreffen mit Antifaschisten unverändert (Johannes R. Becher und Friedrich Wolf trifft er), von denen er mit großer Hochachtung spricht. Er war ein Anhänger der Vorstellungen von Robert G. Vansittarts, auf dessen Ideen auch der Plan des damaligen Finanzministers Henry Morgenthau fußte, der auf eine dauerhafte Ausschaltung des deutschen Industriepotentials und auf eine Zerstückelung Deutschlands zuging. Zugleich macht Shirer deutlich, daß die deutsche Industrie nicht so stark unter den Kriegseinwirkungen gelitten hatte, wie allgemein angenommen wurde, und amerikanische Wirtschaftskreise schon damals mit der deutschen Industrie so verflochten waren, daß deren Ausschaltung nicht in ihrem Interesse liegen konnte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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