Eine Rezension von Bernd Heimberger

Schwierige Schichten

Lutz Seiler: pech & blende
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000, 94 S.

Warum ist Robert Gernhardt gut und gern zwei Stunden zuzuhören? Dem Dichter ist ohne Ermüdung zuzuhören, weil den Gedanken seiner Gedichte ohne weiteres zu folgen ist. So leicht macht es der Lyriker Lutz Seiler seinen Zuhörern nicht. Nach dem vierten, fünften von Seiler vorgetragenen Gedicht mit eigenen Gedanken abzuschweifen ist keine Schande für die Zuhörer. Selten eignen sich Seilers Gedichte fürs sofortige Verstehen, sprich Verständigen. Seilers Gedichte brauchen die Geduld der Leser, die Lyrik lieben.

„doch wenig / führt durchs gedicht. etwas vielleicht.“ schreibt der Leiter des Huchel-Hauses in Wilhelmshorst nicht selbstzweifelnd oder -kritisch in seinem Peter Huchel gewidmeten Gedicht. Allemal führt eher eine elegische denn erheiternde Stimmung durch Seilers Gedichte. Die Stimmung, nicht das Wesentlichste, kann das Eigentliche sein. Die Juroren, die den Lyriker 1999 mit dem „Kranichsteiner Literaturpreis“ dekorierten, lobten die „vielschichtige Bilderwelt“, wie das Juroren schon 1001mal getan haben, wenn sie Lyrik beurteilen. Was wollen uns die Juroren damit sagen? Ist jene „vielschichtige Bilderwelt“ eine Welt, in der Bild auf Bild geschichtet ist? Ist jene Vielschichtigkeit nicht eher ein verdeckendes Dilemma denn ein Vorzug der Dicht-Kunst? Wer beim selbständigen Lesen der Gedichte Schwierigkeiten hat, zu den Schichten der Bilderwelt des Verfassers vorzudringen, sollte auf seine Gefühle achten, um wahrzunehmen, welche Stimmungen die Stimmungen der Gedichte möglich machen. Wer zum Fühlen bereit ist, wird am ehesten zum Autor neben dem Autor. Also der Leser, der die gedankenschweren, assoziativen Texte weiterschreibt. Das ist der Leser, der auch dazu in der Lage ist zu dechiffrieren, denn die Lyrik des Lutz Seiler liest sich wie ein Prosatext, in dem so manche Stelle geschwärzt ist.

Um politisch, um polemisch zu sein, muß der Lyriker seine Lyrik nicht politisieren. Er muß nicht polemisieren. Ihm ist das Poetisieren Pflicht. Was nicht bedeutet, den reichlich abgegriffenen Lyrik-Wort-Schatz zu polieren. Vokabeln wie Himmel und Horizont, Sonne und Sterne, Mond und Meer, Wald und Wiese, Feld und Fluß hat Seiler zwar nicht verbannt. Wann immer jedoch Geläufiges sich vordrängt, immer drängt’s der Autor zurück. Die Diktion macht die Dichtung des Lutz Seiler so dicht, daß die Leser häufig draußen bleiben. Nur ein wacher Kopf und ein williges Gefühl öffnen Tür und Tor zu den Texten. Derart direkt und deutlich wie in dem Gedicht „im osten der länder“ ist der Dichter selten. Er sagt: „wir wären wenn wir hätten / gehen können immer fort / bei uns geblieben.“ Bei sich bleibt, wer seine Art hat, wie Lutz Seiler, und so, auf seine Art, bei Lutz Seiler ankommt. Das ist die Chance. Um die nicht zu verpassen, sollte die Warnung des Verfassers von „pech & blende“ nicht mißachtet werden, der sagt: „jede deutung hängt uns weit / nach vorn zur luft heraus.“ Na bitte! Grund genug für den Rezensenten, sich nicht vom kalten Luftzug erwischen zu lassen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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