Eine Rezension von Bernd Grabowski
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In der Tradition Fontanes

Wilfried F. Schoeller: Nach Berlin!
Reportagen.
Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, Frankfurt/M. 1999, 155 S.

Mit dem schmalen Bändchen ist dem Autor wahrlich ein großer Wurf gelungen. Wilfried F. Schoeller, ein in Frankfurt am Main lebender Fernsehredakteur, hat mit den Augen eines Fremden und zugleich eines mit der Mark Vertrauten sich Schauplätze der Geschichte in Berlin und Umgebung angesehen und dann seine Beobachtungen und Gedanken mit leichter Feder niedergeschrieben. Ergebnis sind 14 hier zusammengefaßte Reportagen, die dem Einheimischen neue Sichten und Erkenntnisse vermitteln, für den Touristen wissenswert und hilfreich sind, auch den in der Ferne Wohnenden Anteil nehmen lassen an den Veränderungen in der Bundeshauptstadt und umliegenden markanten Orten.

Schon mit der Auswahl der Ziele seiner Reportagereisen hat der Autor eine glückliche Hand bewiesen. So zog er mit den Schriftstellern Theodor Fontane, Friedrich Baron de la Motte Fouqué, Bert Brecht, Gerhart Hauptmann und Peter Huchel zum Stechlin, nach Nennhausen, Buckow, Erkner und Wilhelmshorst. Er besuchte Wandlitz, das Ghetto der DDR-Politprominenz, Wünsdorf, das Eldorado der Militärs, und Sachsenhausen, den Ort des Schreckens. In Berlin entschied er sich, das Kapitulationsmuseum Karlshorst und die Liebermann-Villa am Wannsee vorzustellen, die in den 50er Jahren errichteten Bauten der Karl-Marx-Allee mit den jetzt entstandenen Glaspalästen am Potsdamer Platz zu vergleichen, über das Prinz-Albrecht-Gelände und die Glienicker Brücke zu schreiben - und das alles in schöner Fontanescher Tradition.

Gleich bei der Betrachtung zum Stechlin, die das schmale Bändchen eröffnet, ist nicht nur der gleichnamige Roman, sondern auch mit Schoellers Beobachtungsgabe, seiner Formulierkunst und seinen historischen Ausflügen ständig der Geist Fontanes präsent. Erstaunlich wie Schoeller (wie vor ihm Fontane) interessant über den Stechlin und seine waldreiche Umgebung plaudern kann, obwohl dieses Gewässer „mangels äußerer Belebung jede Beschreibung von sich weist“, denn es sei „einfach ein See, an dem nichts los ist“.

Andererseits vermeidet der Autor bei Orten, wo viel mehr „los“ war und viel mehr „los“ ist, sich allzu sehr mit seinem Wissen, seinen Eindrücken und Gedanken auszubreiten. Zehn, zwölf Seiten - viel mehr billigt er sich und seinen Lesern nicht zu. Ein gutes Maß in unserer schnellebigen Zeit. Und es gelingt, auf so knappem Raum das Wesentliche zu sagen, ohne auf schmückende Details zu verzichten. Überdruß oder Langeweile, das kann bei der kurzen, kurzweiligen Form gar nicht erst aufkommen.

Da ist zum Beispiel Sachsenhausen, worüber sich allein ein paar dicke Bücher schreiben ließen: über das Nazi-KZ, die Nutzung als sowjetisches Speziallager, die Inbesitznahme durch Kasernierte Volkspolizei und Nationale Volksarmee, die Zeit der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte und die Veränderungen nach der Wende. Hier kann der Autor auf Vorkenntnisse des Lesers vertrauen, braucht nur einiges anzureißen, anderes wieder in Erinnerung zu rufen. Darauf aufbauend, kann er den Leser dann mit seinen Feststellungen, Meinungen und Fragen nachdenklich machen, ihn damit herausfordern, das Geschehen von damals und heute zu bewerten, ihn auf diese Weise mobilisieren.

Ähnlich verhält es sich beim Militärkomplex Wünsdorf, wo Schoeller auch dessen unterschiedliche Entwicklungsetappen skizziert.

Eher beschaulich und amüsant kommt dagegen die Reportage aus Nennhausen daher. Ist doch das 1000-Seelen-Dorf verbunden mit dem romantischen Dichter Friedrich Baron de la Motte Fouqué, der hier in „ehelichem Dienst“ bei „einem erotischen Kraken“ stand.

In der Waldsiedlung Wandlitz, wo etwa 30 Jahre rund 40 Spitzenpolitiker der DDR mit ihren Familien gewohnt haben, sah sich Schoeller die einheitlich gestalteten Villen an, „Klötze von acht Metern Höhe und zwanzig Metern Länge, ein wenig zu groß geratener sozialer Wohnungsbau in Grau“. Trotz deren Einbettung in die herrliche Landschaft sowie der kompletten Selbstversorgung ihrer Bewohner meint der Autor treffend: „Nicht einmal ein westdeutscher Mittelständler hätte darin wohnen wollen.“ Im Unterschied dazu war das „Rückzugsrevier des späten Brecht“, ein vormaliges Betriebsheim in Buckow, ein überaus prächtiges Anwesen.

„Nach Berlin!“ Der Titel der Reportage über das deutsch-russische Museum Berlin-Karlshorst ist der Aufschrift sowjetischer Panzer während des Zweiten Weltkrieges entnommen. Lobenswert, daß der Autor auch an Fritz Schmenkel erinnert, dessen Namen die zum Museum führende Straße einige Jahre lang trug. Sein Lebenslauf habe sich in die Nachwendezeit nicht gefügt und mußte deshalb von den Straßenschildern getilgt werden. Denn als Wehrmachtssoldat kehrte er Hitler den Rücken und wechselte zur anderen Seite. Doch Schmenkel ist nicht erst 1942, sondern bereits im November 1941 zu den Partisanen übergelaufen. „Brest-Litowsk“ ist sicherlich auch nur ein Schreibfehler in dem sonst sauber gesetzten Buch und „Offizier der Abteilung Grenzsicherheit“ eine etwas umständliche Umschreibung.

Solche Ungenauigkeiten finden sich beispielsweise auch in der Reportage über das Prinz-Albrecht-Gelände, wo die Gestapo ihre Zentrale unterhielt. So war hier Ernst Thälmann nicht unmittelbar nach seiner Verhaftung am 3. März 1933 einige Wochen inhaftiert, sondern erst im Januar 1934, und zwar für 14 Tage. Von einer Zusammenarbeit der Widerstandsgruppe Harnack/Schulze-Boysen mit der Roten Kapelle zu reden ist ungeschickt, da diese Gruppe selbst zur Roten Kapelle gerechnet wird. Aus der Reichsvertretung der deutschen Juden und der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, wie die jüdischen Zwangsorganisationen in der Nazizeit nacheinander hießen, mixt der Autor eine Reichsvertretung der Juden in Deutschland. Durchgängig falsch liest sich der Name jener Straße, in der die beschriebene Wannsee-Villa Max Liebermanns liegt. Die Niederschlagung des, wie Schoeller formuliert, Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953 habe die damalige DDR-Führung gerettet. Dazu zählt der Autor neben Ulbricht und Grotewohl auch Rudolf Herrnstadt und Wilhelm Zaisser. Doch für die beiden letzteren bedeutete das letztendlich nicht die Rettung, sondern den kurz darauf folgenden Sturz.

Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten, sagt das Sprichwort. Ein anderes heißt: Ausnahmen bestätigen die Regel. Schoellers großer Wurf weist nur ein paar kleine Fehler auf - so wie auch Fontane nicht vor Irrtümern gefeit war.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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