Eine Rezension von Ursula Reinhold

Lebensreise ins Fremde

Michael Schindhelm: Roberts Reise
Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000, 314 S.

Michael Schindhelm (Jg. 1960) gehört zu jener Generation, deren Kindheit und Jugend durch die Verhältnisse der späten DDR geprägt wurden. Sie wuchsen in der Spannung zwischen Anpassung, Verweigerung und Protesthaltung auf. Neben vehementer Bevormundung erlebten sie die zunehmende Auflösung der moralischen und politischen Grundsätze, nach denen das Staatswesen angetreten war. Die Heranwachsenden suchten sich der allgegenwärtigen Vereinnahmungen auf unterschiedliche Weise zu entziehen. Die einen begannen sich zu wehren, die anderen suchten Gegenwelten, in der sie Neigungen und Wünschen folgten, die durch Musikkultur und Massenmedien von jenseits der Grenze geweckt wurden. Solcher Spagat trieb sie in mannigfache Zwiespälte, ließ sie in Entfremdung und Fremdheit leben. Der Protagonist dieses Romans, ein Alter ego des Autors, arbeitet scheinbar zielgerichtet an beruflicher Perspektive, aus der er, mehr zur Melancholie als zur Karriere begabt, ausbricht. Nach Internatsjahren in Thüringen und fünf Studienjahren der Chemie im russischen Woronesch arbeitet er nach seiner Rückkehr kurzzeitig in der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung an der Akademie der Wissenschaften. Er steigt aus einem als öd empfundenen Alltag aus, sucht Zuflucht in begrenzter familiärer Welt mit tagtäglichem Rausch und Übersetzungen aus dem Russischen. Die Wende schleudert ihn aus seiner Zurückgezogenheit. Der „Appeal der Gegenwart“ erreicht ihn – überall Revolutionäre, und so wird auch er zum Aufbruch gedrängt. Wie er zum thüringischen Theater kommt und schließlich Intendant in Basel wird, erzählt uns der Autor nicht.

Das Thema der hier erzählten Lebensreise ist die Fremdheit. Das Hin und Her zwischen Stagnation und Aufbruch prägt diese Existenz, für die der Autor sinnfällig das Reisemotiv einsetzt. Die Lebensreise als Aufbruch von einer Fremdheit in die andere strukturiert diesen Roman, dessen Stoff etwa 20 Lebensjahre in 12 Kapiteln verarbeitet. Dazu erzählt der Autor auf verschiedenen Zeitebenen. Der Ausgangspunkt ihrer Darlegung ist die Gegenwart in der Bergwelt in den schweizerischen und italienischen Alpen, uraltes Kulturland, deren historische Bezüge einbezogen werden. Von dort aus gibt es Reisen in die Vergangenheit des eigenen Lebens, nach Woronesch und Grüningen, dem thüringischen Heimatort, wo alles verändert und doch zugleich gewohnt ist, wie er es kennt. Auf der Erzählebene der Gegenwart werden Probleme der Theaterarbeit und publizistische Debatten um die Vergangenheit des jungen Intendanten mehr angedeutet, als erzählt. Dazu spielen Beziehungsfragen zu Frau Helena und dem Kind Lisa eine Rolle, denen gegenüber sich zunehmende Entfremdung entwickelt hat, wie einst zu Maren und der Tochter, der Familienbindung von vor sieben Jahren. Die Zeitebenen sind assoziativ ineinander geschaltet. Von der Gegenwart her werden Episoden aus der Kindheit in einer Lehrerfamilie erinnert, in der das Kind zeitig die Schizophrenie der Erwachsenen erlebt, die in ihrer familiären Welt anderes tun und reden als das, was sie im öffentlichen Bereich zu tun vorgeben. Auch die Verhältnisse am thüringischen Internat werden mit charakterisierenden Details als heuchlerisch und doppelzüngig vorgeführt. In Woronesch schließlich erlebt der junge Mann das späte Sowjetreich als „das Land der unbegrenzten Traurigkeit“. Niederdrückende Verhältnisse und der listenreiche Versuch der Studenten, diesen Verhältnissen Lebensmöglichkeiten abzugewinnen, aber dabei auch die ganz konkrete Todesbedrohung durch Ruhrepidemie und Unterernährung. Auch die Reise in den Kaukasus bis nach Tschetschenien, die Arbeitsbedingungen im Bergbau und das Erlebnis der ethnischen Auseinandersetzungen dort lassen die Ahnung vom Grad der Zerrüttung entstehen, die zum Auseinanderbrechen des Riesenreiches wenige Jahren später führten. Mit sinnlicher Anschaulichkeit und präziser Lakonie entstehen eindrucksvolle Bilder aus einer fremden Welt. Der Wodkarausch bleibt nicht nur unter diesen Verhältnissen ein ständiger Begleiter, sondern auch nach der Rückkehr vom Studium und während der Tätigkeit in der Akademie der Wissenschaften. Der Ausbruch von dort geschieht ins Ungewisse. Das private Leben mit dem alltäglichen Rausch, aus dem nur die Pflichten für das heranwachsende Kind ein zeitweiliges Auftauchen veranlassen, werden als Einübung in eine statische Existenz gedeutet. Der Protagonist bewegt sich am Rande der Selbstaufgabe. Dann die Wende: Überall Revolutionäre, auch der Ich-Erzähler schwimmt auf der Welle von Umbrüchen und Veränderungen. Kommt in der thüringischen Provinz zum Theater, schließlich nach Basel. Man staunt!

Die Reisen in die Orte des vergangenen Lebens notieren die Veränderungen und das Bleibende. Vor allem Fremdheit bleibt; in Grüningen, der Stadt der Kindheit, in der der Vater jetzt in der Kommunalpolitik mitmischt, und in Woronesch, wo an den Getränkeautomaten für die Studenten jetzt nur noch Dollars verlangt werden. Auch in Moskau scheint wenig verändert. Auf dem Kasaner Bahnhof fehlen jetzt die asiatischen Gesichter der Leute, die immer unterwegs waren in dem großen Land. Neben den verschiedenen Zeitebenen sind es Beziehungen zu Figuren, Mitschülern, Kommilitonen, Freundinnen und Freunden, die das Erzählen strukturieren und vor allem an den männlichen Figuren eine Ahnung vom Ausmaß individueller Deformation und Heimatlosigkeit dieser Generation entstehen lassen. Während Thomas Brussig seine DDR-Erfahrung mit parodistischem Zuschnitt verarbeitet und komische Distanz herstellt, klingt hier die tragische Dimension von vergeudeten Lebensenergien an. Der Larmoyanz gegenüber dem Ich-Erzähler und den Generationsgefährten entgeht der Autor durch die lakonische Präzision seiner Schilderungen und Psychogramme weitgehend.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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