Eine Rezension von Gisela Reller

Das hat es in der Tundra noch nie gegeben ...

Juri Rytchëu: Die Reise der Anna Odinzowa
Aus dem Russischen von Charlotte und Leonhard Kossuth.
Unionsverlag, Zürich 2000, 302 S.

Juri Rytchëu wurde als Autor entdeckt von dem DDR-Verlag Kultur und Fortschritt, in dem 1954 sein erster Erzählungsband Menschen von unserem Gestade erschien. Bis 1989 folgten weitere sieben Bücher in verschiedenen ostdeutschen Verlagen. Seit 1984 erschienen sieben Bücher Rytchëus im Unionsverlag in Zürich, der seit 1994 alle Rechte übernommen hat und den ersten Schriftsteller des Tschuktschenvolkes „wie einen Klassiker“ (Leonhard Kossuth) herausgibt.

Alle Bücher Rytchëus gehen auf wahre Begebenheiten zurück - auch Die Reise der Anna Odinzowa (Betonung: Odinzówa). Für Anna, die russische Ethnographin aus Leningrad, von der Akademie der Wissenschaften auf Expedition geschickt, erfüllt sich am 21. Februar 1947 ein langgehegter Traum: Sie ist auf Tschukotka angekommen, in Uelen, auf der Landzunge im äußersten Nordosten der Sowjetunion, nur durch die achtzig Kilometer breite Beringstraße von Alaska getrennt. Seit Jahren hat sie die Sprache und Kultur der Tschuktschen (die sich selbst Luorawetlan - „wirkliche Menschen“ - nennen) studiert, nun will sie an Ort und Stelle das Leben der Nomaden in der Tundra erkunden. Ihr Vorbild ist die amerikanische Ethnologin Margaret Mead (1901-1978), die das Leben der Eingeborenen von Samoa erforschte. Doch Anna Nikolajewna Odinzowa will mehr, will „keine Sicht von außerhalb“. Aus eigenem Erleben will sie über das Leben in einer Jaranga (der Wohnstatt der Tschuktschen und asiatischen Eskimos), über die Beschwörungsformeln eines Schamanen, über das Sexualleben der Ureinwohner berichten ... Schon sieht sie sich im Petersaal der Kunstkammer einen aufsehenerregenden „Vortrag von universellem Maßstab“ halten! Und dafür ist der besessenen Wissenschaftlerin jedes Mittel recht. Gleich am ersten Tag ihrer Ankunft war ihr, die um die fünfundzwanzig sein muß, der gerade achtzehnjährige Tanat über den ehrgeizigen Weg gelaufen, den sie nach nur vierzehn Tagen heiratet. Eigentlich will Tanat am Lehrerbildungsinstitut in Anadyr (der Hauptstadt des Tschuktschischen Nationalen Bezirks, seit 1977 Autonomer Bezirk der Tschuktschen) studieren, aber Anna überredet ihn, mit seiner Familie - und ihr, versteht sich - in die Tundra zu gehen, um das Leben eines Tschautschu, eines nomadisierenden Tschuktschen, zu führen. Tanats Stamm ist Anna gegenüber anfangs mehr als mißtrauisch. Gewöhnlich heiraten weiße Tangitan-Männer ansässige Tschuktschinnen für die Zeit, da sie auf der Tschuktschen-Halbinsel arbeiten. Daß aber eine Tangitan-Frau einen nomadisierenden Tschuktschen heiratet, das hat es in der Tundra noch nie gegeben. Tanats Vater Rinto sinniert, ob bolschewistische Frauen jetzt etwa Tschuktschen heiraten, um sie zum Eintritt in den Kolchos zu verführen.

Anna jedenfalls lernt in der Tundra alle Bräuche von der Geburt bis zum Tode kennen, kann bald schon jedes Kleidungsstück zuschneiden und nähen, kann Felle bearbeiten, Fäden aus Rensehnen drehen, eine Jaranga errichten, Rentiere anspannen, ein geschlachtetes Ren ausweiden und Brei aus dem Inhalt der ersten Kammer eines Renmagens zubereiten. Nach einem Jahr unterscheiden sie von den tschuktschischen Tundrafrauen nur noch ihre blauen Augen und die blonden Haare.

Auch für den äußersten Grenzbereich der Sowjetunion, für Tschukotka, forderte Stalin 1948/49 die durchgehende Kollektivierung. Für die meisten Rentierzüchter war es unvorstellbar, ihre Tiere in einen Kolchos abzugeben und ihre traditionelle nomadisierende Lebensweise aufzugeben. Einige ergaben sich dem Suff, andere erhängten sich. Annas Schwiegervater Rinto beschließt, mit seiner Familie und der tausendköpfigen Rentierherde in weit entlegene Gebiete zu flüchten. Doch der “Volksfeind“ und seine Angehörigen werden mit Flugzeugen und mit Hundeschlitten erbarmungslos gejagt - die Katastrophe ist unausbleiblich.

Kennengelernt hat Juri Rytchëu das Leben „Anna Odinzowas“ im Februar 1978, als er ihr in der amerikanischen Stadt Fairbanks begegnet, wo er an der dortigen Universität zu Vorlesungen eingeladen war. Zwanzig Jahre später erst konnte Rytchëu dieses ganz und gar ungewöhnliche Leben wiedererzählen, das - wenn es das Schicksal nicht anders gewollt hätte - „im finsteren Haus“ oder in einem sowjetischen Lager geendet hätte.

Den größten Erfolg hatte Juri Rytchëu bisher mit seinem 1968 beim Ostberliner Verlag Volk und Welt veröffentlichten Roman Traum im Polarnebel (übersetzt ins Französische, Spanische, Italienische, Bulgarische, Polnische, Finnische, Holländische). In diesem Buch muß der Kanadier McLennan nach einem Unfall in einer Siedlung der Tschuktschen überwintern; aus einem Winter wird ein ganzes Leben. Die hier „so nebenbei“ geschilderten fremdländischen Sitten und Bräuche machten den großen Reiz des Erzählten aus. Bei dem nun vorliegenden Buch über Anna Odinzowa knüpft Rytchëu an diesen Erfolg an. Neben dem chronologisch ablaufenden aufregenden Leben Annas erfährt der Leser durch die Eintragungen in ihrem Forschungs-Tagebuch (das in Wirklichkeit vernichtet worden ist) alles über das harte Leben in der Tundra. Auch jene Sitten und Bräuche werden offenbart, die bisher sogar in Rytchëus Büchern tabu waren - zum einen der sowjetischen Zensur geschuldet, zum anderen der Tatsache, daß sich Rytchëu nach dem Zerfall der Sowjetunion der tschuktschischen Gegenwart zuwandte - bei Unna (BLZ 6/98) und bei Im Spiegel des Vergessens (BLZ 1/00). So notiert Anna für die Wissenschaft alle Einzelheiten und schockierenden Prüfungen, auch, wie Rinto, einer der letzten Schamanen auf Tschukotka, sie zu seiner Nachfolgerin heranbildet, wie er sie, die Fremde, auserwählt hat, ein weiblicher Enenylyn (ein von Gott Beseelter) zu werden.

Seine Hochachtung kann der Leser der tapferen Wissenschaftlerin schwerlich versagen. Aber kann er sie auch liebgewinnen? Verzeiht er ihre ausgeklügelte Heirat mit dem naiven Tanat (um die Amerikanerin Margaret Mead zu übertrumpfen und selbst als Porträt zusammen mit andren Gelehrten an der Wand zu hängen)? Als Annas und Tanats wenige Wochen alte Tochter Tutyne stirbt, beschreibt sie - selbstverständlich - die Beerdigungsriten, vergißt aber auch nicht, in ihrem Forschungs-Tagebuch zu vermerken, daß sie ein Muster der Blumen, die sie auf dem schweren Weg zur Begräbnisstätte entdeckt, ins Herbarium geben muß. Und als sie Tanat mit einer Zweitfrau teilen muß, begreift sie es als (Forscher-)Glück, auch das Livirat „von innen heraus“ zu erleben. Juri Rytchëu ist ein erfahrener Autor. Mir scheint, er hat zu seiner Heldin vorsätzlich Abstand bewahrt - der sich auch auf uns, seine Leser, überträgt.

Rytchëu wohnt seit Anfang der sechziger Jahre in Leningrad/St. Petersburg. Er ist mit einer Russin verheiratet, die - wie Anna - die Leningrader Blockade überlebte. Jährlich jedoch reist er, der 1930 als Sohn eines Jägers in Uelen Geborene, für einige Wochen nach Tschukotka. So wurden ihm Sitten, Bräuche und Probleme seiner 12 000 Landsleute niemals fremd.

Charlotte und Leonhard Kossuth, seit Jahrzehnten mit dem Autor befreundet, haben Die Reise der Anna Odinzowa (ein für dieses aufsehenerregende Buch gar zu harmloser Titel) aus dem russischen Manuskript übersetzt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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