Eine Rezension von Gisela Reller

Ein russischer Camus?

Dmitri Bakin: Die Wurzeln des Seins
Erzählungen.
Aus dem Russischen von Birgit Veit.
Verlag Volk & Welt, Berlin 2000, 175 S.

Mir ist Dmitri Bakin nachhaltig in Erinnerung geblieben, nachdem ich 1992 in Erkundungen – 12 Erzähler aus Rußland (Verlag Volk und Welt, Herausgeber Sergej Kaledin) seine ungeheuerliche Geschichte „Die Kette“ gelesen hatte. In dieser Erzählung , die jetzt „Die Wurzel und das Ziel“ heißt, betrügt der ältere Baskakow-Bruder den Jüngeren um seine ganze Habe, indem er gegen ihn eine furchtbare Intrige spinnt mit Vergewaltigung und Mord. Widerwärtig, ekelhaft, abartig ...

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind einige neue russische Namen in die Literatur eingegangen: Viktor Jerofejew, Viktor Pelewin, Andrej Kurkow, Vladimir Sorokin, um nur einige zu nennen. Nun meldet sich ein Autor mit seinem ersten deutschsprachigen Erzählungsband zu Wort, der sich Dmitri Bakin nennt. Er, 1964 bei Donezk geboren, ist in Moskau Taxifahrer und will es auch bleiben - deshalb gibt er seinen wirklichen Namen nicht preis. Die sieben Erzählungen seines Buches spielen nicht in der großen Stadt, sondern in verkommenen Provinznestern, in denen es öder nicht zugehen kann. Die „Helden“ sind einarmig, altersgeizig, halbblind, mitleidslos, habgierig, haßerfüllt gegen sich selbst und gegen andere - alle sind wortkarg bis schweigsam, glücklich ist keiner. Die Eingangserzählung „Laub“ spielt nach dem Zweiten Weltkrieg, da läuft einem seit siebzehn Jahren kinderlosen Ehepaar ein zwölfjähriger Junge zu, sie behalten ihn. Bedolagin wächst heran und wird mit siebzehn von der um Jahre älteren Anna verführt. Als sie, die angeblich keine Kinder kriegen kann, von ihm eines kriegt, endet die Geschichte. Fast alle Erzählungen Bakins enden da, wo man denken könnte, daß sie jetzt erst richtig beginnen. „Laub“ erzählt auch, wie die Dorffrauen Eßbares heranschaffen und die Dorfmänner sich währenddessen bis zur Besinnungslosigkeit an Selbstgebranntem gütlich tun. Gesoffen wird überhaupt das ganze Buch über, ist aber nicht Anklagepunkt wie bei den meisten anderen russischen Autoren, sondern so selbstverständlich dargestellt, daß man diese russische Unsitte hier fast überliest. Im „Landvermesser“, der zwei Söhne und neun Töchter hat, wird Krainow in seinem Glauben an den Staat und an die Gesetze enttäuscht und erhebt sich daraufhin zum Privatdiktator seiner Familie, „wo alles, inklusive der Staub, ihm allein untertan“ ist. In „Herkunftsland“ hat Maria lange „ungestüme Sehnsucht nach Mutterschaft“ empfunden - als sie sich am Bahnhof einen anderthalb Meter messenden, heruntergekommenen Mann greift, ihn wäscht, in saubere Kleidung steckt und sich ihm fortan ergeben unterordnet – Hauptsache ein Mann. Wo soll man Bakin einordnen? Er hat so gar nichts von seinen nachsowjetischen Schriftstellerkollegen, die – ungezügelt, frivol, obszön Buddha, den lieben Gott und die Mafia einbringend – seit Ende der achtziger Jahre den Zerfall der sowjetischen Gesellschaft beschreiben. Bakin rätselt in allen Geschichten über die ewigen Fragen des Lebens nach – Antworten hat er keine. Vielleicht gibt es keine. So karg die beschriebene Wirklichkeit, so sprachgewaltig Bakins Stil: Seine ausdrucksstarken Sätze sind meist sehr lang und windungsreich, Dialoge gibt es kaum.

Der junge russische Autor Bakin wird in Frankreich als „russischer Camus“ gefeiert. Albert Camus galt als zeitkritischer philosophischer Dichter, der in seinen Werken den verlassenen, hilf- und hoffnungslosen Menschen in der absurden Welt des 20. Jahrhunderts darstellt und die Sinnlosigkeit vieler Geschehnisse dieser Welt aufzeigt. Doch trotz der scheinbaren Sinnlosigkeit des Lebens riet Camus dazu, durchzuhalten und das Leben zu bestehen. Ein Dennoch gegenüber dem Widersinnigen – wie bei Bakin. Seine Helden reden wenig, fluchen viel, ihr Inneres ist „gewebt aus nur zwei, nicht aus hundert Gefühlen“. Aber als sinnlos wird das menschliche Dasein auch bei Bakin nicht gedeutet. Doch lassen wir Bakin Bakin sein – wozu der Vergleich.

Vielleicht ist Bakin gut beraten, Taxifahrer zu bleiben. Denn seine teils skurrilen, teils ungeheuerlichen Geschichten sind ganz sicher auch Ausbeute seiner Begegnung mit vielen unterschiedlichen Menschen, Fahrgästen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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