Eine Annotation von Gerhard Keiderling

Wagensohn, Tanja:
Von Gorbatschow zu Jelzin
Moskaus Deutschlandpolitik (1985-1995) im Wandel.
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2000, 366 S.

Unter den zahlreichen Büchern zur deutschen Einheit 1989/90 verdient die vorliegende Arbeit, die 1999 von der Philosophischen Fakultät der Universität Regensburg als Dissertation angenommen wurde, besondere Beachtung. In stärkerem Maße als andere Autoren verfolgt Tanja Wagensohn den strategischen Wandel in der Deutschlandpolitik Moskaus über die Gorbatschow-Ära hinaus und betrachtet auch die Auswirkungen und Erwartungen nach dem Ende der Sowjetunion bis 1995. Dementsprechend ist die Arbeit neben einer Einleitung in vier Sachkapitel gegliedert: „Kontinuität und Wandel in den deutsch-sowjetischen Beziehungen mit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows (1985-1989)“, „Moskau und die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands (1989/90)“, „Auf der Suche nach Partnerschaft: Rußland und das vereinte Deutschland (seit 1991)“ und „Europa im Blickfeld russischer Politik der neunziger Jahre: Deutschland als ‚Anker‘„. Den Ansatz für den rasanten Wandel in der sowjetischen Deutschlandpolitik Ende der 80er Jahre sieht Tanja Wagensohn in den Zwängen einer innen- und wirtschaftspolitischen Umgestaltung der Sowjetunion, die Gorbatschow nach seinem Machtantritt im März 1985 unter die Losungen von „Perestroika und Glasnost“ stellte. Dieses Umdenken zog unvermeidlich eine Außen- und Blockpolitik des „neuen Denkens“ nach sich, in der sicherheits- und wirtschaftspolitische Kooperation an die Stelle der klassenkämpferischen Konfrontation trat. In Gorbatschows „europäischem Haus“ kam der deutschen Frage nicht mehr die alte Brisanz zu. Indem man den Beziehungen zu Bonn erstrangige Bedeutung zumaß, sank zwangsläufig der Wert Ostberlins. Ab 1987 - so ist zu lesen - äußerte man in Moskau ernste „Bedenken über den wirtschaftlichen Zustand der DDR“, die „als Partner für die Reformierung der innersowjetischen Verhältnisse in keiner Hinsicht mehr interessant“ war. Kein Wunder, nachdem die Sowjets ihren einzigen hochindustrialisierten „Bruderstaat“ vierzig Jahre lang ausgepowert hatten. Die Neuverteilung der Gewichte im Dreieck Moskau - Bonn - Ostberlin fiel mit dem Ausbruch der revolutionären Krise in der DDR zusammen.

Die bekannten Ereignisse vom 1989/90 analysiert Tanja Wagensohn hinsichtlich das Zustandekommens des Zwei-plus-vier-Vertrages vom 12. September 1990, der die Nachkriegsperiode beendete und einen Schlußstrich unter die deutsche Frage setzte. Der deutsche Einigungsprozeß hatte inzwischen eine solche Eigendynamik gewonnen, daß Moskau den Dingen hinterherlief. Die früheren Kremlchefs hatten noch auf Neutralität und Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland bestanden, Gorbatschow bescheidete sich mit 15 Milliarden DM für die Entlassung der DDR aus der „sozialistischen Staatengemeinschaft“. Doch das rettete die Sowjetunion nicht vor dem Zerfall. Es war Ironie der Geschichte, daß der auf Honecker gemünzte Satz: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, am Ende Gorbatschow selbst das Genick brach.

Ab 1992 führte Jelzin den von seinem Vorgänger eingeschlagenen Westkurs („Rückkehr in die Weltgemeinschaft“) fort: „Die Auffassung setzte sich durch, daß Rußland nur im Rahmen der bilateralen und besonderen Beziehungen zu Deutschland direkt Einfluß auf die Gestaltung der europäischen Ordnung nehmen konnte. Denn Bonn spielte aus russischer Sicht in Europa die entscheidende Rolle.“ Moskau erwartete neben Wirtschafts- und Finanzhilfen auch diplomatische Unterstützung bei der Aufnahme in den G-7-Klub und im Streit um die NATO-Osterweiterung. Ungeachtet des gravierenden weltpolitischen Wandels - so die Quintessenz - gab es also eine Kontinuität in Moskaus Deutschlandpolitik zwischen 1985 und 1995.

Ganz ohne Frage ist Tanja Wagensohns Arbeit ein wichtiger Beitrag zur sowjetisch-russischen Deutschlandpolitik, auch wenn Primärquellen nur in eingeschränktem Maße zur Verfügung standen. Die Untersuchung zeichnet sich durch subtile Recherchen und analytische Schlußfolgerungen aus.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
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