Eine Annotation von Horst Wagner

cover Schmidt, Jochen:
Triumphgemüse
C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 2000, 248 Seiten

Henryk M. Broder rechnete ihn im „Spiegel“ zu den „jungen Wilden aus dem literarischen Untergrund Berlins“. Jung? Jochen Schmidt ist 31. Wild? Seine Biographie liest sich eher ein wenig exklusiv: Studium der Informatik, der Germanistik und Romanistik - nicht nur in der deutschen Hauptstadt, sondern auch in Rom, New York und Moskau. Übersetzer für Französisch und Katalanisch. Untergrund? Eher Szene. Beispielsweise die vom Prenzlauer Berg. Dort spielt die Mehrzahl seiner hier vereinten Kurzgeschichten. Einige führen auch ins Oderbruch und eine sogar bis Moskau und Petersburg. Wie schreibt er doch über eine Literaturdiskussion beim Faschingsball: „Das ist der neue Sound, und er kommt aus der Hauptstadt, von dort, wo sich die Kreativen eine kleine Oase geschaffen haben, vom legendären Prenzlauer Berg.“

Zu den Kreativen gehört Jochen Schmidt allemal. Ein bißchen schmecken seine Storys nach Hemingway. Mit einer Reflexion über dessen „Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber“ beginnt er eine und landet in ihr bei einer wunderschönen Traumgestalt, Kellnerin in einer Berliner Kneipe: einem „verwegenen Engel“, der „derbe Witze liebt“ und dessen Liebe „tatendurstig und zuverlässig bis zum Abend“ macht. „Triumphgemüse“ nennt er eine andere und meint damit die vielschichtigen Erlebnisse einer alten Frau in fünf Systemen, alle verbunden mit dem einen Haus und einem kleinen Garten. „Maik und der Tag X“ ist die kleine Wendegeschichte überschrieben - von einem, der gleich danach arbeitslos wurde und doch „wieder richtig aufgeblüht“ ist. Für „Harnusch mäht, als wär's ein Tanz“, die Eröffnungsgeschichte in diesem Band, die einzige aus einem richtigen Dorf, wo früher LPG war und jetzt wieder ein Kriegerdenkmal steht, hat Schmidt eine der drei ersten Preise des Open-Mike-Wettbewerbes gekriegt. Mir aber gefällt am besten die letzte, „Chaussee Enthusiastow“ genannt. Vielleicht nur, weil ich Moskau so gut kenne und mit dem jungen Berliner, der - Sprachstudien wegen - in die Hauptstadt des einstigen „Großen Bruders“ gekommen ist, gleichsam noch einmal durch all diese Straßen gehen konnte. Vielleicht auch, weil es darin so multikulturell zugeht und sprachlich so originell vermischt. Oder etwa wegen der abschließenden Lenin-Anekdote, die direkt bis in die Gegenwart und zum Autor hin führt?

Gemeinsam ist wohl allen Geschichten dieses Bandes, daß sie präzis beobachtetes Alltagsleben, liebevoll oder auch ein wenig skurril geschilderte Charaktere unaufdringlich mit einem Stück jüngster oder auch schon etwas zurückliegender Geschichte verbinden. Jochen Schmidt ist ein Name, den man sich wird merken müssen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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