Eine Annotation von Marianne Jonzeck

Schlögel, Karl:
Promenade in Jalta und andere Städtebilder
Carl Hanser, München 2001, 311 S.

„Ort und Örter, nicht mehr ‚System‘, prägten die neue Topographie“ Europas nach der politischen Umwälzung in Mittel- und Osteuropa. Vor 1989 verschollen geglaubte Städte und Regionen einschließlich der „Reste deutscher Geschichte im östlichen Europa“ wurden wiederentdeckt. Dieser „Geschichtsraum“ nimmt, mit Blick auf neue EU-Mitgliedschaften, eine dominierende Stellung in den Büchern, publizistischen Arbeiten und Reden des an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt/Oder lehrenden Osteuropa-Historikers Karl Schlögel ein.

Wie werden aber in Deutschland diese alten und zugleich neuen Nachbarschaften tatsächlich wahrgenommen, nachdem, wie Schlögel meint, die „Geschichte einer Entfremdung“ endgültig zu Ende gegangen sei? Die Antwort darauf fällt ernüchternd aus: „Es gibt kein ‚,go east‘, das dem großen ‚go west‘ der Nachkriegszeit vergleichbar wäre“, konstatiert der Autor in seiner hier erstmals veröffentlichten Rede zum 90. Geburtstag von Marion Gräfin Dönhoff unter dem Titel „Namen, die man wieder nennt“. Dem Leser bleibt es nicht verborgen, daß der preisgekrönte Historiker und Publizist mit seinen historisch-geographischen Essays die in Deutschland weit verbreitete Gleichgültigkeit dem östlichen Europa gegenüber aufbrechen und aufklären will.

Viele dieser Städte und Landschaften, mit denen sich Schlögel in seinen sprachlich-stilistisch wie atmosphärisch beeindruckenden Texten beschäftigt, hat er, zum Teil noch vor der politischen Wende in den ehemals sozialistischen Ländern, selbst besucht. Als Reisender hält er sich dabei an das, „was man sieht“. Insofern können sich besonders Städtetouristen aus seinen Berichten manche Anregung holen, darunter auch jene, die aufgrund eines besonderen historischen Hintergrunds und eigener historischer Erfahrungen das Leben und die Kultur mancher Orte in östlich gelegenen Ländern besser kennen als andere.

Bis auf eine Ausnahme, die schon erwähnte Rede aus dem Jahr 1999, sind alle in dieser Hanser-Ausgabe versammelten Texte, entstanden in den Jahren 1987 bis 2000, bereits andernorts publiziert worden (s.„Drucknachweise“). Der Leser hat es mit unterschiedlichen Gruppen von Texten zu tun: Stadt- und Landschaftsporträts wechseln mit historiographischen Betrachtungen einander ab. Um den grundlegenden Beitrag „Die Wiederkehr des Raumes“ (1999) gruppieren sich Stadtansichten von Wilna, Lemberg, Czernowitz, Nishnij Nowgorod, Lodz, Sankt Petersburg, Riha/Riga, Wladiwostok, Odessa, Jalta, Königsberg und Breslau (Anm.: Reihung und Schreibweise der Städtenamen folgen den Angaben des o. g. Buches) und Berichte über andere Stadt- und Landschaftsräume.

Das von Schlögel favorisierte Thema „Die Stadt und die Schicksale der Zivilgesellschaft im Mitteleuropa des 20. Jahrhunderts“ durchzieht alle Beiträge des Bandes. Die Frage der Aktualität stellt sich in diesem Zusammenhang gar nicht. Vorherrschend ist die Reflexion über den geschichtlichen Aufstieg, Verfall und Wiederaufstieg mittel- und osteuropäischer Städte.

Brisante, von der Geschichtswissenschaft lange und wissentlich gemiedene Themen und Fragestellungen bleiben in den Überlegungen des Autors nicht ausgespart. Das betrifft die „Wiederentdeckung der Geschichte und Kultur des ehemaligen deutschen Ostens“ ebenso wie den komplizierten Zusammenhang zwischen dem „Untergang des europäischen Judentums“ und dem „Untergang des deutschen Ostens“. Spätestens hier dürfte sich auch der Fachhistoriker herausgefordert fühlen.

Daß dieser Auswahlband gänzlich ohne Quellennachweise auskommen muß, ist allerdings bedauerlich.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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