Im Herbst 1993 erschien das erste Heft des Berliner LeseZeichens. Zu einer Zeit, wo die Blätter von den Bäumen fallen und die Natur sich auf den Winter vorbereitet, gingen wir das Wagnis ein, Blätter über die Literatur zu sammeln und als Zeitschrift herauszugeben, um zum Lesen von Büchern nicht nur an Winterabenden anzuregen. Jetzt, im Spätsommer 2001, erscheint das vorerst letzte Heft unserer Literaturzeitung. Dies steht auf den ersten Blick ganz im Widerspruch zum Zeitgeist: Während zu Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Autoren, Verleger und Buchhändler über Umsatzeinbußen auf dem Markt der Bücher klagten, werden gegenwärtig Wachstumsraten verkündet. Damit einher ging in den letzten Jahren ein zunehmendes Interesse an Zeitschriften, die auf Literatur neugierig machen, Leselust wecken. Von der wachsenden Neugier auf Bücher profitierte auch das Berliner LeseZeichen. Die Zahl der Leser in den wissenschaftlichen Einrichtungen und öffentlichen Bibliotheken, in denen unsere Zeitschrift ausliegt, nahm kontinuierlich zu. Durch die Aufnahme des Berliner LeseZeichens in das Internet-Angebot des Luisenstädtischen Bildungsvereins e. V. konnten wir neue Leserkreise auf uns aufmerksam machen und dies sogar weltweit. Gute Bedingungen für die Weiterführung der Zeitschrift, so scheint es. Was uns veranlaßt, das Berliner LeseZeichen dennoch einzustellen, ist das nun versiegte Rinnsal der finanziellen Förderung für die Monatsschrift, die trotz stetigem Zugewinn an Lesern nicht so viele Käufer gefunden hat, um sie weiter publizieren zu können. Herausgeber und Redaktion wußten zu Beginn um das Abenteuer, eine Zeitschrift wie diese zu verlegen. Sie haben sich dennoch darauf eingelassen und im Rückblick keinen Grund, es zu bereuen. Acht Jahre Berliner LeseZeichen kann sich lesen lassen!
Das Berliner LeseZeichen war gewissermaßen ein Kind der Wende. Wir stellten uns zu Beginn das Ziel, einen Beitrag zur Begleitung und Dokumentation des deutsch-deutschen Einigungsprozesses in der Literatur zu leisten. Allein 1993 bis 1995 erschienen dazu acht thematische Hefte - rückschauend eine einmalige Sammlung von Analysen, Berichten, Rezensionen und Annotationen, unter anderem über Autoren und Bücher in der Wende, Wirtschaft und Umwelt im Zeichen der Wende, Film und Funk, Wendeliteratur, Wendeliteratur Bibliographie & Bücher, Wasser Luft Erde. Von 1994 bis 1997 begleiteten und dokumentierten wir ein bisher einzigartiges deutsch-deutsches Literaturprojekt: die dreibändige Sammlung Von Abraham bis Zwerenz. Eine Anthologie als Beitrag zur geistig-kulturellen Einheit in Deutschland. Diese Anthologie wie auch die sich daran anknüpfenden Symposien zur deutsch-deutschen Literatur vor und während der Wendezeit erweisen sich heute einerseits schon als bedeutsame Literaturgeschichte und andererseits als ein Katalog von noch zu Leistendem im deutschen Einigungsprozeß. Es war kein Zufall, daß das erste Symposium Literatur in Katlenburg bei Göttingen im November 1994 an dem Ort stattfand, wo Pastor Martin Weskott wirkt. Er schrieb sich in das Buch der Bewahrung der Literatur ein, als er nach der Wende auf Müllhalden im Osten Deutschlands entsorgte Bücher aus DDR-Bibliotheken und Buchhandlungen aufsammelte und nach Katlenburg brachte, um sie dort vor dem Verrotten und Vergessen zu schützen. Überflüssig zu sagen, daß die Bücherhalden von Katlenburg bald zur Wallfahrtsstätte von DDR-Literatur-Interessierten geworden sind. Nach Katlenburg fanden die Symposien Literatur in Halle und Literatur in Ludwigsfelde - beide 1996 - und 1997 Literatur in Wannsee statt. Was deutsche Erzähler, Dramatiker, Lyriker, Essayisten und Literaturwissenschaftler an Erfahrungen, Meinungen, Freuden und Sorgen, Vorstellungen und kritischen Anmerkungen hier einbrachten, ist in den Heften des Berliner LeseZeichens nachzulesen. Nicht wenige Beiträge davon waren Erstveröffentlichungen.
Die großen Debatten über die deutsch-deutsche Literatur und ihre mögliche oder tatsächliche Wirkung im allgemeinen und die Verantwortung der Schriftsteller im besonderen sind seit Ende der neunziger Jahre abgeebbt. Das ist ein gutes Stück Normalität zehn Jahre nach der Wende, aber auch Ausdruck dafür, daß die literarischen Beiträge zur deutschen Einheit noch zu spärlich gesät sind.
Von Beginn an widmete sich das Berliner LeseZeichen neben der Rezensierung und Annotierung von Büchern verschiedener Genres der Behandlung thematischer Schwerpunkte und erfuhr dafür zustimmende Resonanz von seinen Lesern. In nahezu jedem zweiten Heft der nunmehr acht Jahrgänge beschäftigten sich verschiedene Autoren mit einem speziellen Thema. Mit Analysen, Berichten, Interviews, literarischen Längsschnitten, Rezensionen und Annotationen haben wir uns, mal mit dem Zeitgeist, mal ohne ihn gehend, den meisten der Themen gewidmet, die durch Literatur gespiegelt werden. Die einzelnen Hefte wurden so auch zu einem Wegweiser für die Annäherung an einen bestimmten literarischen Gegenstand bzw. Ort.
Berlin im Titel der Zeitschrift war Programm insofern, als wir in vielen Ausgaben Berlin als Ort und Gegenstand von Literatur stets beobachtet und dokumentiert haben.
Am Anfang stand die Idee, die zu Beginn der neunziger Jahre in geförderten Projekten erreichten Forschungsergebnisse im Berliner LeseZeichen zu publizieren, um sie so einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wir gaben der Zeitschrift eine Lebensdauer von zwei bis drei Jahren, schon das galt damals vielen als eine Utopie. Daß sie acht Jahre existieren durfte, haben wir den Förderern unserer Arbeit sowie den Mitarbeitern und Autoren zu verdanken. Stellvertretend für viele, die im Laufe der Jahre in der Redaktion mitgewirkt haben, sind an dieser Stelle hervorzuheben: neben Christine Büning, der langjährigen stellv. Chefredakteurin, Gisela B. Adam, Christel Berger, Christian Böttger, Wolfgang Buth, Gisela Driesener, Helmut Fickelscherer, Klaus F. Fiedler, Licita Geppert, Jürgen Harder, Burga Kalinowski, Irene Knoll, Dorothea Körner, Evelyn Krecksch, Irmgard Nickelsen, Gabriele Reinhold, Gudrun Schmidt, Hans-Gert Schubert, Heidrun Siebenhühner, Klaus Ziermann.
Was wäre eine Zeitschrift ohne Autoren. Nicht wenige haben das Berliner LeseZeichen geprägt, allen ist zu danken.
Wir glauben an das Prinzip Hoffnung und damit auch an eine mögliche Wiederauferstehung der unseren Lesern und uns liebgewonnenen Zeitschrift.
Hans-Jürgen Mende |
Juli 2001 |