Rezension von Gerhard Keiderling
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Vom Wert erinnerter Geschichte
Jürgen Kleindienst (Hrsg.): Gebrannte Kinder
JKL Publikationen, Berlin 1999, 331 S.
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Ders. (Hrsg.): Nachkriegs-Kinder
Kindheit in Deutschland 1945-1950. 67 Geschichten und Berichte
von Zeitzeugen. (Reihe Zeitgut, Bd. 2)
JKL Publikationen, Berlin 1998, 423 S.
Ders. (Hrsg.): Schlüssel-Kinder
Kindheit in Deutschland 1950-1960. 46 Geschichten und Berichte
von Zeitzeugen. (Reihe Zeitgut, Bd. 6)
JKL Publikationen, Berlin 1999, 332 S.
Das soeben zu Ende gegangene 20. Jahrhundert mit seinen großartigen Leistungen in Wissenschaft und Technik, aber auch mit zwei Weltkriegen und mit einem vierzigjährigen Kalten Krieg, die riesige Zerstörungen und unermeßliches menschliches Leid mit sich brachten, wird die Menschheit noch lange beschäftigen. Langsam öffnen sich die Archive und geben ihre Geheimnisse preis. Neue Sichten weiten sich, neue Erkenntnisse werden formuliert. Man wird fragen: Wie haben diese Generationen ihr Jahrhundert erlebt, woher nahmen sie jedesmal die Kraft und die Zuversicht zu einem Neuanfang, wie haben sie sich in den ideologischen Schlachten ihrer Zeit zurechtgefunden, welche Lebenserfahrungen teilen sie den Nachgeborenen mit? Lebensgeschichte ist inzwischen längst zu einer anerkannten wissenschaftlichen Disziplin mit eigener Methodik geworden, derer sich Historiker, Politologen und Soziologen bedienen.
Diesem Trend folgt der JKL-Verlag mit seiner Reihe Zeitgut, in der Zeitzeugen aus ihrer Kindheit und Jugend berichten. Bisher liegen sechs Bände vor, weitere sind geplant. Die hier zu besprechenden Bände umfassen den Zeitraum von 1939 bis 1960. Gebrannte Kinder (unter diesem Titel hatte der Soziologe Richard Kaufmann schon 1966 bei dtv eine tiefgreifende Analyse der Nachkriegsjugend vorgestellt) enthält Geschichten und Berichte aus den Kriegsjahren 1939 bis 1945 (vgl. Rezension des ersten Teils in: Berliner LeseZeichen, 5/1999). In Nachkriegs-Kinder stehen Trümmer, Hunger und Besetzung im Mittelpunkt.
Schlüsselkinder behandelt die Aufbauzeit, die durch Kalten Krieg und Teilung geprägt war. So spannt sich ein großer Bogen erinnerter Kindheit und erfahrener Geschichte über die Mitte des verflossenen Jahrhunderts. Der Hrsg. hat die ihm vorliegenden Erinnerungsberichte- laut Klappentext - sensibel überarbeitet, ohne den Schreibstil des Verfassers zu verändern, sie jedoch nach zeitlichen und thematischen Gesichtspunkten geordnet, um eine Verdichtung der Episoden zu erreichen. Auf diese akzeptable Weise entsteht in jedem Band ein Erzählfluß, der den Leser mitträgt und ihm einen vergnüglichen, meist nachdenklichen Lesegenuß bereitet. In einer Mischung aus Fakten, Atmosphärischem, Absurdem und Witzigem wird Vergangenheit lebendig. Alle Schreiber empfinden jene Zeit prägend für ihr Denken und für ihren weiteren Lebenslauf. Sie haben die Bilder von Kindheit und Schulzeit, von Krieg und Zusammenbruch, von Neuanfang und Wiederaufbau wie Fotografien in ihren Köpfen gespeichert. Wenn sich solche Erinnerungen in individuell unterschiedlicher, in der Sache aber übereinstimmender Weise wiederholen, so darf man von Gruppenerfahrungen, von der kollektiven Reflektion objektiver Tatbestände ausgehen. Hierin liegt der allgemeine Wert dieser Erinnerungsberichte als Zeitzeugnisse.
Die akademische Geschichtsschreibung, die lange die Erforschung des Alltags der arbeitenden Bevölkerung, deren soziokulturelle Strukturen und Lebenserfahrungen vernachlässigt hatte, begrüßt die vielfältige persönliche Erinnerungsliteratur, wie sie auch das Projekt Zeitgut fördert. Indes wird sie strenge quellenkritische Maßstäbe anlegen. Die Mehrheit der dem Herausgeber zugesandten Berichte bewegt sich im engen Umkreis von persönlichen Erlebnissen. Ihre Stückelung nach sachlichen und chronologischen Gesichtspunkten erschwert die Erfassung von sozialen Grunderfahrungen und von politischen Orientierungen. In welcher Weise beeinflußte der Faschismus die Lebensperspektiven? Welche Lernsituationen und Orientierungsoffenheit gab es nach dem Kriege? Welche Einschnitte brachte die Besatzungsordnung? Warum trat nach dem Kriege die Sozialisierung hinter das individuelle Konsumdenken zurück? Warum hatten bürgerliche Parteien einen stärkeren Zulauf als in den 20er Jahren? Wie wuchsen die heutigen Fremdheiten zwischen Ost- und Westdeutschen? Solche wesentlichen Fragen bleiben weitgehend offen. Zudem sind klassen- oder gruppentypologische Auswertungen kaum möglich. Betrachtet man die geographische Provenienz der Zeitzeugen, so ergibt sich eine Westlastigkeit, die für die Zeit nach 1945 zum Problem wird. Denn Kalter Krieg und Spaltung bewirkten eine unterschiedliche Erinnerungskultur in Ost und West. Schließlich hat die deutsche Einheit von 1990 bei vielen ein für gesellschaftliche Umbruchzeiten typisches Verhalten in der Art und Weise der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit erzeugt. Hier hätte die führende Hand eines Historikers oder Soziologen den Zeitzeugen tiefergehende Mitteilungen entlocken und ihr damaliges Bewußtsein präziser rekonstruieren können.
Ungeachtet dieser kritischen Anmerkungen beeindrucken die hier zu besprechenden Bände
durch ein Übermaß an Vitalität. In lebendiger, ungekünstelter Weise erzählen die Zeitzeugen in
kleinen Geschichten von ihrem Leben in der Familie, in Schule, Lehre und Beruf, in der Stadt oder
auf dem Land. Nüchterne Fakten, aus Geschichtsbüchern bekannt, nehmen Gestalt an: die
Kinderlandverschickung, der Schrecken der Bombennächte, die Flakhelfer und die HJ-Regimenter
als letztes Aufgebot, die Erlösung der Kapitulation, die Besatzer, der Hunger und die
Hamsterfahrten, die Heimkehr der kriegsgefangenen Väter, der schwere Neuaufbau und die endliche
Wiedergewinnung eines normalen Lebens. Es sind Jedermann-Geschichten, personenbezogen,
detailliert, mitunter banal und doch den Zeitgeist reflektierend. Allen - den Älteren, die sich in die
eigene Vergangenheit zurückversetzen möchten, und den Jüngeren, die sich über die Zeit ihrer
Eltern und Großeltern informieren wollen - seien diese und auch noch kommende Bände der
Reihe Zeitgut ans Herz gelegt.