Dr. Willy Brandt

eigentlich Herbert Ernst Karl Frahm

* 18. 12. 1913 in Lübeck
+ 08. 10. 1992 in Unkel (bei Bonn)

Regierender Bürgermeister (West-Berlin)
vom 03. 10. 1957 bis 01. 12. 1966

Bildnis Willy Brandt Mit einem norwegischen Diplomatenpaß kam Brandt Ende 1946 nach Berlin, um als Presseattachè der norwegischen Militärmission zu arbeiten. Auf Vorschlag seines Freundes Erich Brost wurde er 1947 dessen Nachfolger als Beauftragter der SPD in Berlin. Mit dem Programm des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher verband Brandt vor allem der Antikommunismus, ansonsten blieb er auf Distanz. Obwohl als "seinen Mann" in die Hauptstadt geschickt, hatte sich Brandt dort bald dem Kurs Ernst Reuters angeschlossen: "Reuter und ich waren politisch und persönlich - nahe beieinander, fast ein Herz und eine Seele." Brandt zog als einer der acht von der Stadtverordnetenversammlung entsandten Berliner Vertreter in den Bundestag ein und legte daher das Amt als Vertreter des Vorstandes in Berlin, das ohnehin abgeschafft werden sollte, noch 1949 nieder.

Bei den ersten Wahlen zum nun "Abgeordnetenhaus von Berlin" genannten West-Berliner Parlament im Jahre 195O erhielt Brandt ein zweites Mandat. Inzwischen hatte er sich durch die Übernahme des Vorsitzes des Kreisvorstandes der SPD in Wilmersdorf eine Parteibasis geschaffen.

Die 50er Jahre waren das Jahrzehnt, in dem Willy Brandt der Aufstieg in Berlin gelang. In dieser Zeit hatte er sich für den Weg des Berufspolitikers entschieden. Er bildete in dieser Zeit jenen Kreis von Freunden und Mitarbeitern heran, der ihm über Jahrzehnte die Treue halten sollte: Egon Bahr, Klaus Schütz, Dietrich Spangenberg und Heinrich Albertz. Er war regelmäßig, wie auch Reuter, mit dem Landesvorsitzenden Franz Neumann aneinandergeraten, der für Brandt der mutige, aber zu enge Traditionalist war. 195O wurde er Mitglied des Landesvorstandes, 1954 bis 1958 stellvertretender und 1958 nach einer Kampfabstimmung gegen Franz Neumann, die er mit 163 gegen 124 Stimmen gewann, Landesvorsitzender der Berliner SPD und übte diese Funktion bis 1963 aus. 1958 wurde er in den SPD-Parteivorstand, 1962 zum stellvertretenden und 1964 als Nachfolger Ollenhauers zum SPD-Vorsitzenden gewählt. Die Funktion des Parteivorsitzenden der SPD übte er bis 1987 aus; anschließend wurde er zum Ehrenvorsitzenden seiner Partei berufen.

Als Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses übernahm Brandt 1955 erstmals in Berlin eine führende politische Position. Am 3. Oktober 1957 wurde er vom Abgeordnetenhaus zum Regierenden Bürgermeister von Berlin an die Spitze eines Senats der Großen Koalition gewählt, und 1963, bei seiner Wiederwahl, schloß er ein Bündnis mit der FDP. Zugleich leitete er von 1957 bis 1963 als Präsident den Deutschen Städtetag. Als Regierender Bürgermeister von 1957 bis 1966 war Willy Brandt mit vielfältigen Aufgaben konfrontiert, gestalterischen wie bewahrenden.

Willy Brandt war als SPD-Vorsitzender Herausforderer der Bundeskanzler Konrad Adenauer und Ludwig Erhard und trat bundesweit vor die Wähler. In seiner Funktion als Chef der Westberliner Exekutive hatte er die Verwaltung der Millionenstadt in den Jahren der fortschreitenden Teilung der Stadt zu führen. Brandt mußte als beauftragter Sachwalter der Interessen Berlins mit Bonn zusammenarbeiten und als Sozialdemokrat zugleich opponieren. Er hatte einen Balanceakt zu vollführen zwischen der Herausforderung der Kanzler und der gebotenen Unterordnung Berlins unter die Kompetenz der Bundesregierung. Brandt gelang dies Unterfangen außerordentlich gut. Seine Unterstützung der Bonner Ost- und Deutschlandpolitik mündete nicht in Anpassung und Befehlsgehorsam; es gelang ihm im Gegenteil, von Berlin aus gestalterische Impulse ausgehen zu lassen, die der Bundesregierung Anregungen geben sollten. Die Situation der Stadt zwang einen Regierenden Bürgermeister permanent zur Suche nach praktikablen Regelungen zur Linderung der Sorgen und Nöte der Menschen, und Willy Brandt erfüllte in dieser Hinsicht die Erwartungen der Berliner. Er mußte wie alle Regierenden Bürgermeister der Nachkriegsjahre bis 199O mit Souveränitätseinschränkungen durch die vier Siegermächte regieren.

Seine Schlußfolgerungen aus den mit dem 13. August 1961 entstandenen Tatsachen mündeten in die gemeinsam mit Egon Bahr konzipierte "Politik der kleinen Schritte" und den angestrebten "Wandel durch Annäherung". Für die Berliner brachten sie mit dem Passierscheinabkommen im Dezember 1963 die ersten spürbaren Resultate. Die Mauer stellte eine Rückzugsposition des Ostens dar, wenn man an die Forderungen des Ultimatums Chruschtschows denkt. Brandt selbst urteilte später: "Was uns in Berlin als grausamer Einschnitt erschien, mag sich für andere fast als Erleichterung dargestellt haben." Es drohte nun keine Kriegsgefahr mehr. Doch als Regierender Bürgermeister mußte er die Enttäuschung der Berliner auffangen, um so mehr als sich der Bundeskanzler zunächst nicht blicken ließ. Kennedy wurde für Brandt der Partner, mit dem er ein gemeinsames Ziel verfolgte, die Veränderung der Politik des Westens. Brandt konnte sich auf den amerikanischen Präsidenten berufen, der ungemein populär spätestens nach seinen Reden am 26. Juni 1963 war. Seine Rede vor dem Schöneberger Rathaus, dem späteren J.-F.-Kennedy-Platz, mit dem persönlichen Bekenntnis zur Stadt Berlin brachte ihm die Sympathie der Berliner ein.

Willy Brandt wurde stärker als jeder andere Staatsmann der Bundesrepublik Deutschland von der Situation Berlins geprägt. Er selbst nannte es einmal den Zwang zum Wagnis, den er hier verspürte, um eine Überwindung des Status quo zu erreichen.

Welche Bedeutung hat umgekehrt der Regierende Bürgermeister von 1957 bis 1966 für die Stadt gehabt? Zunächst war es Ernst Reuter, danach Willy Brandt zu verdanken, daß die "Insel der Freiheit" durch alle Krisen weltweit für schützenswert erachtet wurde. "Ich glaube immer noch, daß das Gegenhalten in Berlin auch eine friedensbewahrende Funktion gehabt hat." Als Regierender Bürgermeister war Willy Brandt der richtige Mann an der richtigen Stelle zur richtigen Zeit. Ihr "Regierender" an der Seite Kennedys, als Herausforderer Konrad Adenauers, in den Metropolen der Schutzmächte zu Gast, gab den Ausharrenden das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Seine Weigerung, trotz absoluter Mehrheit allein zu regieren, der Wunsch, möglichst breite Zustimmung aus der Bevölkerung zu erfahren, machten ihn zum populärsten Stadtoberhaupt neben Ernst Reuter im West-Berlin der Nachkriegszeit. Und wirklich gelang Willy Brandt mit der Politik der kleinen Schritte eine Verbesserung der Situation der Bevölkerung - ein Ziel, daß er auch während seiner Amtszeit als Außenminister und Vizekanzler unter der "Großen Koalition" von 1966 bis zu seiner Wahl als Bundeskanzler im Oktober 1969 erfolgreich weiterverfolgte -, wurden doch die Berliner zu den Meistbegünstigten der Entspannungspolitik.

Nur wenige Monate nach de Unterzeichnung des Moskauer Vertrages zwischen der BRD und der Sowjetunion vom 12. August 1970 erhielt er am 12. Dezember die Westberliner Ehrenbürgerschaft, die ihm für seine Verdienste um West-Berlin verliehen wurde. Drei Monate nach der Unterzeichnung des Viermächteabkommens über Berlin im September 1971 wurde ihm in Anerkennung seiner Entspannungspolitik der Friedensnobelpreis überreicht.

Für die Öffentlichkeit vollkommen überraschend, trat Brandt am 7. Mai 1974 vom Amt des Bundeskanzlers zurück. In seinem Rücktrittsschreiben erklärte er, er übernehme damit die Verantwortung für "Fahrlässigkeiten" im Zusammenhang mit der Affäre Guillaume; auch dürfte der Kanzler nicht "erpreßbar" sein, womit der private Bereich angesprochen war. Günter Guillaume war Referent im Bundeskanzleramt und für den Kontakt zur SPD zuständig gewesen. Er war zuvor als DDR-Spion enttarnt worden. Auch international löste der abrupte Rücktritt tiefe Betroffenheit aus. Bereits am 16. Mai 1974 wählte der Bundestag Helmut Schmidt mit 267 gegen 492 Stimmen zum Bundeskanzler.

Willy Brandt wurde im November 1976 in Genf zum Präsidenten der Sozialistischen Internationale gewählt und übernahm im Dezember des selben Jahres auf der Konstituierenden Sitzung auf Schloß Gymnich bei Bonn den Vorsitz in der "Nord-Süd-Kommission", die von der Weltbank angeregt worden war und sich intensiv mit dem Verhältnis zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern zu befassen hatte. Hier trat er weltweit für Frieden, Menschenrechte und sozialen Ausgleich ein.

Nach der Grenzöffnung in Berlin am 9. November 1989 entwickelte Brandt seine Vision und Erwartung: "Aus dem Krieg und aus der Veruneinigung der Siegermächte erwuchs die Spaltung Europas, Deutschlands und Berlins. Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört."

Schwer krank, erlag er mit 79 Jahren einem Krebsleiden. An der Trauerfeier im Rahmen eines Staatsaktes nahmen Freunde und Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland teil. Willy Brandt wurde auf dem Waldfriedhof in Berlin-Zehlendorf in einem Ehrengrab in der Nähe Ernst Reuters beigesetzt. In Nachrufen wurde er als einer der bedeutendsten Staatsmänner der Nachkriegszeit gewürdigt.

 

© Edition Luisenstadt, 1998
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