* 28.10.1948 in Gommern bei Magdeburg
Amtierender Oberbürgermeister (Ost-Berlin)
vom 15.2.1990 bis 23.2.1990
Ost-Berlin durchlebte ungewöhnliche Tage, als Ingrid Pankraz an die Spitze der Stadtverwaltung trat. Zu dieser Zeit wurden bereits die Weichen für eine alsbaldige Zusammenfügung Ost- und West-Berlins gestellt. Die Absichten nicht weniger Ostdeutscher in den Herbsttagen des Jahres 1989, eine bessere DDR zu gestalten, hatten sich als ein Wunschtraum erwiesen. Wie im ganzen Lande brachen auch in der DDR-Hauptstadt mehr und mehr die bis dahin geltenden politischen Strukturen weg und die schon seit längerem existierenden ökonomischen und finanziellen Krisensymptome offen hervor.
Am 15. Februar 1990 erklärte der bis dahin im Amt stehende Oberbürgermeister Erhard Krack aus politischen und gesundheitlichen Gründen seinen Rücktritt. Er übernahm als ehemaliger Leiter der Wahlkommission Ost-Berlins die politische Verantwortung für Fälschungen der Wahl am 7. Mai 1989. Nach der Geschäftsordnung des Magistrats hätte nun der Erste Stellvertreter des Oberbürgermeisters, Stadträtin Hannelore Mensch, das Amt amtierend antreten müssen; sie war jedoch inzwischen in die DDR-Übergangsregierung unter Leitung von Dr. Hans Modrow gewechselt. Der demissionierende Oberbürgermeister empfahl daher als amtierenden Nachfolger den Stadtrat für Kultur, Dr. Christian Hartenhauer. Dieser bestand aber darauf, die Funktionsrangfolge einzuhalten. Damit oblag es der Stellvertreterin des Oberbürgermeisters und Vorsitzenden der Bezirksplankommission, Stadträtin Ingrid Pankraz, das Amt wahrzunehmen. Sie brachte dafür nicht nur die erforderliche Fachkompetenz mit. Vielmehr hatte sie, was in jenen Tagen noch bedeutsamer war, mit dem auch in Ost-Berlin wirksam fungierenden Runden Tisch schon vordem eine gemeinsame Sprache gefunden und dessen Vertrauen erlangt. Hierzu trugen ihre exakten und gründlichen Kenntnisse Ost-Berlins und der Problemfelder der Stadt ebenso bei wie die bei ihr schon im frühen Jugendalter ausgeprägten Fähigkeiten, anderen zuzuhören, über deren Meinung nachzudenken und möglichst immer einen Konsens zu finden, auch wenn sie mitunter impulsiv und spontan reagierte - ein durchaus nicht negatives Erbe ihrer Mutter, einer gebürtigen Rheinländerin.
Ingrid Pankraz nutzte die wenigen Amtstage als amtierender Oberbürgermeister vor allem dazu, gemeinsam mit dem Runden Tisch, den Stadträten und Mitarbeitern des Magistrats eine weitgehend funktionierende Stadtverwaltung zu sichern und die Ordnung in der Stadt aufrechtzuerhalten, also Aufgaben zu meistern, die damals nur unter großen Anstrengungen zu lösen waren. Sie schaffte es. Das erklärt sicher auch, weshalb der Berliner Runde Tisch und die Fraktion der LDPD auf der Stadtverordnetenversammlung am 23. Februar 1990 Ingrid Pankraz neben Dr. Christian Hartenhauer, den der Magistrat von Ost-Berlin nominierte, als Kandidatin für die Wahl des Oberbürgermeisters vorschlugen. Zuvor war ein Vorstoß der CDU, auf die Wahl eines neuen Oberbürgermeisters überhaupt zu verzichten, mehrheitlich mit der Begründung zurückgewiesen worden, die Entwicklung der Stadt brauche einen vollhandlungsfähigen Magistrat. Die Tagespresse in jener Zeit stimmte darin überein, daß Ingrid Pankraz reale Chancen hatte, die Wahl zu gewinnen, zumal auch eine tragfähige Zusammenarbeit zwischen ihr und dem Senat von West-Berlin, insbesondere durch ihre Tätigkeit im Provisorischen Regionalausschuß, bestand. Der damalige Stadtverordnetenvorsteher Prof. Dr. Laurenz Demps richtete sich deshalb auf einen kämpferischen Wahlverlauf ein. Ingrid Pankraz lehnte jedoch eine Kandidatur ab. Sie brachte drei Gründe vor: Erstens nicht die erforderlichen Voraussetzungen für das hohe Amt in einer Zeit schnell wechselnder Ereignisse zu besitzen, zweitens selbst erst den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft bewältigen zu müssen und drittens ihre Mutterpflichten gegenüber den Töchtern nicht hintenanstellen zu wollen. Die Presse hob damals letzteres als ausschlaggebenden Grund hervor. Dafür sprach, daß Ingrid Pankraz einmal selbst von sich sagte: "Nur als Mutter bin ich unersetzbar." Dennoch: Die Töchter Anja und Sandra waren bereits 16 und 12 Jahre alt, beide also keine Kleinkinder mehr. Vielleicht lag der eigentliche Grund in der besonderen Kompliziertheit der Zeit. Ingrid Pankraz hätte jedoch von ihren fachlichen und charakterlichen Voraussetzungen her durchaus der erste gewählte weibliche Oberbürgermeister in der mehr als 750jährigen Geschichte der Stadt werden können.
Die in der Familie Windisch in Gommern bei Magdeburg geborene und mit zwei Geschwistern aufgewachsene Ingrid Pankraz wurde insbesondere durch den Vater, Vorsitzender einer Bauproduktionsgenossenschaft und späterer Hauptbuchhalter eines größeren Magdeburger Baubetriebes, schon frühzeitig in die Richtung ihres künftigen Berufes gelenkt. Ursprünglich wollte sie Kellnerin werden, was sie in den Schul- und Studentenferien auch ausprobierte. Von den Eltern hat Ingrid Pankraz den Willen und Ehrgeiz mitbekommen, ungewohnte Aufgaben meistern zu wollen. Wenn sie dies bis heute zumeist geschafft hat, so auch dank der Mutter, die durch ihr heiteres und lebensfrohes Wesen über manche Klippe half, und auch dank des Ehepartners - einem Diplomingenieur -, der in den vielen Jahren der Gemeinsamkeit zupackend und ratend zur Seite stand.
Die schulische und berufliche Ausbildung von Ingrid Pankraz verlief wie bei sehr vielen ehemaligen DDR-Bürgern. Sie besuchte von 1955 bis 1965 die Polytechnische Oberschule in Gommern und absolvierte von 1965 bis 1968 eine Berufsausbildung mit Abitur, die mit der Erlangung des Facharbeiterbriefes eines Großhandelskaufmanns endete. Ihr Betrieb delegierte sie 1968 zum Studium an die Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst, Fachrichtung Volkswirtschaft. 1972 erlangte Ingrid Pankraz die Anerkennung als Hochschulökonom der Volkswirtschaft und setzte das Studium als Forschungsstudentin bis 1975 fort. Anfang 1973 wurde ihr der akademische Grad eines Diplom-Wirtschaftlers verliehen und im Oktober 1975 promovierte sie zum Doktor der Wirtschaftswissenschaften. Während der Ausbildungszeit engagierte sich Ingrid Pankraz politisch im Jugendverband "FDJ". Erst während des Studiums entschied sie sich, Mitglied der SED zu werden.
Im August 1975 begann Ingrid Pankraz ihre berufliche Tätigkeit als leitende Mitarbeiterin in der Bezirksplankommission von Berlin. Dort avancierte sie im Januar 1979 zur Leiterin des Bereiches Investitionskoordinierung, im Oktober 1987 zur Ersten Stellvertreterin des Vorsitzenden der Bezirksplankommission und am 1. April 1989 zur Stellvertreterin des Berliner Oberbürgermeisters und Vorsitzenden der Bezirksplankommission. Auf ihre Initiative hin wurde die Bezirksplankommission 1990 in das Amt für Regionalentwicklung umgewandelt, dessen Leitung sie übernahm. Diese Tätigkeit beendete Ingrid Pankraz offiziell am 31. Mai 1990, tatsächlich erst elf Tage danach. Sie führte dann bis zum 2. Oktober 1990 die Unterabteilung Kommunale Selbstverwaltung in der Abteilung Verwaltungsreform des Ministeriums für Regionale und Kommunale Angelegenheiten und arbeitete in dieser Funktion am Entwurf des Kommunalvermögensgesetzes mit. Vom Oktober bis Ende Dezember 1990 leitete Ingrid Pankraz den Arbeitsbereich Kommunale Selbstverwaltung/Wirtschaftskraft der Kommunen in der Gemeinschaftsstelle der Länder für Landes- und Kommunalfragen und ab 1. Januar 1991 den Beraterstab Kommunalvermögen beim Bundesministerium des Innern der Bundesrepublik Deutschland, Außenstelle Berlin. Zum 31. Juli 1991 schied sie auf eigenen Wunsch aus der Verwaltungstätigkeit aus und ging in das Bankwesen.
In den vielen Jahren verantwortlicher Kommunalarbeit hat Ingrid
Pankraz trotz wenig verfügbarer freier Zeit nie ihre aus
der Kindheit gewohnte Geselligkeit und das Interesse für
neuzeitliche Literatur aufgegeben. Sie beherzigte immer den Rat
von Kollegen, wenn sie wieder eine neue Aufgabe übernahm:
"Hauptsache, Ingrid, du bleibst eine Frau!"
© Edition Luisenstadt, 1998
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