Dr. Richard Freiherr von Weizsäcker

* 15. 04. 1920 in Stuttgart

Regierender Bürgermeister (West-Berlin)
vom 11. 06. 1981 bis 09. 02. 1984

Bildnis Richard Freiherr von Weizsäcker Als nach dem Wegfall von Mauer und Stacheldraht zwischen den beiden deutschen Staaten im Herbst 1989 das Für und Wider darüber, ob Berlin seine alte Funktion als Hauptstadt und Regierungssitz für ganz Deutschland wieder einnehmen sollte, mit voller Heftigkeit entbrannte, war aus dem Kreise der Befürworter eine Stimme zu vernehmen, die in ihrer Aussage an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ: die Richard von Weizsäckers. Sein klares Bekenntnis zur zentralen Rolle der deutschen Hauptstadt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kam nicht von ungefähr. Auf vielen Abschnitten seines persönlichen und politischen Lebens war er immer wieder mit der Metropole an der Spree in Berührung gekommen, war als Regierender Bürgermeister Westberlins für über zweieinhalb Jahre sogar oberster Repräsentant des Westteils der Stadt, empfing er in ihr und von ihr wichtige Impulse, die sein Denken und Handeln maßgebend prägten.

Richard Freiherr von Weizsäcker wurde am 15. April 1920 in Stuttgart geboren. Sein Vater war Diplomat in Diensten des Reichsamtes des Auswärtigen. Nach Stationen in Basel und Kopenhagen wurde der junge Richard mit sieben Jahren ein Berliner und lernte ab 1929 für vier Jahre am Bismarck-Gymnasium im Stadtbezirk Wilmersdorf. Aufgrund dienstlicher Pflichten seines Vaters hielt er sich dann in Oslo auf und wechselte schließlich ins schweizerische Bern. Anfang 1937 kehrte er nach Berlin zurück und legte das Abitur ab. Danach studierte er je ein Semester Rechtswissenschaften und Geschichte an den renommierten Universitäten von Oxford und Grenoble. Nach einer Verpflichtung zum Arbeitsdienst am Werbellinsee in der Schorfheide wurde er im Oktober 1938 mit achtzehneinhalb Jahren zum Infanterieregiment 9 in Potsdam einberufen. Er nahm als Angehöriger dieser Eliteeinheit am Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen und die Sowjetunion teil und wurde verwundet. Über Kopenhagen und Danzig (heute Gdansk) kam er schließlich noch vor Kriegsende nach Deutschland zurück und setzte sich nach Lindau am Bodensee ab, wo er die Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 erlebte. Er nahm danach ein Jura-Studium an der Universität Göttingen auf, unterbrach es aber nach vier Semestern, um seinem vor dem Nürnberger Tribunal wegen Kriegsverbrechen angeklagten Vater als Assistent der Verteidigung beizustehen. Nach dem Referendarexamen im Jahre 1950 wurde das Oberlandesgericht Celle zu seiner ersten beruflichen Station. Noch im selben Jahr wechselte er zur Industrie. Er trat als wissenschaftlicher Mitarbeiter in die Rechts- und Personalabteilung der Consolidation Bergbau-AG in Gelsenkirchen ein. 1953 legte er das Assessorexamen in Düsseldorf ab. Im November selbigen Jahres nahm er seinen Dienst in der Rechtsabteilung der Mannesmann AG in Düsseldorf auf. 1955 promovierte er, zwei Jahre später wurde ihm die Leitung der wirtschaftspolitischen Abteilung der Mannesmann AG übertragen. Zur Jahresmitte 1958 schied er aus dem Unternehmen aus und wurde persönlich haftender Gesellschafter des Bankhauses Waldthausen & Co. KG in Essen und Düsseldorf. Vier Jahre später wechselte er zur Chemiefirma C. H. Boehringer Sohn nach Ingelheim, wo er zum Mitglied der Geschäftsleitung aufstieg. Die Möglichkeit, 1966 nach dem Tode von Ernst Boehringer Firmenchef zu werden, ließ er ungenutzt. Er hatte die Industrie genügend kennengelernt, jetzt reizte ihn die Politik. Der Übergang vollzog sich nahezu nahtlos.

Bereits 1953 hatte Richard von Weizsäcker mit seinem Eintritt in die CDU erste Akzente eines politischen Bekenntnisses gesetzt. Helmut Kohl und Bernhard Vogel wurden schnell auf seine Fähigkeit zum analytischen, perspektivischen Denken aufmerksam und förderten ihn. Noch im selben Jahr gelang ihm der Aufstieg in den Bundesvorstand der CDU. Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag 1969 errang er ein Mandat als Abgeordneter im höchsten Parlament der Bundesrepublik Deutschland und entwickelte sich zu einem Experten für Deutschland- und Ostpolitik. Von 1972 bis 1979 war er stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion, von da an wirkte er für zwei Jahre als Vizepräsident des Bundestages. Auch für die Parteiarbeit war er unverzichtbar. Von 1971 an bis 1977 entwarf er in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Grundsatzkommission die Programmatik einer von christlichen Grundwerten getragenen Politik der CDU als konservativer Volkspartei. Im Mai 1983 wurde er auf dem Kölner Bundesparteitag zu einem der Stellvertreter von Helmut Kohl als Parteivorsitzendem gewählt.

Im Herbst 1978 kam Richard von Weizsäcker zum ersten Mal seit seiner Jugendzeit direkt wieder mit Berlin in Berührung. Für März 1979 standen für das Westberliner Abgeordnetenhaus Wahlen an; das Amt des Regierenden Bürgermeisters Westberlins - eine der Spitzenpositionen, die die freie Welt überhaupt zu vergeben hat, wie der frühere Regierende Bürgermeister Klaus Schütz einmal meinte - reizte ihn. Er entschied sich, als Kandidat der CDU dafür ins Rennen zu gehen. Aber der Anlauf auf den Chefsessel im Rathaus Schöneberg mißlang zunächst. Als 1981 der glücklos amtierende Übergangssenat unter Hans-Jochen Vogel mittels eines Volksbegehrens aus den Angeln gehoben wurde, ergriff Richard von Weizsäcker mit der ihm eigenen Beharrlichkeit seine zweite Chance. Diesmal klappte es. Ein kleiner Schönheitsfehler: 48,0 Prozent für die CDU - das reichte nicht ganz zur absoluten Mehrheit. Von Weizsäcker wagte trotzdem eine Alleinregierung. Diese stand auf wackligen Füßen und konnte nur funktionieren, weil fünf der sieben FDP-Abgeordneten den CDU-Senat tolerierten.

Am 11. Juni 1981 trat Richard von Weizsäcker sein Amt an. Die Situation war alles andere als optimal. Die Stadt hatte bundesweit eine schlechte Presse; die These von ihrer Unregierbarkeit machte die Runde. Nach der außenpolitischen Konsolidierung der Lage im Zuge des Viermächte-Abkommens von 1971 war es ihr nicht gelungen, die damit verbundene Chance der Befreiung von der Isolierung zu nutzen und aus ihrem psychologischen Tief herauszukommen. West-Berlin gefiel sich weiterhin in seiner Inselmentalität, drohte in Provinzialismus zu verfallen. Die Westberliner müßten mit dem Zustand, keine Krise zu haben, besser fertigwerden, urteilte denn auch Richard von Weizsäcker wenig schmeichelhaft.

Die Hoffnungen waren groß, die Erwartungen aber zunächst eher skeptisch. Nicht wenige glaubten, Richard von Weizsäcker würde nun sozusagen als Grandseigneur hoch oben in der Beletage des Olymp thronen und abgehoben über Politik und Moral dozieren. "Der regiert ja wirklich!" - entfuhr es daher den überraschten Beobachtern, die Gelegenheit hatten, seine Amtsführung aus nächster Nähe zu verfolgen. Mit Elan und Zielstrebigkeit packte Weizsäcker es an, in der einzigen Weltstadt, die Deutschland besitze, wie er scherzhaft einmal meinte, kommunalpolitisch neue Akzente zu setzen und Westberlins darüber hinausgehende Brückenfunktion zwischen Ost und West neu zu definieren.

Die Bilanz kann sich sehen lassen. Themen wie Schule, Jugend, Familie, Drogen und Ausländer, aber auch Stadtplanung und -entwicklung, und - ganz wichtig - Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik nahmen eine zentrale Stellung in der Arbeit des Senats ein. So wurden die Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Ausbildungsförderung, Wohnungsbau und Familienpolitik angehoben. Die Zahl der Ausbildungsplätze stieg auf 40 000. Für Selbsthilfegruppen in den Bereichen Gesundheit, Soziales, Behinderte, Ausländer und Frauen wurde ein Fond in Millionenhöhe bereitgestellt. Ein Netz von 50 Sozialstationen sorgte für die Betreuung von Kranken und Pflegebedürftigen. Die Ernennung von Barbara John zur Ausländerbeauftragten der Stadt - sie ist übrigens bis zum heutigen Tage im Amt! - war Ausdruck dafür, den Anliegen der in West-Berlin lebenden 233 000 Ausländer mehr Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Maßnahmen zu ihrer besseren Integration, oder - falls gewünscht - Förderhilfen zur Rückkehr in die Heimat wurden auf den Weg gebracht. In den Wohnungsbau, der sich immer mehr zu einer sozialen Frage von Rang entwickelte, kam neuer Schwung; 40 000 neu gebaute Wohnungen sind die Bilanz. Für die Lösung der Hausbesetzerprobleme wurde die vom Vorgängersenat entwickelte, aber nur zaudernd angewandte Strategie der sogenannten "Berliner Linie" konsequent in Tat umgesetzt. So konnte die Zahl der besetzten Häuser von 167 auf 29 reduziert werden.

Aber auch Richard von Weizsäcker vermochte es naturgegeben nicht, eine allseitig wirkende Wunderwaffe zur Bekämpfung sämtlicher Probleme der Stadt zu finden. Trotz intensiver Bemühungen ließ es sich nicht aufhalten, daß in der Industrie in seiner Amtszeit 38 000 Arbeitsplätze abgebaut wurden, die Zahl der Sozialhilfeempfänger auf 150 000 stieg, bei den Universitäten und Hochschulen eine Kürzung der Mittel erfolgte, der kostenlose Besuch der Kindertagesstätten für jedermann aufgehoben wurde, die Verwaltungsreform steckenblieb.

Doch die Kommunalpolitik war nur eine Seite der Regierungstätigkeit Richard von Weizsäckers. Von West-Berlin aus überzeugend - fernab dröhnender Rhetorik - Deutschland- und Ostpolitik zu betreiben, sah er als einen ebenso bedeutsamen, ihm auch persönlich am Herzen liegenden Aspekt seines Wirkens. Stets bemühte er sich, die Zusammenarbeit mit dem anderen deutschen Staat zu suchen und den Gedanken an die Einheit Deutschlands bei den Menschen wachzuhalten. So oft wie es ihm nur möglich war, reiste er in die DDR, suchte das Gespräch mit den Menschen. Am 15. September 1983 kam es - zum ersten Mal nach dem Kriege überhaupt - zu einer offiziellen Begegnung zwischen einem Regierenden Bürgermeister und einem DDR-Staatsoberhaupt. SED-Generalsekretär Erich Honecker empfing Richard von Weizsäcker im Pankower Schloß Niederschönhausen zu einem - laut "Neuem Deutschland" vom darauffolgenden Tag - "äußerst nützlichen" und "in aufgeschlossener Atmosphäre" abgelaufenen Gespräch.

Richard von Weizsäcker wurde schnell von der großen Mehrheit der Westberliner akzeptiert. Glaubwürdigkeit ging von seinem Amt aus; er hat der Stadt wieder Visionen vermittelt, hat ihr Selbstwertgefühl gehoben. Seine Chancen, bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus 1985 erneut der Bürgermeister der Westberliner zu werden, wären daher nicht schlecht gewesen. Doch es kam anders. Bundespräsident Carstens hatte Anfang 1983 zu erkennen gegeben, daß er für eine zweite Amtsperiode nicht zur Verfügung stehe. Für nahezu alle politischen Beobachter stand fest, daß es nur einen würdigen Nachfolger für das höchste Amt des Staates geben könne: Richard von Weizsäcker. Dieser hielt sich lange Zeit bedeckt. Alle seine Vorgänger seien entweder nach Bonn oder in den Himmel gekommen, war sein zweideutiger Kommentar. Er überlege sich nur noch, wofür er sich entscheide, zumindest in welcher Reihenfolge. Lähmende Ungewißheit breitete sich in der Stadt aus. Doch in Wirklichkeit hatte Weizsäcker seine Entscheidung zugunsten der Villa Hammerschmidt zu Bonn längst getroffen. Alles weitere war nur noch Formsache. Ende November 1983 nominierte die CDU Richard von Weizsäcker als ihren Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten. Die Westberliner waren enttäuscht. West-Berlin kam sich vor wie eine sitzengelassene Geliebte, bemerkte dazu spöttisch der damalige Berliner SPD-Pressesprecher Wiegreffe.

Am 23. Mai 1984 wurde Richard von Weizsäcker mit überwältigender Mehrheit von der Bundesversammlung zum Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt und nach fünf Jahren erneut in diesem Amt bestätigt.

In Würdigung seiner Verdienste um Berlin wurde er am 29. Juni 1990 zum Ehrenbürger der Stadt ernannt.

 

© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de