* 22. 01. 1915 in Breslau (heute Wroclaw)
+ 18. 05. 1993 in Bremen-Horn
Regierender Bürgermeister (West-Berlin)
vom 02. 12. 1966 bis zum 19. 10. 1967
So weihevoll die Reden nach dem Tod von Heinrich Albertz im Mai 1993 aus den verschiedenen Parteien auch klangen, ganz ließ sich der Eindruck nicht verwischen, daß ein Mann mit Gewissen wie Pfarrer Heinrich Albertz den Politikern immer ein wenig suspekt erschienen sein muß - zu oft bewegte er sich außerhalb des offiziell gezogenen Rahmens bürgerlichen Verhaltens. Selbst seine Partei, die SPD, konnte sich zu Albertz' Lebzeiten nicht zu einem Bekenntnis durchringen, wie es schließlich im Nachruf auf ihn in den Worten Widerhall fand: "Er hat durch die Glaubwürdigkeit seines Lebens überzeugt. Er war ein Mahner, einer, der drängte, einer der unbequem war, einer, der das Herz der jungen Menschen erreicht hat. Heinrich Albertz war einer von uns. Darauf sind wir stolz. Wir danken ihm."
Seine Probleme mit der Welt hat Heinrich Albertz schon bei der Geburt: Als er am 22. Januar 1915 in Breslau als Sohn eines Theologen und Wirklichen Geheimen Rates auf die Welt kommt, scheint es eine Totgeburt zu sein. Fast eine Dreiviertelstunde muß der Arzt den neuen Erdenbürger kneten und schütteln, bis wirkliches Leben in ihn kommt. Nach strenger Erziehung im konservativen Elternhaus und nach dem Abitur am Königlich-Wilhelminischen Gymnasium in Breslau 1933 gerät der junge Theologensohn für kurze Zeit in Versuchung, den Nazis zu folgen, wird aber von seinem in Spandau als Superintendent wirkenden älteren Stiefbruder "vermittels einer schallenden Ohrfeige im Forst von Brieselang" für immer bekehrt.
Es beginnt ein Leben im Widerspruch und im Widerstand: 1934 erhält Heinrich Albertz an der Theologischen Fakultät in Breslau ein Disziplinarverfahren wegen Nichtteilnahme an der vormilitärischen Ausbildung. An der Universität Halle sucht er Kontakt zu sozialdemokratisch orientierten ausländischen Studenten. Im Wintersemester 1936/37 nimmt er als Student der Berliner Universität am illegalen Lehrbetrieb der Kirchlichen Hochschule teil. Im folgenden Semester fungiert er von Breslau aus als Kurier der Bekennenden Kirche nach Holland und Dänemark. Als junger Vikar in Priebus in der Oberlausitz gerät er bereits nach den ersten Predigten in Konflikt mit den Stadtoberen und der Polizei. Nach seinem zweiten Theologischen Examen ist wegen einer Predigt 1939 ein Strafverfahren wegen Heimtücke gegen ihn anhängig. Der sechsmonatigen Gefängnisstrafe und der Verhaftung durch die Gestapo kann sich der mutige Pastor nur durch Einsatz an der Front entziehen. Mit schweren gesundheitlichen Schäden nach einer Diphterieinfektion kehrt er zurück und wird Pfarrer in Roschkowitz. Hier wird er 1943 wegen eines öffentlichen Gebets für den von den Nazis ins Konzentrationslager deportierten Martin Niemöller verhaftet und auf die Festung Glatz (heute Klodzko) verbracht. Nach Kriegsende inhaftieren ihn die Amerikaner für kurze Zeit als vermeintlichen Agenten ... Ein fürwahr ungewöhnlicher Lebenslauf für einen gerade 30 Jahre alt gewordenen evangelischen Kirchenmann.
Das Ungewöhnliche, eher im Gegensatz zum Naturell des Christen Heinrich Albertz und doch wieder nur aus seinem aufrechten Charakter und seiner christlichen Gesinnung erklärbar, bleibt ihm auch nach dem Krieg treu. In Celle, wo er als Flüchtlingspfarrer wirkt, ernennen ihn die Engländer zum fraktionslosen Stadtverordneten. Der Pfarrer findet sich von einem Tag zum anderen in der Politik, sträubt sich anfangs, tritt schließlich in die SPD ein und gewinnt 1946 zu aller Überraschung bei den Landtagswahlen den Wahlkreis Celle für seine Partei. 1948 sitzt Heinrich Albertz mit 33 Jahren als jüngster deutscher Minister im Kabinett des niedersächsischen Ministerpräsidenten Kopf. Sein Ressort sind die Flüchtlingsprobleme, und seine Entscheidungen machen schnell Schlagzeilen: Als Minister und als Pfarrer organisiert er 1950 Hilfe für Korea. Im selben Jahr übernimmt er als Minister und Mensch die persönliche Verantwortung für 700 an der Grenze zur BRD wartende osteuropäische Umsiedler und holt sie in die Bundesrepublik.
Das soziale Engagement wird zum Kennzeichen des christlichen Politikers in der Sozialdemokratie. Heinrich Albertz, seit 1950 auch Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt (bis 1965) und auf Vorschlag von Kurt Schumacher in den Parteivorstand der SPD gewählt, wird 1951 als Sozialminister von Niedersachsen vereidigt. Vier Jahre später ruft ihn der Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Otto Suhr, nach dem Sturz des niedersächsischen Kabinetts als Senatsdirektor in die Abteilung Volksbildung. Nach seiner Ernennung bittet Heinrich Albertz, aus dem Kirchendienst - unter Beibehaltung seiner geistlichen Rechte - entlassen zu werden. Willy Brandt, nun an der Spitze Westberlins stehend, ernennt Albertz 1959 zum Chef der Westberliner Senatskanzlei und im Dezember 1961 mit der Begründung, "auf diesem Stuhl muß einer sitzen, der die zehn Gebote kennt", zum Innensenator und Verantwortlichen für die Westberliner Polizei. Zweifellos Herausforderung und zugleich Gewissenskonflikt für einen aufrichtigen Christen wie Heinrich Albertz.
Es ist die Zeit des Mauerbaues, der ersten Todesschüsse an der deutsch-deutschen Grenze; eine Zeit, die Umsicht, Verständnis, Härte, Flexibilität, Mut zur eignen Verantwortung und Aufrichtigkeit vor dem eigenen Gewissen fordert. Heinrich Albertz bringt all das in seine neue Aufgabe ein. Hinter den Kulissen der öffentlichen Politik zimmert er das erste Passierscheinabkommen zu einem tragfähigen Gerüst einer schmalen Brücke zwischen Ost und West. An der Seite Willy Brandts gewinnt Heinrich Albertz, seit 1963 auch Bürgermeister, zunehmend an politischem Gewicht. 1966 wählt ihn das Berliner Abgeordnetenhaus als Nachfolger Brandts zum Regierenden Bürgermeister.
Auf diesem vordersten politischen Posten bleiben Heinrich Albertz nur wenige Monate. In der Nacht des 2. Juni 1967 tritt er wegen des sinnlosen Todes eines jungen Menschen auf den Straßen Westberlins zurück: Der Student Benno Ohnesorg war während einer Demonstration gegen den Schah von Persien von einem Polizisten erschossen worden. Spontan sucht Heinrich Albertz die Studenten in der Freien Universität auf und steht ihnen in tiefer Nachdenklichkeit Rede und Antwort. Zurückgetreten aus christlichen Motiven angesichts des Todes eines Menschen durch die Gewalt des Staates, wird ihm öffentlich unterstellt, weniger seinem Gewissen gefolgt als vor dem linken Terror der Straße zurückgewichen zu sein.
Albertz' Bruch mit der Politik ist radikal; er kehrt für
immer in den geistlichen Stand zurück, wird Pfarrer in der
kleinen Berliner Gemeinde Schlachtensee - bis zu seiner Pensionierung
im März 1979. Die Leidenschaft seines persönlichen Engagements
bringt er nun in die Friedensbewegung ein und wird zu einem ihrer
prominentesten Köpfe. Weder von seiner Partei noch von seiner
Kirche läßt er sich den Mund verbieten und wird so
einer der wenigen Hoffnungsträger in der älteren Generation
für die aufrührerische Jugend der späten sechziger
Jahre. Wo Heinrich Albertz auftritt - sei es auf Kirchentagen
oder anderen Kundgebungen - kann er sich der Sympathie und Anteilnahme
der engagierten jungen Generation sicher sein. 1978 setzt er sich
öffentlich für einen entlassenen kommunistischen Lehrer
ein. Drei Jahre später streitet er für eine Hausbesetzer-Amnestie
in Berlin und verhandelt im Auftrag des Senats mit Häftlingen,
die sich im Hungerstreik befinden. 1982 erklärt er angesichts
der Bereitschaft seiner Partei, die Stationierung neuer Mittelstrecken-Raketen
in Deutschland zu akzeptieren, auf dem Münchener Bundesparteitag
der SPD: "Ich bin traurig und zornig. Die SPD kommt mir vor
wie ein Vater, den ich nicht mehr kenne."
Während der Atomraketen-Debatte nimmt er zusammen mit Oskar
Lafontaine und dem Schriftsteller Heinrich Böll an der Blockade
des US-Stützpunktes Mutlangen teil.
Und auch das gehört zur Persönlichkeit von Heinrich Albertz: Im März 1975 begibt er sich in Frankfurt/Main freiwillig als Geisel in die Hände freigepreßter RAF-Terroristen, geht mit ihnen an Bord des Lufthansa-Jets "Afrika" und landet nach abenteuerlichem Flug am 4. März in Nordjemen. Das Motiv des Pfarrers aus Schlachtensee: die Rettung des von einer Terrorgruppe "Bewegung 2. Juni" entführten Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz, mit dem er "immer Zorres hatte".
Heinrich Albertz verläßt Berlin 1986 und zieht mit seiner Frau Ilse in das Altenwohnheim "Haus Riensberg" in Bremen-Horn - "wegen der guten Luft" und "der politisch freien Atmosphäre". Auch hier bleibt er ein Unruhiger. Der Titel seines letzten Buches (Dialoge mit dem Fernsehjournalisten Wolfgang Herles) heißt "Wir dürfen nicht schweigen" - eine Zeile, die für sein Leben steht als streitbarer Pastor, unbequemer Staatsdiener und Politiker im "Unruhestand", wie er es einmal formulierte.
Heinrich Albertz stirbt in der Nacht zum 18. Mai 1993 an Altersschwäche.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker schreibt an seine
Witwe: "Er war furchtlos in jedem notwendigen Kampf und zugleich
voller Güte gegenüber dem Nächsten." Der Berliner
Bischof Kruse nimmt "in Dankbarkeit Abschied" von einem
Seelsorger und Anreger einer unruhigen Jugend, "der die Freiheit
eines Christenmenschen gelebt hat". Und im Roten Rathaus,
in dem die Fahnen zum Zeichen der Trauer halbmast hängen,
würdigt der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen
(CDU) seinen ungewöhnlichen Vorgänger im Amt mit den
Worten, Heinrich Albertz sei zu einer Symbolfigur für den
Umbruch der Stadt geworden und habe "Berlin vorbildlich gedient".
© Edition Luisenstadt, 1998
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