* 25. 03. 1938 in Weepers
Regierender Bürgermeister (West-Berlin)
vom 02. 05. 1977 bis 23. 01. 1981
Als Klaus Schütz Ende April 1977 zurücktrat: sein Nachfolger - wer auch immer es sein mochte - war in keiner beneidenswerten Situation. Seine oberste Aufgabe mußte es sein, das angeschlagene Vertrauen der Westberliner in die Handlungsfähigkeit des Senats zurückzugewinnen. Die Bürger erwarteten vom neuen ersten Mann an der Spitze der Stadt, daß er in einer gewandelten Zeit die massiv zutage getretenen, vielfältigen gesellschaftlichen Probleme erkennt und mit Schwung und Kreativität einer Lösung zuführt. Dietrich Stobbe, SPD, war es schließlich, dem diese schwierige Aufgabe anvertraut wurde. Ein ausschlaggebender Faktor für seine Nominierung dürfte gewesen sein, daß er seit seiner Zeit als Student mit den Berliner Problemen gut vertraut war und für viele Jahre die Tätigkeit seiner Partei und der Landesregierung an entscheidenden Stellen mitgeprägt hat.
Dietrich Stobbe, am 25. März 1938 im damaligen Ostpreußen geboren, kam nach dem Ende des zweiten Weltkrieges nach Deutschland und fand in Niedersachsen eine neue Heimat. Er legte 1958 am Athenäum in Stade das Abitur ab. Danach machte er zum ersten Mal für längere Zeit mit Berlin Bekanntschaft. Er nahm am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität in West-Berlin ein Studium der Politischen Wissenschaften auf, das er 1962 als Diplom-Politologe abschloß. Bereits während seiner Studienzeit begann sich der junge Dietrich Stobbe politisch zu organisieren. Er trat 1960 in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ein und avancierte schon nach kurzer Zeit zum Kreisgeschäftsführer der SPD im Stadtbezirk Charlottenburg. Von 1963 bis 1966 war er Pressereferent und persönlicher Referent des Senators für Jugend und Sport in West-Berlin. Danach unterbrach er erst einmal die Arbeit in der Partei und unternahm für ein Jahr einen Ausflug in die freie Wirtschaft, um als Assistent im Vorstand einer großen Westberliner Brauerei tätig zu sein. 1967 meldete er sich zur aktiven Politik zurück. Bei den Wahlen zum Westberliner Abgeordnetenhaus 1967 gelang es ihm, ein Mandat zu erringen; drei Monate später wurde er von seiner Fraktion bereits mit dem Posten des Geschäftsführers betraut, den er fünfeinhalb Jahre innehatte. Am 18. Januar 1973 wurde ihm erstmals ein Regierungsamt in einer Landesregierung übertragen: Klaus Schütz ernannte ihn zum Senator für Bundesangelegenheiten, wo es seine Aufgabe war, Kontakt zur Bundesregierung in Bonn zu halten und mit ihr das Vorgehen in allen West-Berlin betreffenden Fragen zu koordinieren.
Als Schütz Ende April 1977 zurücktrat, war die SPD vor die Situation gestellt, einen neuen Regierenden Bürgermeister präsentieren zu müssen. Dietrich Stobbe hatte als Bundessenator einen guten Eindruck hinterlassen und empfahl sich so für die Funktion. Am 2. Mai wurde er mit 76 von insgesamt 147 Stimmen vom Abgeordnetenhaus in das Amt an der Spitze des Westteils der Stadt gewählt. Als erstes korrigierte Stobbe eine Entscheidung seines Vorgängers: Er holte die FDP, die 1971 von Klaus Schütz auf die Oppositionsbänke verwiesen worden war, wieder in die Regierungsverantwortung zurück und ging mit ihr zusammen eine Koalition ein.
Es war ein schwieriges Erbe, das Dietrich Stobbe antrat. "Konzentration auf das politisch Wesentliche" lautete denn auch das Motto, unter das er seine Regierungstätigkeit stellte. Gegen Ende der Amtszeit von Klaus Schütz hatte ein aktives Regieren nur noch partiell stattgefunden. Viele kommunale Probleme, die dringend in Angriff hätten genommen werden müssen, waren auf der Strecke geblieben. Themen wie Effektivierung der Verwaltung, Schule, Umgang mit Ausländern, Drogen, Gestaltung einer umweltfreundlichen, menschlichen Stadt, Planung der Verkehrswege usw. schoben sich unübersehbar in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Ebenfalls ganz nach oben auf der Prioritätenliste rangierte auch der in der Stadt nicht mehr zu übersehende Strukturwandel der Wirtschaft, verbunden mit einer Rezession, allesamt Erscheinungen, die viele Menschen um ihre Lebenssicherheit bangen ließ. "Sicherung der Arbeitsplätze ist Thema Nr. 1" - so verkündete es daher auch Dietrich Stobbe in seiner am 26. Mai 1977 vor dem Abgeordnetenhaus abgegebenen Regierungserklärung. In einer Vier-Punkte-Liste rangierte folgerichtig der Wille des neuen Senats, sich für die Stärkung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Stadt einzusetzen, an erster Stelle.
Daß aber auch Dietrich Stobbe und seiner Mannschaft mit der Art und Weise, wie versucht wurde, die drängenden Probleme der Stadt anzugehen, nicht der große Wurf gelang, zeigten die Ergebnisse der Wahlen zum Abgeordnetenhaus vom 18. März 1979. Stärkste Partei zu werden, war das Ziel der SPD; 42,7 Prozent kamen unter dem Strich heraus. Die FDP schaffte 8,1 Prozent, und so reichte es rechnerisch noch einmal für eine Fortsetzung der sozial-liberalen Koalition. Am 26. April wurde Dietrich Stobbe zum zweiten Mal als Regierender Bürgermeister gewählt. 71 von insgesamt 135 Abgeordneten sprachen sich für ihn aus. Bereits bei der Senatsbildung zeigte sich deutlich, daß der neuen Regierung kein solides Fundament beschieden war, weder personell noch inhaltlich. Aus der Debatte um die Besetzung der einzelnen Ressorts ging Stobbe arg zerzaust hervor, und auch in der Partei verlor er zusehends an Rückhalt in dem Bemühen, seine Politik aus dieser Ebene heraus absichern zu lassen.
Dennoch demonstrierte er Selbstbewußtsein. Eine "konsequente Fortsetzung der Entspannungspolitik und die ... bewußte Hinwendung zur Stadtpolitik bleiben der Grundsatz für die Arbeit des Senats auch in der neuen Legislaturperiode", versprach er in seiner Regierungserklärung vom 31. Mai 1979. Besonders in der Wirtschaftspolitik bot sich für die Landesregierung ein Feld, das ihren ganzen Einsatz gefordert hätte. Der Strukturwandel in der Industrie hatte mittlerweile Formen angenommen, die das soziale Klima in erheblicher Weise zu belasten drohten. Seit Beginn der 70er Jahre waren durch Rationalisierungsmaßnahmen ca. 70 000 Arbeitsplätze verlorengegangen. So bemühte sich der Senat, neue Rahmenbedingungen für die Ansiedlung von Industrieunternehmen im Westteil der Stadt zu schaffen und dafür günstige Anreize zu bieten. Ein Programm zur Förderung der kleinen und mittleren Unternehmen wurde aufgelegt, aber dennoch - eine grundsätzliche Trendwende herbeizuführen, gelang nicht.
Streiks gehörten und gehören zu Ausnahmeerscheinungen im Leben der Stadt. Dennoch sollte der von Dietrich Stobbe geführte Senat Mitte September 1980 mit einer Arbeitsniederlegung konfrontiert werden, die von einer ganz besonderen Art war. Sie traf West-Berlin an einem empfindlichen Nerv und barg sogar eine völkerrechtliche Komponente in sich. Der Adressat, gegen den sich der Streik richtete, saß quasi im "Ausland", nämlich in Ost-Berlin. Was war passiert? In den Abendstunden des 17. September legten die in West-Berlin Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn die Arbeit nieder. Auslöser des Konflikts war die Absicht der für den Schienenverkehr in ganz Berlin zuständigen Deutschen Reichsbahn der DDR, in West-Berlin nach 21.00 Uhr abends den S-Bahnverkehr einzustellen. Die S-Bahn-Mitarbeiter befürchteten Entlassungen großen Stils. Höhepunkt des Arbeitskampfes war am 21. September die Besetzung des Stellwerkes am Bahnhof Zoologischer Garten. Nichts ging mehr; der S-Bahnverkehr und der gesamte Fernverkehr zwischen West-Berlin und dem Bundesgebiet kamen zum Erliegen. Nach zehn Tagen lenkte die Deutsche Reichsbahn ein. Dennoch wurden Entlassungen vorgenommen; durch die Stillegung von 72 der insgesamt 145 Streckenkilometer in West-Berlin kam es zu einem Kahlschlag im S-Bahnverkehr, von dem sich die Stadt bis heute nicht erholt hat. In der Folge wurden dann Verhandlungen zwischen dem Senat und dem DDR-Ministerium für Verkehrswesen über ein neues, tragfähiges Konzept für die weitere Gestaltung des S-Bahnverkehrs in West-Berlin aufgenommen, Verhandlungen, die erst in der Amtszeit Richard von Weizsäckers zu einem befriedigenden Abschluß geführt werden konnten.
Immer mehr zu einem Schwerpunkt erster Ordnung kristallisierte sich die Situation auf dem Bausektor heraus. Zahlreiche Wohnungen standen leer und wurden von den Eigentümern bewußt leer gehalten, um damit ein Spekulationsobjekt in der Hand zu haben. Mit Hausbesetzungen versuchten junge Leute, dem Einhalt zu gebieten. Zu einer ersten Aktion dieser Art kam es am 26. November 1979 im Stadtbezirk Kreuzberg, als Angehörige aus der alternativen Szene damit den Abriß des Hauses Cuvrystraße 23 verhindern wollten. Der Senat erkannte den Ernst der Lage und beschloß im Rahmen eines 1980 beginnenden Landesmodernisierungsprogrammes durchgreifende Maßnahmen zur Instandsetzung und Modernisierung des vorhandenen Wohnraums. Gleichzeitig sollten im öffentlich geförderten Wohnungsbau 29500 neue Wohnungen geschaffen werden.
Auch im Erscheinungsbild West-Berlins tat sich einiges. So konnte am 15. Dezember 1978 nach 11jähriger Bauzeit der mit einem Kostenaufwand von einer Viertel Milliarde DM errichtete, von dem bekannten Architekten Hans Scharoun entworfene Neubau der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz offiziell eröffnet werden, der - so Dietrich Stobbe in seiner Einweihungsrede - mit dazu beitragen sollte, "Berlin zu einer unumstrittenen Metropole von Kunst und Wissenschaft" werden zu lassen. Am 2. April 1979 wurde im Stadtbezirk Charlottenburg nach fünfjähriger Bauzeit das "Internationale Congress-Centrum" (ICC) eingeweiht, jener futuristische Riesenbau des Architekten-Ehepaares Ursulina Schüler-Witte und Ralf Schüler, der mit seinen 70 Sälen und Räumen allen Ansprüchen eines modernen Tagungsbaus gerecht wurde und der internationalen Attraktivität West-Berlins neuen Auftrieb gab. Und auch ein Skandalobjekt kam noch zu Ehren: Sechs Jahre nach dem Konkurs der Avalon-Bau-GmbH, der Stobbes Vorgänger Schütz damals in arge Bedrängnis gebracht hatte, konnte am 27. Februar 1980 das mit 130 Metern höchste Gebäude West-Berlins, der sogenannte Steglitzer Kreisel, seiner Bestimmung übergeben werden. Er beherbergt unter anderem das Bezirksamt Steglitz sowie ein First-Class-Hotel.
Daß Bauen in Berlin ein Thema von höchster Brisanz war, war Dietrich Stobbe sicherlich bewußt; daß er aber durch undurchsichtige Vorgänge in diesem Sektor schließlich sogar zu Fall kommen sollte, dürfte er so nicht vorausgeahnt haben. Als am 18. Dezember 1980 die Berliner Bank der mit einer Landesbürgschaft in Höhe von 115 Millionen DM abgesicherten Firma Bautechnik KG des Architekten Dietrich Garski wegen Betrugsverdachts die Kredite kündigte und das Unternehmen daraufhin Konkurs anmelden mußte, setzte sich damit eine Krisenlawine in Gang, die unaufhaltsam auch den Stobbe-Senat mit in die Tiefe reißen sollte. Zwei Senatoren traten zurück, zwei weitere Senatoren boten ihre Demission an, eine Senatsumbildung scheiterte. Damit war das Ende des SPD-FDP-Senats unabwendbar eingeläutet. Am 15. Januar 1981 trat Dietrich Stobbe glanzlos mit dem gesamten von ihm geführten Senat zurück.
Dietrich Stobbe verließ die Landespolitik und ging im Sommer
1981 nach New York, um die Leitung des dortigen Büros der
SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung zu übernehmen. Nach seiner
Rückkehr 1983 zog er für die SPD als Abgeordneter in
den Deutschen Bundestag ein und war bis 1990 Mitglied des Auswärtigen
Ausschusses. Danach entschied er sich für eine Tätigkeit
außerhalb der Politik und trat am 1. September 1991 als
leitender Mitarbeiter in die Dienste eines amerikanischen Beratungsunternehmens,
das Strategien für Aktivitäten in den neuen Bundesländern
ausarbeitet.
© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de