Robert Zelle

* 18. 09. 1829 in Berlin
+ 24. 01. 1901 in Meseberg bei Gransee

Bildnis Robert Zelle

Oberbürgermeister
vom 29. 9. 1892 bis 30. 9. 1898

Mit der Wahl von Robert Zelle zum Oberbürgermeister der Reichshauptstadt im September 1892 wurde ein Mann an die Spitze Berlins gestellt, der bereits 30 Jahre in der Stadtregierung gewirkt hatte - als Stadtrat, Syndikus und Bürgermeister. Der 63jährige Jurist wurde für eine 12jährige Amtszeit gewählt und trat die Nachfolge des verstorbenen Max von Forckenbeck an. Mit ihm übernahm wieder ein Berliner die Geschicke der Stadt.

Nach dem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an den Friedrich-Wilhelms-Universitäten in Berlin und Bonn von 1848 bis 1851 und seinen Prüfungen als Auskultator, das heißt erste Referendarstufe (1851), Referendar (1853) und Assessor (1856) arbeitete Robert Zelle, Sohn eines Gymnasialprofessors, zunächst beim Berliner Stadtgericht und bei der Redaktion des "Preußischen Handelsarchivs" im preußischen Handelsministerium. Nach seiner Heirat mit Emilie Möllhausen wurde er 1861, mit 32 Jahren, besoldeter Stadtrat im Berliner Magistrat.

In dieser Zeit beginnt er publizistisch zu arbeiten. Mit seiner ersten Veröffentlichung "Ein deutsches Lebensbild" (1862), der Lebensgeschichte eines armen Schneidergesellen, dokumentiert er, "was alles mit einem deutschen Bürger von Gesetzes wegen gemacht werden kann". Und er kommt zu dem Schluß: "Es ist ein Jammer um die deutsche Nation, so lange die Kleinstaaterei im Gang bleibt, und wir wollen unsere Abgeordneten nicht um neue Gesetze bitten, sondern darum, daß sie erst durch einen Schock alte einen Strich machen." Acht Jahre (seit 1863) war Zelle Redakteur des "Berliner Kommunalblattes". Sein im Rahmen einer Sammlung von Rudolf Virchow und Friedrich von Holzendorff veröffentlichter Vortrag "Waisenpflege und Waisenkinder in Berlin" macht deutlich, daß er in schlechten sozialen Verhältnissen die Wurzel von Konflikten sah, mit denen sich früher oder später die Gesellschaft zu befassen hätte. Das von ihm herausgegebene Handbuch über preußisches Recht und auch sein Vorschlag, Vormundschaftsämter für verwahrloste Kinder einzurichten, belegen ebenfalls Zelles Engagement auf sozialem Gebiet.

Diese politische Haltung führte ihn in die Reihen der Fortschrittspartei (ab 1884 Deutsche Freisinnige Partei und ab 1893 Freisinnige Volkspartei), deren Fraktion im Abgeordnetenhaus Zelle seit 1873 angehörte. Seine linksliberale Position ließ Zweifel aufkommen, ob Kaiser Wilhelm II. überhaupt seine Zustimmung zu Zelles Wahl als Oberbürgermeister geben würde, zumal er sich gegen die staatliche Einmischung in die städtische Selbstverwaltung, besonders gegen die Machtbefugnisse des Polizeipräsidenten gewandt hatte. Doch der Kaiser erinnerte sich wohl der wiederholten Loyalitätsbekundungen Zelles und verband mit seinem Glückwunsch die Hoffnung, gemeinsam zur Verschönerung Berlins und seiner Fortentwicklung zu wirken.

Robert Zelle machte es sich als Oberbürgermeister zum Grundsatz, die enge Zusammenarbeit von beiden Körperschaften - Stadtverordneten und Magistrat - zu fördern. Er legte Wert auf höflichen und respektvollen Umgang unter den Verwaltungsbeamten. "Für ihn gab es keine Unterschiede der Fraktionen, der Konfessionen ... er achtete jede Meinung" nach der Devise: "In unseres Vaters Hause sind viele Wohnungen."

Robert Zelle trat sein Amt in einer Phase der wirtschaftlichen Rezession an. Gleichzeitig stieg die Bevölkerungszahl immens. In den Jahren seit der Reichsgründung 1871 hatte sich die Einwohnerzahl verdoppelt und lag 1895 bei etwa 1 700 000. Daraus resultierten Wohnungsnot und Wohnungselend sowie steigende Mieten. Eine allgemeine Arbeitslosigkeit führte zu Unruhen und Demonstrationen in den Wintermonaten der Jahre 1892 bis 1895.

Andererseits wurde Anfang der 90er Jahre die Eingemeindung der Berliner Vororte im Sinne einer weltstädtischen Entwicklung immer drängender gefordert. Es wird Robert Zelle angelastet, "daß der Magistrat sich auf eine so geringe Gebietserweiterung festlegte, daß die Regierung jedes Interesse an ihrem Plan verlor". Er begründete seine ablehnende Haltung vor allem mit den gewaltigen Kosten, die durch die infrastrukturelle Entwicklung der Vororte entstünden. Mußten doch aus den bereits sehr hohen Steuern bedeutende Vorhaben finanziert werden: Der Bau des unterirdischen Kanalisationssystems wurde 1893 abgeschlossen. Der immer dichter werdende städtische Verkehr verlangte den Neubau von Brücken, um die Kapazität der Wasserwege zu erweitern (unter anderem der Weidendammer Brücke und der Oberbaumbrücke), und von Straßen. In Vorbereitung der Berliner Gewerbeausstellung 1896 in Treptow nahm die erste elektrische Straßenbahn (gebaut von Siemens & Halske) den Betrieb auf, und im gleichen Jahr wurde der Bau der Berliner Hoch- und U-Bahn begonnen. Es entstanden das Reichstagsgbäude (1895), das Preußische Abgeordnetenhaus, das Reichspostamt, das Urania-Theater und das Theater des Westens. 1895 wurde die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche eingweiht. Und nicht zuletzt hatten sich die Stadtväter des Wohnungsproblems anzunehmen. Die Sozialdemokraten hatten mit "Berliner Wohnungsverhältnisse. Denkschrift der Berliner Arbeitersanitätskommission" dieses Problem erneut auf die Tagesordnung gesetzt.

Während es am Anfang seiner Amtszeit wenig Differenzen gab - die Stadtverordneten und Magistratskollegen, zu denen unter anderem Dr. Virchow, Dr. Hobrecht, Marggraff, Bertram und Dr. Langerhans gehörten, schätzten ihn allgemein als vorzüglichen Verwaltungsbeamten -, kritisierte man Zelle später besonders von seiten der sozialdemokratischen Stadtverordneten wegen Passivität, mangelnden Entscheidungsvermögens und Zurückweichens vor Regierungseingriffen. Auf Vorwürfe dieser Art von Paul Singer, Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion der Stadtverordnetenversammlung, antwortete Robert Zelle: "... Unsere Verwaltung steht nicht auf einer Insel; sie muß mit anderen Gewalten zusammen leben, sich auch anderen Gewalten fügen, soweit diese die gesetzliche Macht haben, und ich glaube, wenn eine städtische Verwaltung da die gebotenen Rücksichten nimmt, so nutzt sie der Stadt mehr, als wenn sie, unbekümmert um jene anderen Instanzen, mit dem Kopf durch die Wand geht."

Als Robert Zelle im März 1898 sein Rücktrittgesuch nach nur sechsjähriger Amtszeit einreichte, begründete er seinen Schritt mit seinem fortgeschrittenen Alter. Wahr war aber wohl, daß ihn ein permanenter Konflikt zermürbt hatte: Einerseits mußte er der Bürgerschaft gerecht werden, andererseits im Einvernehmen mit den Staatsbehörden handeln; auf der einen Seite verfocht Paul Singer vehement die Interessen der Arbeiter, kämpfte um eine großzügige Eingemeindung der Vororte und stritt für die Wahrung der Rechte der Stadtverordneten; auf der anderen Seite war es der Oberpräsident von Berlin und Brandenburg, Heinrich von Achenbach, der Forderungen und Vorstellungen im Sinne der Reichs- und freikonservativen Partei vertrat und der darum ständig versuchte, die in der Städteordnung festgeschriebenen Rechte der Stadtverordneten und des Magistrats im Interesse der Machtansprüche des Kaisers zu beschneiden. Ein typisches Beispiel hierfür war seine Zurückweisung der Empfehlung des Magistrats an den Reichstag, der sogenannten Umsturz-Vorlage von 1895, die eine Verschärfung des Straf- und Militärgesetzbuches sowie eine umfassende Beschneidung der Freiheit wissenschaftlicher Forschung und künstlerischen Schaffens beinhaltete, die Zustimmung zu verweigern. Einige Leute meinten, der Oberbürgermeister sei den Ideen das März zum Opfer gefallen, denn er hatte sich 1898 für die Instandsetzung des Kirchhofes der Märzgefallenen und für eine Kranzniederlegung durch den Magistrat zum 50. Jahrestag der Revolution von 1848 ausgesprochen, was wiederum den Einspruch Achenbachs hervorrief und als sich Zelle dem fügte, die Stadtverordneten zu einer Klage gegen Oberbürgermeister und Magistrat veranlaßte.

Der mit Zelle befreundete Stadtverordnetenvorsteher Dr. Langerhans stellte in seiner Dankrede an den ausscheidenden Oberbürgermeister fest, daß sich die Berliner Kommune unter seiner Amtsführung gedeihlich entwickelt habe, wogegen Singer anläßlich einer später beschlossenen Ehrung Einspruch einlegte, vor allem im Hinblick auf den behinderten Eingemeindungsprozeß.

Die Jahre seines Ruhestandes verbrachte der Witwer in seiner Wohnung in der wenig eleganten Luisenstadt in der Michaelkirchstraße 16 und auf dem Rittergut seines Schwiegersohnes (Zelle hatte eine Tochter) in Meseberg bei Gransee. Er widmete sich der Geschichte, Literatur und Kunst und besonders gern der Musik Mozarts und der Geschichte Berlins. Robert Zelle starb an einer Lungenentzündung am 24. Januar 1901 in Meseberg.

Sein Amtsnachfolger und Parteifreund Martin Kirschner würdigte auf der Trauerfeier Zelles Verdienste als Oberhaupt der Haupt-und Residenzstadt. Robert Zelle wurde mit allen Ehren in Berlin-Rixdorf (heute Neukölln) auf dem Kirchhof der Sankt-Thomas-Gemeinde in der Hermannstraße beigesetzt. Im Stadtbezirk Friedrichshain ist eine Straße nach ihm benannt.

 

© Edition Luisenstadt, 1998
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