Martin Kirschner

* 10. 11. 1842 in Freiburg (Waldenburg, heute Walbrzych)
+ 13. 09. 1912 in Ehrwald (Tirol)

Bildnis Martin Kirschner

Oberbürgermeister
vom 23. 12. 1899 bis 31. 8. 1912

Anläßlich der Enthüllung des Denkmals für den Kurfürsten Georg Wilhelm am 23. Dezember 1899 in der Siegesallee (heute Straße des 17. Juni) geruhte Wilhelm II. dem am 23. Juni des Vorjahres zum Oberbürgermeister gewählten Martin Kirschner seine Bestätigung für dieses Amt überraschend mündlich mitzuteilen. Gelassen hatte Kirschner in den vergangenen 18 Monaten des Interregnums nach dem ihm zugeschriebenen geflügelten Wort: "Ich kann warten" die Amtsgeschäfte geführt.

Nach Bismarcks "Ausscheiden aus dem Amt wurde die Spannung zwischen dem roten Rathaus, das immer röter wurde, und dem nahegelegenen Königsschloß zeitweilig so stark, daß man unter Wilhelm II. daran gedacht hat, wieder den alten Plan der unmittelbaren staatlichen Lenkung der Stadt zu verwirklichen". Das Votum des Magistrats und der Stadtverordneten sowie der beiden Bürgermeister Zelle und Kirschner für die Instandsetzung des Friedhofs der Märzgefallenen von 1848 im Jahre 1898 hat sicherlich diese Absicht des Kaisers zusätzlich genährt. Wenn man auch den folgenschweren Eingriff unterließ, so wurden doch -wie schon in den Jahren zuvor - immer wieder Versuche unternommen, die Selbstverwaltungsrechte der Stadt zu unterhöhlen, was jedoch von Kirschner trotz seines "monarchischen Herzens" mit Unterstützung vom Kollegium des Magistrats und der Stadtverordneten energisch abgewehrt wurde.

Martin Kirschner, Sohn eines Arztes, war wie seine Vorgänger Jurist. Er hatte in Breslau (heute Wroclaw), Heidelberg und Berlin studiert, war danach Kreisrichter in Nakel bei Bromberg (heute Bydgoszcz) und Rechtsanwalt in Breslau. Er heiratete 1872 Margarethe Kalbeck, die Tochter eines Wiener Schriftstellers. Der Sohn, der als Chirurg einen Namen erlangte, und die vier Töchter wurden in den Jahren 1873 bis 1888 geboren. Martin Kirschner wurde 1881 in die Breslauer Stadtverordnetenverammlung gewählt und 1887 deren stellvertretender Vorsitzender. Max von Forckenbeck, der ihn in Breslau kennen- und schätzengelernt hatte, schlug ihn den Berliner Stadtverordneten als möglichen Nachfolger für das Amt des Bürgermeisters vor, die ihn dann auch 1893 zum zweiten Berliner Bürgermeister wählten. Nach dem Rücktritt von Oberbürgermeister Robert Zelle 1898 waren sich die Berliner Stadtverordneten einig, daß Martin Kirschner, der sich durch Energie, Fleiß, Sachkenntnis, rationellen Arbeitsstil und Engagement für die Stadt ausgezeichnet hatte, der geeignete Nachfolger sei. Die Sozialdemokraten hatten sich allerdings der Stimme enthalten. Seit 1900 war er - wie für Berliner Oberbürgermeister üblich - Mitglied des Preußischen Herrenhauses, wo er im Kreise der konservativen Mitglieder die Interessen der Stadt vertrat.

Paul Singer und seine sozialdemokratische Fraktion, deren Mitglied auch Karl Liebknecht von 1902 bis 1913 war, setzten den wie auch sein Vorgänger der Freisinnigen Volkspartei angehörenden Martin Kirschner unter Druck, besonders wenn es darum ging, daß dem Kaiser und seinem Hofstaat Zugeständnisse gemacht werden oder Steuergelder nach ihrer Ansicht nicht gerecht und sinnvoll verteilt werden sollten oder wenn der Arbeitslosenfrage - 1897 gab es in Berlin 30 000 Arbeitslose - nicht genügend Beachtung geschenkt wurde.

Doch dieser Streit befruchtete auch die Arbeit des Berliner Parlaments. Und es gab Übereinstimmungen, so z. B. in der Frage der Eingemeindung der Berliner Vororte, die wieder, ungeachtet des Schweigens des Kaisers, auf die Tagesordnung gesetzt wurde. In der vom Magistrat in Auftrag gegebenen und im Dezember 1903 erschienenen "Denkschrift über die Beziehungen zwischen Berlin und seinen Nachbarorten" wurde umfangreiches statistisches Material zusammengetragen und ein Vergleich zu erfolgten Eingemeindungen anderer Städte gezogen. Im "Bericht des Oberbürgermeisters Kirschner an den Minister des Innern vom 3. September 1906", den der preußische Innenminister von Bethmann Hollweg 1905 erbeten hatte, begründete Kirschner seinen im Laufe der Tätigkeit im Berliner Magistrat immer mehr verfestigten Standpunkt, daß "Groß-Berlin als eine wirtschaftliche Einheit eine unabänderliche Tatsache sei, daß für die Verwaltung dieses großen Körpers in irgendeiner Weise eine rechtliche Form geschaffen werden müsse". Nachdem die Regierung sich zu den unter dem früheren Oberbürgermeister Zelle gemachten Vorschlägen nicht geäußert habe, erwarte man nun eine Stellungnahme. Der Bericht belegt Abhängigkeiten zwischen Berlin und seinen Vororten auf allen infrastrukturellen Gebieten: Bebauung, Straßenführung, Gas- und Wasserversorgung, Verkehr, Polizeizuständigkeit, Schulwesen, Armen- und Krankenpflege. Auf das Problem der Steuern eingehend, bemerkte Kirschner, es sei für die Stadt (besonders für den armen Osten) übelständig, daß die vermögende Bevölkerung in besorgniserregender Weise in die westlichen Vororte Charlottenburg, Schöneberg, Wilmersdorf, Steglitz, Friedenau, Zehlendorf, Schmargendorf, Grunewald fortzöge, wo sie große Steuervorteile hätte. Diese Steuergelder gingen Berlin verloren. Wenn diese wünschenswerte Eingemeindung, die beste Form für die organische Entwicklung der Stadt, nicht zustande komme, bleibe nur die Bildung von Zweckverbänden, was eine negative Zersplitterung mit sich bringe.

Als im Januar 1911 endlich ein Gesetzentwurf dem Magistrat und den Stadtverordneten übergeben wurde - die Regierung hatte sich für einen "Zweckvervand Groß-Berlin" entschieden - war er zunächst für Martin Kirschner "unannehmbar". Doch es blieb beim Zweckverband; am 19. Juli 1911 wurde das Gesetz verabschiedet, und am 1. April 1912 trat es in Kraft. Es beinhaltete eine weitgehende Abstimmung über das Verkehrswesen, die Bebauung und den Erhalt der Grünflächen. Unberücksichtigt blieben unter anderem Wohnungswesen, Wirtschaft, Be- und Entwässerung und Stromversorgung. Für Martin Kirschner war diese Lösung ein Kompromiß und ein zeitlich begrenztes Provisorium.

Doch während diese dominierende Frage immer wieder den Oberbürgermeister und die Stadtväter beschäftigte und erst nach Jahren zu dem für Martin Kirschner enttäuschenden Abschluß kam, wurde unter seiner Leitung ein immenses Arbeitspensum bewältigt. Der Haushalt der Stadt verdoppelte sich, was sich positiv auf die Stadtentwicklung auswirkte. Und die Dinge wurden energisch vorangetrieben. Wenn die Sachlage klar war, so drängte er auf schnelle Entscheidungen, um sich auf die nächsten Aufgaben konzentrieren zu können. Unterstützt wurde er von seinen Magistratskollegen, unter anderen vom zweiten Bürgermeister, Dr. Reicke, den Stadträten Bohm, Haack, Heller, Dr. Hirsekorn, Kauffmann, Kochhann, Dr. Münsterberg, Namslau, Dr. Strassmann und Voigt und Stadtbaurat Hoffmann. Der alte Stadtverordnetenvorsteher Dr. Langerhans und sein Nachfolger Michelet leiteten die Sitzungen der Stadtverordneten, auf denen die Magistratsvorlagen diskutiert und beschlossen bzw. abgelehnt wurden und über Anträge der Stadtverordneten befunden wurde.

In den Jahren seiner Amtszeit als Oberbürgermeister nahm das Verkehrswesen einen entscheidenden Aufschwung: Die erste Berliner U-Bahnstrecke wurde 1902 eingeweiht, die Erweiterung des U- bzw. Hochbahnnetzes geplant, und seit 1905 gab es den öffentlichen Autobusverkehr. Das Straßenbahnnetz wurde erweitert, wobei es zu Streitigkeiten um die Verlängerung der Konzession für die Große Berliner Straßenbahn kam, die die königliche Regierung ohne Wissen des Magistrats und der Stadtverordneten auf 90 Jahre verlängert hatte. Kirschner leistete als Vorsitzender der Verkehrsdeputation (Verkehrsausschuß) eine intensive Arbeit und trat entschieden dafür ein, die Verkehrsbetriebe nach Ablauf der Verträge in das Eigentum der Stadt zu überführen, um unabhängig zu sein und der Stadt eine wichtige Einnahmequelle zu erschließen. Wirtschaftlich bedeutsam war auch der Bau des Osthafens. Von 1897 bis 1917 erfolgte der Neu- und Ausbau der Charité, 1904 wurden das von Ernst von Ihme gebaute und von Wilhelm von Bode gegründete Kaiser-Friedrich-Museum und der Berliner Dom, gebaut von Julius Raschdorff, und 1908 der von Stadtbaurat Ludwig Hoffmann errichtete Bau des Märkischen Museums eingeweiht. Nach anfänglichem Widerstand hatte sich Kirschner auch für den Bau der Staatsbibliothek (ebenfalls Ihme) ausgesprochen, die in den Jahren von 1903 bis 1914 errichtet wurde.

Aber immer wieder wurde versucht, das Selbstverwaltungsrecht der beiden Berliner Verwaltungsgremien zu beschneiden: sei es beim Märchenbrunnen, gegen dessen Entwurf der Kaiser künstlerische Einwände erhob, sei es, daß der Oberpräsident dem Magistrat und den Stadtverordneten die Zuständigkeit zum Beispiel bei Anträgen an den Reichstag absprach oder daß der Polizeipräsident seine Macht demonstrierte. Als 1910 auch das Berliner Stadtparlament zur Wahlrechtsreform, die schon vor 60 Jahren auch von Bismarck gefordert wurde, der das Dreiklassenwahlrecht als das elendeste aller Wahlsysteme bezeichnet hatte, debattierte, schickte der Polizeipräsident trotz Ablehnung Kirschners ein Schutzkommando ins Rathaus, um gegen eventuelle Menschenansammlungen einschreiten zu können. Kirschner ersuchte daraufhin die Polizei, das Haus zu verlassen, da für den Einsatz keine Notwendigkeit bestehe. Die Polizisten folgten der Aufforderung. Kirschner versuchte - vor allem mittels sachlicher Argumente und eines realpolitischen Standpunkts - diese Eingriffe in die Kompetenz der Berliner Verwaltung zurückzuweisen.

Nach Ablauf seiner 12jährigen Amtszeit als Oberbürgermeister im Dezember 1911 nochmals für dieses hohe Amt gewählt, mußte er aus gesundheitlichen Gründen jedoch im folgenden Frühjahr seinen Rücktritt beantragen. Ende August 1912 schied er - ausgezeichnet mit der Ehrenbürgerwürde Berlins - aus dem Amt aus. Am 13. September 1912 verstarb Martin Kirschner in seinem Ferienort Ehrwald in Tirol an Herzversagen. Sein Wunsch, ohne große Nachrufe und Ehrungen beigesetzt zu werden, entsprach der Bescheidenheit dieses verdienstvollen Mannes. Seine Grabstätte befindet sich auf dem Zentralfriedhof in Berlin-Friedrichsfelde.

 

© Edition Luisenstadt, 1998
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