Dr. Heinrich Sahm

* 12. 09. 1877 in Anklam
+ 03. 10. 1939 in Oslo
Bildnis Heinrich Sahm
Oberbürgermeister
vom 14. 4. 1931 bis 18. 12. 1935

Mit Dr. Heinrich Sahm ging ein Oberbürgermeister in die Kommunalgeschichte Berlins ein, dessen Lebensweg die ganze Tragik eines Mannes offenbart, der sich von einem diktatorischen Regime als willfährige Marionette für dessen verbrecherische Machtgelüste mißbrauchen ließ.

Heinrich Sahm - ein streng konservativer, aber höchst integrer und hohe Reputation genießender Politiker - war das letzte demokratisch gewählte Stadtoberhaupt Berlins, bis 1933 Hitlers Nationalsozialisten die Weimarer Republik beerdigten und Deutschland und Europa mit Terror und Tyrannei überzogen. Sahm hat diesen Wechsel auf kommunaler Ebene in Berlin mitvollführt und sich widerstandslos zum Instrument der neuen Herrscher machen lassen. Er fand nicht die Kraft, dem Regime seine Mitwirkung zu versagen. Sein Verständnis vom Amte wurzelte - unabhängig von politischen Konstellationen - in der urpreußischen Tradition von Treue, Redlichkeit und Pflichterfüllung. Er sah sich nicht als Vollstrecker eines Parteiwillens, sondern glaubte, auch unter den neuen Umständen als Diener und Sachwalter der Interessen Berlins fungieren zu können.

Heinrich Sahm wurde am 12. September 1877 in dem Städtchen Anklam in Vorpommern als Sohn eines Kurzwarenhändlers geboren. Nach dem Abitur studierte er in München, Berlin und Greifswald Rechts- und Staatswissenschaften. Seine berufliche Laufbahn eines höheren Verwaltungsbeamten begann 1905 zunächst in Stettin (heute Szczecin), wo er als Magistratsassessor tätig war. Ein Jahr später übernahm er in Magdeburg den Posten eines Stadtrats und wechselte nach sechsjähriger dortiger Tätigkeit ins Ruhrgebiet, wo er in Bochum zum zweiten Bürgermeister aufstieg. 1915 sollte ihn sein Weg wieder in Richtung Osten führen. Das Reichsamt des Inneren schickte ihn in die eroberte Stadt Warschau, wo er in der Verwaltung vorrangig mit Fragen der Lebensmittelversorgung befaßt war. Nach einem kurzen Intermezzo als Geschäftsführer des Preußischen und Deutschen Städtetages im zweiten Halbjahr 1918 erweiterte sich das Arbeitsgebiet Sahms beträchtlich. Zu seinen Aufgaben als Kommunalpolitiker kamen außenpolitische hinzu. Er wurde im Februar 1919 Oberbürgermeister der vom Deutschen Reich abgetrennten und dem Völkerbund unterstellten Freien Stadt Danzig (heute Gdansk) und knapp zwei Jahre später Präsident des Senats der Ostseestadt. Sahm avancierte zu einer international bekannten Persönlichkeit. Ende der 20er Jahre geriet er jedoch mit seiner auf Ausgleich gerichteten Politik, seinem Taktieren als Parteiloser zwischen den verschiedenen politischen Strömungen zunehmend in die Schußlinie rechtsnationaler Kräfte und mußte schließlich 1930 seinen Hut nehmen.

Nach seinem Weggang aus Danzig wollte sich Sahm in der Privatwirtschaft niederlassen. Da wurde in Berlin ein neuer Oberbürgermeister gesucht, amtierte doch der Amtsinhaber Arthur Scholtz seit anderthalb Jahren nur kommissarisch. Die Sprache kam auch auf Sahm, doch der zeigte zunächst keine sonderlichen Ambitionen, war er doch nicht bereit, mit der SPD und der KPD, die zu dieser Zeit gemeinsam die Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung stellten, zusammenzuarbeiten. Statt dessen liebäugelte er eher mit dem ebenfalls neu zu besetzenden Posten eines Oberbürgermeisters von Dresden. Nur unter der Bedingung, daß ihn alle Parteien regelrecht darum baten und die SPD keinen Gegenkandidaten aufstellte, war er zu einer Kandidatur bereit.

Die Zurückhaltung Sahms war verständlich. Die tiefen politischen, gesellschaftlichen und sozialen Probleme, die sich im Reich im Laufe der letzten Jahre angehäuft hatten, spiegelten sich in Berlin wie in einem Brennglas. Die Weltwirtschaftskrise schlug mit voller Wucht auch in Deutschland durch. Mit der Zeit des Aufschwungs auf allen Gebieten war es vorbei, die wirtschaftliche Depression schüttelte die Stadt, Armut erfaßte breite Teile der Bevölkerung der Vier-Millionen-Metropole. Parteien nutzten die Situation, um ihren politischen Einfluß weiter auszubauen. So hatten zum Beispiel die Kommunisten bei den Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung im November 1930 ein Plus von 13 Mandaten verbuchen können; die NSDAP war erstmalig ins Rathaus eingezogen.

Am 14. April 1931 wurde Heinrich Sahm im ersten Wahlgang zum Oberbürgermeister von Berlin gekürt. Mit 110 Stimmen machte er das Rennen gegen die beiden Mitbewerber, den Kommunisten Wilhelm Pieck und den Deutschnationalen Wilhelm Steiniger. Bei seiner Antrittsrede beschwor er alle Versammelten, "nicht allzu sehr in die Vergangenheit [zu] schauen und nach begangenen Sünden und ... Sündenböcken [zu] suchen", sondern vielmehr "den Blick vorwärts in die Zukunft zu richten". Doch aller vorwärtsdrängender Elan konnte an der ausweglosen Situation, in der sich Berlin befand, nichts ändern. Auch ein zwei Wochen zuvor beschlossenes neues Berlin-Gesetz, das den Oberbürgermeister quasi zum Führer der Verwaltung machte und ihn mit beträchtlichen Vollmachten ausstattete, vermochte seinen Handlungsspielraum nur wenig zu vergrößern. Die Finanznot war einfach erdrückend und ließ keinen Raum für irgendwelche Unternehmungen. Die Schulden der Stadt hatten sich Anfang 1931 auf über 600 Millionen Reichsmark summiert, es drohte Zahlungsunfähigkeit, Auslandsanleihen scheiterten, 450 000 Arbeitslose und 160 000 Fürsorgeempfänger strapazierten die Kassen der Stadt in einem enormen Maße. Die Verabschiedung eines Haushalts gestaltete sich außerordentlich schwierig, schließlich gab es nichts mehr zu verteilen. Erschwerend kam hinzu, daß bestimmte in der Stadtverordnetenversammlung vertretene Parteien in Ausnutzung der existierenden Mehrheitsverhältnisse versuchten, die zugegebenermaßen unpopulären Versuche zu Fall zu bringen, durch Anhebung von Tarifen und Steuern das Haushaltssäckel zu füllen und eine Gesundung der Finanzen zu erreichen.

Angesichts der desolaten Lage gelangte die Kommunalpolitik immer mehr in den Hintergrund, Berlin hing am Tropf des Reiches. Der Weg in die Katastrophe schien unausweichlich. Hitler war seit dem 30. Januar 1933 Reichskanzler; bei den Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung im März selbigen Jahres konnten die Nationalsozialisten 38 Prozent für sich verbuchen. NSDAP-Fraktionsvorsitzender Dr. Julius Lippert sah nun die Zeit für gekommen, "aufzuräumen". Bald sollte er dazu Gelegenheit bekommen. Am 15. März 1933 wurde er im Range eines Staatskommissars dem Oberbürgermeister "zur Seite gestellt". Damit war der Oberbürgermeister faktisch entmachtet. Sein Amt verkam zur Farce, politische Entscheidungsbefugnisse hatte er kaum noch. Der Staatskommissar war über alle wesentlichen Entscheidungen des Oberbürgermeisters, des Magistrats, der Stadtverordnetenversammlung und des Stadtgemeindeausschusses zu informieren und konnte dagegen Einspruch erheben.

Das Schicksal der kommunalen Selbstverwaltung Berlins war endgültig besiegelt. Folgerichtig begann nun eine gründliche Umorganisierung der Verwaltung des Magistrats und der Stadtbezirke. Seit September 1933 hielten die Stadtverordneten überhaupt keine Sitzungen mehr ab. Demokratisch zustandegekommene Vertretungskörperschaften wurden zerschlagen. Ein neu geschaffener, aus 45 Ratsherren bestehender, von NSDAP-Gauleiter Goebbels vorzuschlagener Gemeinderat hatte nur beratende Funktion und war völlig bedeutungslos. Stadträte wurden mit wenigen Ausnahmen durch linientreue Kader ersetzt, jüdische, des Marxismus oder anderweitig verdächtigte Beamte in die Wüste geschickt.

Sahm selbst abzulösen, wagten die neuen Herren noch nicht. Dessen gute Beziehungen zu Reichspräsident Hindenburg mögen dabei wohl eine Rolle gespielt haben. Sahm "durfte" nun die Entlassungsurkunden für all diejenigen unterschreiben, die jetzt "nicht mehr tragbar" waren, und die Anforderung ausgeben, neue Bewerber müßten die Gewähr bieten, "jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat" einzutreten. Immer noch sah er keinen Anlaß, dieser entwürdigenden Demontage seines Amtes durch einen Rücktritt zu entgehen. Auch nicht, als weitere Gesetze die Stellung Lipperts weiter festigten, ihm als "unmittelbarem Organ des Ministerpräsidenten" die Aufsicht über sämtliche kommunalen Angelegenheiten der Stadt übertragen wurde und schließlich auch noch der Oberpräsident von Brandenburg seine Kompetenzen in bezug auf Berlin an Lippert abgeben mußte.

Einen Fortschritt hinsichtlich der Stellung Berlins brachte das "Gesetz über die Verfassung der Hauptstadt Berlin" vom 29. Juni 1934. Darin wurde die Gemeinde Berlin als Reichs- und Landeshauptstadt festgeschrieben und dem Oberbürgermeister die Rolle eines "Leiters der Hauptstadt Berlin" zuerkannt. Wenn das Gesetz auch die Funktion des Oberbürgermeisters spürbar stärkte, so war es doch nicht dazu gedacht, die Position Sahms zu heben, sondern um spätere Entwicklungen vorzubereiten. Sahm hatte als eine international anerkannte Persönlichkeit an der Spitze der Stadt ausgedient; nun sahen die braunen Machthaber die Zeit für gekommen, sich seiner völlig zu entledigen.

Als das subtile Mittel, seine Person fortan in der Öffentlichkeit totzuschweigen, bei Sahm keinen Eindruck hinterließ, griff man zum Groben. Genüßlich wurde ausgeschlachtet, daß seine Ehefrau bei einer Spende für karitative Zwecke aus Versehen statt guter Kleidung einen Karton mit Lumpen abgegeben hatte. Selbst die daraufhin einsetzende Diffamierungskampagne konnte Sahms Beharrungsvermögen nicht erschüttern. Da holte die NSDAP zum entscheidenden Schlag aus. Unter dem Vorwurf, Frau Sahm und er selbst hätten bei Juden eingekauft, wurde gegen ihn, der im November 1933 in die NSDAP eingetreten war, ein Ausschlußverfahren eingeleitet. Und selbst da versuchte Sahm noch, sich zu rechtfertigen. Erst als die Rivalitäten und Kompetenzstreitigkeiten mit Lippert wohl ein unerträgliches Maß erreicht hatten, legte er am 9. Dezember 1935 sein Amt nieder, nicht aber ohne sich vorher versichert zu haben, daß er auch weiterhin im Reichsdienst Verwendung finden würde.

Fortan sollte die Diplomatie wieder sein Betätigungsfeld werden. Außenminister von Neurath übertrug ihm den Posten eines Gesandten in Oslo, wo er sich bei den norwegischen Behörden allerseits großes Ansehen erwarb, da er nicht als ein fanatischer Parteigänger der Nazis galt. Mit seinen nicht gerade nazifreundlichen Berichten fiel Sahm jedoch beim neuen Außenminister von Ribbentrop, der von Neurath inzwischen abgelöst hatte, zunehmend in Ungnade. Als er deswegen beurlaubt wurde, kämpfte er wieder wie ein Löwe um seine weitere Verwendung im auswärtigen Dienst. Ihm blieb es erspart, den Ausgang des Ringens abzuwarten. Eine verschleppte Blinddarmentzündung setzte seinem Leben am 3. Oktober 1939 in Oslo ein jähes Ende.

 

© Edition Luisenstadt, 1998
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