* 11. 04. 1873 in Gießen
+ 06. 02. 1946 in Bernried (Starnberger See)
Oberbürgermeister
vom 20. 1. 1921 bis November 1929
Gustav Böß wurde am 11. April 1873 als Sohn eines Prokuristen in Gießen geboren. Nach dem Besuch des Realgymnasiums studierte er in seiner Heimatstadt Jura und Volkswirtschaft. Seine berufliche Tätigkeit begann im hessischen Finanzdienst, aus dem er später zur preußisch-hessischen Eisenbahnverwaltung wechselte. 1910 wurde er Verkehrsstadtrat in Schöneberg und hatte in dieser Funktion großen Anteil an der Lösung der schwierigen Großberliner Verkehrsprobleme jener Zeit. Aufgrund seiner fachlichen Kompetenz und seiner organisatorischen Fähigkeiten wurde er 1912 auf Vorschlag der Liberalen zum Kämmerer der Stadt Berlin gewählt. Dieses Amt stellte sehr hohe Anforderungen an ihn. Zum einen strapazierten vor allem die Kriegs- und Nachkriegsjahre in hohem Maße die städtischen Finanzen, zum anderen war unter den Bedingungen der nachfolgenden Inflation eine gesunde Haushaltsführung kaum möglich.
Als engagierter und geschickter Kommunalpolitiker wurde Gustav
Böß am 20. Januar 1921 zum Berliner Oberbürgermeister
gewählt. Er war von Anfang an Befürworter der Einheitsgemeinde
Berlin und eines starken Zentralismus gewesen und mußte
nun eine einheitliche Groß-Berliner Verwaltung aufbauen
und einen arbeitsfähigen Magistrat schaffen. Diese Herausforderung
war in mehrfacher Hinsicht problematisch. Viele Stadträte
im Magistrat und in den Bezirksämtern verfügten kaum
über praktische Erfahrungen in der Verwaltungsarbeit. Der
Magistrat war kollegial organisiert, so daß der Oberbürgermeister
sich einem Mehrheitsbeschluß unterordnen und diesen aber
gleichzeitig verantworten mußte. Zu den wenigen Korrekturen,
die Böß in diesem Zusammenhang erreichen konnte, zählte
1925 die Verringerung der Zahl der Magistratsmitglieder von 30
auf 22.
Die im Berlin-Gesetz verordnete Verwaltungsdezentralisation stellte
einen Dauerkonflikt dar, da die Kompetenzen zwischen Zentral-
und Bezirksverwaltungen von Beginn an umstritten waren. Vergeblich
versuchte Gustav Böß den Einfluß und das Gewicht
der Bezirksverwaltungen zurückzudrängen.
Dennoch hat die Stadt Berlin seiner Amtstätigkeit eine Reihe von Errungenschaften zu verdanken. In den 20er Jahren setzte die gezielte Förderung des Spiel- und Sportstättenbaus ein. Das von Gustav Böß im Februar 1922 vorgelegte Programm zur Schaffung von Parks, Spiel- und Sportplätzen wurde unter anderem auch durch Spenden aus der Wirtschaft finanziert, was ihm später auch den Vorwurf unzulässiger Verquickung von amtlichen und geschäftlichen Interessen eintrug. Zahlreiche Großsportanlagen entstanden, darunter das Poststadion, die Sportplätze in Charlottenburg, am Rande des Grunewaldes und im Volkspark Jungfernheide, der Dominicus-Sportplatz im heutigen Sportzentrum Schöneberg und das Mommsenstadion. 1927 besaß Berlin insgesamt 160 städtische Sportplätze.
Mit gleichem Engagement sorgte sich Gustav Böß um die Kunstpflege. Er übernahm den Vorsitz in der Kunstdeputation (Kunstausschuß), rief die seit 1924 regelmäßig veranstalteten Rathauskonzerte zur Förderung junger Künstler ins Leben und trat für die Umwandlung des zusammengebrochenen "Deutschen Opernhauses" in eine Städtische Oper ein.
Eine entscheidende Voraussetzung für die Beseitigung der sozialen Mißstände sah Böß in der Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Stadt. Zahlreiche, in seiner Amtszeit eingeführte Maßnahmen sollten Berlin neue Impulse geben. So wurde zum Beispiel die Stadt in den 20er Jahren zu einem Messe- und Ausstellungsort ausgebaut. 1926 fand erstmals in Berlin die "Grüne Woche" statt. In der Förderung des Messe- und Ausstellungswesens sah Böß einen wesentlichen Faktor für die zukünftige Wirtschaftsentwicklung der Stadt.
Daneben sollte auch eine vorausschauende Verkehrspolitik zum wirtschaftlichen Wachstum Berlins beitragen. Als Ergänzung zum überlasteten Reichsbahn-Güterverkehr trieb Böß eine Kapazitätserweiterung der Berliner Hafenanlagen voran. Konsequent setzte er sich für den Ausbau des Tempelhofer Feldes zu einem modernen Flughafen ein und schuf somit Voraussetzungen, daß Berlin sich in den 30er Jahren als Luftkreuz Europas präsentieren konnte. Die U-Bahn und der Omnibusverkehr wurden in städtischen Besitz überführt. Gleichzeitig erfolgte ein Ausbau des Streckennetzes.
Ein weiteres Betätigungsfeld des Stadtoberhauptes war die Wohlfahrtspflege. Böß erkannte, daß die öffentlichen Mittel der Kommune bei weitem nicht ausreichten, um die schlechten Lebensverhältnisse breiter Bevölkerungsschichten zu verändern. Wie schon im Sport- oder Kunstsektor versuchte er auch hier, an die soziale Verantwortung der bürgerlichen Gesellschaft zu appellieren. Durch Spenden aus Kreisen der Wirtschaft konnte ein Hilfsfonds eingerichtet werden, der dem Oberbürgermeister zur individuellen Fürsorge diente.
Am 23. September 1929 weilte Gustav Böß in New York, wo er die Ehrenbürgerschaft der Stadt erhielt. Noch während seiner Abwesenheit wurde vier Tage später der Sklarek-Skandal bekannt, der sich verhängnisvoll für den Oberbürgermeister auswirken sollte. Die Brüder Sklarek, beide Textilhändler, hatten sich illegal ein Belieferungsmonopol für Krankenhäuser und Fürsorgeeinrichtungen verschafft und Kreditbetrug begangen. Auch verschiedene Politiker und Beamte hatten bei der Firma ihren Bekleidungsbedarf stark verbilligt oder kostenlos gedeckt. Die Kampagne erreichte ihren Höhepunkt, als bekannt wurde, daß Frau Böß 1928 durch Vermittlung der Sklareks einen kostbaren Pelz erworben hatte, für den nur ein Bruchteil des tatsächlichen Preises in Rechnung gestellt wurde. Zurück in Berlin, beantragte Gustav Böß die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen sich und bis zu dessen Beendigung seine Beurlaubung. In der Presse erschien am 6. November 1929 eine Erklärung von ihm, in der er seine Handlungsweise als unvorsichtig bezeichnete, sich aber von einer rechtlichen und sittlichen Schuld freisprach.
1930 zur Dienstentlassung verurteilt, ließ sich Gustav Böß
in den Ruhestand versetzen. Drei Jahre später rollten die
Nationalsozialisten den Fall erneut auf. Böß wurde
festgenommen und neun Monate in Einzelhaft gehalten. Aus der Haft
entlassen, ging er 1934 nach München und von dort an den
Starnberger See, wo er am 6. Februar 1946 verstarb.
© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de