* 14. 07. 1812 in Minden
+ 09. 01. 1873 in Berlin
Oberbürgermeister
vom 12. 01. 1863 bis 01. 04. 1872
Mit Karl Theodor Seydel geht ein Oberbürgermeister in die Geschichte Berlins ein, dessen Name für immer damit verbunden ist, die Entwicklung einer eher miefigen und ärmlichen Stadt in Preußen zu einer modernen Großstadt des kommenden Kaiserreiches entscheidend mitgeprägt zu haben. Vieles, was seit Jahrzehnten als ganz normale urbane Errungenschaft gilt, geht in seinem Ursprung auf seinen unermüdlichen Einsatz dafür zurück, die Lebensqualität in einer aufstrebenden Metropole an gewachsene Ansprüche anzupassen. Welcher Berliner weiß heute noch, daß es Seydel war, der beispielsweise den Anstoß dafür gegeben hat, daß so etwas Selbstverständliches wie eine Kanalisation in der Stadt angelegt wurde? Und wem ist bei einem Spaziergang im Treptower Park oder im Humboldthain schon bewußt, daß die Anlage dieser beiden Grünlandschaften seiner Initiative zu verdanken ist? Er war kein Mann parteipolitischer Ränkespiele und Fingerhakeleien. Nur der Fortschritt der Stadt galt ihm, dem stets vorwärtsdrängenden obersten Beamten der Stadt, als Triebkraft seines Handelns. Noch mehrere Oberbürgermeister nach ihm waren damit beschäftigt, das zu vollenden, was Karl Theodor Seydel bereits in Gedanken vorgezeichnet und konzipiert hatte.
Umfassende wissenschaftliche Bildung und große Erfahrungen in der Regierungs- und Verwaltungsarbeit sind unentbehrliche Voraussetzungen, die Karl Theodor Seydel für das schwierige Amt des Oberbürgermeisters einer Hauptstadt mitbringt. Sein bisheriger Lebenslauf legt beredtes Zeugnis davon ab. Dabei ist Seydel gar kein Berliner. Der am 14. Juli 1812 in Minden geborene Sohn eines Gutsbesitzers besucht die Schule in Köln, legt 1829 das Abitur ab und beginnt danach ein staatswissenschaftliches Studium im ostpreußischen Königsberg (heute Kaliningrad). Wieder zurück in seiner Heimatstadt, leistet er seinen Militärdienst beim dortigen Landwehrregiment ab und arbeitet anschließend als Referendar im Verwaltungsdienst. Nebenbei betreibt er umfangreiche Studien der Philosophie und Philologie und beschäftigt sich mit Literatur, Kunst und Technologie. Nach dem Assessorexamen, das er im Februar 1839 ablegt, wird er zunächst bei der preußischen Bezirksregierung in Minden angestellt und bald darauf nach Posen (heute Poznan) versetzt. 1842 beginnt seine Berliner Zeit mit der Arbeit im Finanzministerium. Sie wird unterbrochen durch eine Strafversetzung zur Regierung nach Oppeln (heute Opole), weil er es gewagt hatte, in als regierungsfeindlich eingestuften Presseorganen zu publizieren. Im Spätsommer ist er wieder zurück in Berlin. Sein beruflicher Aufstieg verläuft kontinuierlich: Er wird zum Geheimen Oberfinanzrat befördert und ist im Finanzministerium zuständig für Geld- und Kreditangelegenheiten und das Münzwesen. 1859 wechselt er als Regierungspräsident ins süddeutsche Sigmaringen. Die unter Herrschaft der Hohenzollern stehende dortige Region war preußisch geworden, und Seydel entledigt sich mit großem Geschick der Aufgabe, den Schwaben die preußische Auffassung von den Dingen nahezubringen. Aber auch fernab von Berlin gerät der tüchtige Seydel nicht aus dem Blickfeld der hauptstädtischen Verwaltung. Als Oberbürgermeister Krausnick 1862 zurücktritt, schlagen ihn die Stadtverordneten Berlins als Amtsnachfolger vor. Doch Seydel hatte sich in Sigmaringen mittlerweile gut eingerichtet, und so hält sich sein Entzücken sehr in Grenzen, als er den Ruf ins oberste Amt der Stadt an der Spree vernimmt. Erst als im Ergebnis einer langen Diskussion die Entscheidung über die von ihm in der neuen Position zu erwartenden Dienstbezüge zu seiner Zufriedenheit ausfällt, willigt er in den Umzug ein. Schließlich wird er am 15. Mai 1862 mit 74 Ja-Stimmen von insgesamt 91 zum Oberbürgermeister gewählt. Nach nochmaligem Überdenken seiner finanziellen Situation nimmt er schließlich am 22. Mai die Wahl an. Bis zur offiziellen Einführung in das neue Amt sollten allerdings nochmals fast acht Monate vergehen. Sie findet am 12. Januar 1863 statt.
Seydel war sich bewußt, daß ihm schwierige Zeiten bevorstanden. Von seinem Amtsvorgänger Krausnick waren in den letzten Jahren kaum noch Impulse dafür ausgegangen, diese Stadt an die neuen Anforderungen einer aufstrebenden preußischen Metropole und zukünftigen Reichshauptstadt heranzuführen. In vielen Bereichen war die Entwicklung stagniert, der Anschluß an eine moderne Stadtentwicklung verpaßt. Zeitgenössische Beobachter, die Berlin mit anderen Städten, vor allem in Süddeutschland, verglichen, beklagten in ihren Schilderungen das geradezu ärmliche Bild, das Berlin zu jener Zeit bot.
Tiefgreifende politische Konflikte zwischen der preußischen Staatsregierung und dem Landtag, die auf das gesamte öffentliche Leben abfärben, machen Seydel das Leben zusätzlich schwer. Er muß mitansehen, wie auch die Stadtverordnetenversammlung zunehmend in den Sog parteipolitisch geprägter Gegensätze gerät; der Streit über politische Auffassungen überlagert das Ringen um sachbezogene Lösungen. Seydel, bei den Liberalen als konservativ verschrien, ist jegliches parteipolitische Gezerre zuwider. Daran Energien zu verschwenden, empfindet er als unersprießlich für die Interessen der Stadt. Dennoch kann er nicht verhindern, daß er mit seinem Bestreben, immer wieder die Initiative zu ergreifen und Impulse zu geben, selbst ins Zentrum der Auseinandersetzungen gerät. Mit seinem Schwung und seinem Tatendrang stört er die Kreise bestimmter Kräfte in der liberalen Fraktion der Stadtverordnetenversammlung, die sich mit eigenen Aktionen selbst gern in Szene setzen möchten. Es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen, viele Ideen kann Seydel erst nach erbitterten Kämpfen durchsetzen. Er selbst leidet sehr unter diesen Querelen. Sogar der Familienfrieden bleibt davon nicht unberührt; das Verhältnis zu seinem Schwager, dem Stadtverordneten Rudolf Virchow, ist zeitweise gestört. Erst 1966, als die Regierung ihren Frieden mit dem Landtag macht, bessert sich die Situation.
Dennoch packt der neue Oberbürgermeister unbeirrt und mit nicht versiegendem Elan die Aufgaben an. Eines der drängendsten Probleme steigt ihm bei jedem Rundgang durch die Stadt im wahrsten Sinne des Wortes in die Nase: die unzureichende Beseitigung der Hausabwässer und Fäkalien. Überall ergießt sich übelriechende Flüssigkeit in die Rinnsteige, Unrat versperrt die Hofeinfahrten. So bleibt es seine wohl größte Leistung, beharrlich darauf hingearbeitet und alles vorbereitet zu haben, um diesem Übel durch die Anlage eines Kanalisationssystems abzuhelfen. Neun Jahre sollten sich die Verhandlungen der städtischen Behörden darüber hinziehen; die Wahl der wohl geeignetsten Methode zur Entfernung des Schmutzwassers und des Unrats beschäftigte die Diskussion breitester Kreise. 1869 schließlich konnte Baumeister Hobrecht damit beginnen, das Unternehmen zu projektieren. Die förmliche Beschlußfassung des Magistrats über die Anlage der Kanalisation sollte Seydel allerdings nicht mehr erleben. Sie erfolgte erst kurz nach seinem Tode in Jahre 1873.
Auch in anderen Bereichen wurden dringend Lösungen gesucht, die den Anforderungen einer aufstrebenden Großstadt entsprachen. Das Verkehrswesen war nicht auf der Höhe der Zeit, das System der gesundheitlichen Betreuung verlangte nach Reformen, im Schulwesen galt es, neue Maßstäbe zu setzen, ja sogar die Feuerwehr mußte neuzeitlich umstrukturiert werden. Überall packt Seydel an. So gelingt es ihm, das Fließen des innerstädtischen Straßenverkehrs dadurch entscheidend zu verbessern, indem die alten hölzernen Spreebrücken, die jedesmal, wenn ein Kahn durchfuhr, hochgezogen werden mußten, durch moderne, künstlerisch gestaltete, den Straßen- und Schiffsverkehr nicht mehr behindernde Brücken ersetzt wurden. Als 1865 die Stadtmauern fallen, sorgt er dafür, daß an ihre Stelle großzügig angelegte Ringstraßen treten. Auch den innerstädtischen Nahverkehr - bislang ebenfalls kein Musterbeispiel für moderne Personenbeförderung - bringt er im wahrsten Sinne des Wortes auf Trab. Vielerlei Störmanövern zum Trotz setzt er durch, daß erstmalig eine Pferdebahn-Linie den Verkehr aufnimmt. Neue Wege im Gesundheitswesen tragen ebenfalls die energische Handschrift Seydels. Er wälzt medizinische Fachliteratur und berät sich mit Fachleuten, um eine Verbesserung der ärztlichen Versorgung zu erreichen. Das Ergebnis ist im Dezember 1867 ein Beschluß des Magistrats zum Bau des ersten großen städtischen Krankenhauses am Friedrichshain. 1869 erfolgt der Ankauf des Gutes Dalldorf. Dort wird die erste psychiatrische Einrichtung der Stadt untergebracht. Seydel, ein Mann, der sich stets um umfassende Bildung bemühte, fällt natürlich auch auf, daß es im Schulwesen nicht gerade zum Besten steht. Und wieder setzt er sein ganzes Engagement ein, um auch auf diesem Gebiet Verbesserungen herbeizuführen. Er sorgt für den Bau ausreichender und gut ausgestatteter Gemeindeschulen, Realschulen entstehen ebenso wie Schulen für höhere Töchter. Dem Turnunterricht gilt seine Förderung; 1864 entsteht in der Prinzenstraße die erste große Turnhalle.
Überhaupt hatte bei Seydel das Bemühen um das Wohlbefinden des Menschen einen großen Stellenwert. So ist auch sein Engagement zu erklären, dafür zu sorgen, daß die Einwohnerschaft Gelegenheit hat, sich zu erholen. In der Schaffung von ausgedehnten Parkanlagen sieht er ein wichtiges Element, dem Rechnung zu tragen. Bislang war der Tiergarten die einzige große Erholungsstätte ihrer Art, aufgrund ihrer Lage war sie im wesentlichen aber nur den Bewohnern der westlichen Stadtteile von Nutzen. So initiiert er 1864 bzw. 1865 - sicherlich zur Freude der Berlinerinnen und Berliner bis auf den heutigen Tag -den Beschluß zur Anlage des Treptower Parks und des Humboldthains.
In die Amtszeit Seydels fällt auch die Fertigstellung des neuen Rathauses, des heutigen Roten Rathauses, wenngleich auch die Entscheidung zur Schaffung einer Verwaltungseinrichtung, die den Anforderungen einer großen Metropole genügte, bereits vor seinem Amtsantritt gefällt wurde. Die Grundsteinlegung war am 11. Juni 1861 erfolgt. Seydel kam es zu, die neue Stätte Berliner Administration schrittweise in Betrieb zu nehmen. Am 30. Juni 1865 fand die erste Sitzung des Magistrats im neuen Saal statt, am 6. Januar 1870 tagten zum ersten Mal die Stadtverordneten in ihm.
Als ein zunehmendes Handicap für die weitere Ausführung seines Amtes erweisen sich gesundheitliche Probleme. Unerträgliche Magen- und Rückenschmerzen plagen ihn. Kuren können sein Leiden nicht heilen, sondern nur vorübergehend Linderung bringen. So entschließt er sich Anfang 1872, die Führung des Magistrats aufzugeben. Am 1. April desselben Jahres scheidet er aus dem Amt aus. Sein Gesundheitszustand verschlimmert sich weiter. Am 9. Januar 1873 erlöst ihn der Tod von seinen Qualen.
Seydel wurde auf dem Sankt-Mattäus-Friedhof
an der Großgörschenstraße zur letzten Ruhe gebettet.
Sein Grab existiert jedoch nicht mehr; es wurde 1926 eingeebnet.
Heute erinnert nur noch eine kleine Straße an der der U-Bahnstation
Spittelmarkt an diesen Mann, der sich um Berlin so verdient gemacht
hat.
© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de