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Herbert Mayer
Symbolfigur einer Rebellen- Generation

Rudi Dutschke und die Westberliner Studentenbewegung

Vor 20 Jahren, am 24. Dezember 1979, verstarb mit Rudi Dutschke der wohl bekannteste Führer der Westberliner und westdeutschen Studentenbewegung und außerparlamentarischen Opposition der 60er Jahre.
     Der aus bäuerlichen Verhältnissen stammende, auf die Vornamen Alfred Willi Rudolf getaufte Dutschke wurde am 7. März 1940 in Schönefeld bei Luckenwalde geboren. Christlich erzogen, war er in der Jungen Gemeinde, aber auch in der FDJ aktiv. 1958 legte er in Luckenwalde das Abitur ab. Als begeisterter Sportler – u. a. Dritter bei den DDR- Jugendmeisterschaften im Leichtathletik- Zehnkampf – wollte er Sportjournalist werden. Da er sich weigerte, in der Armee der DDR zu dienen, ging sein Berufswunsch nicht in Erfüllung. So wurde er Industriekaufmann.
     Seit 1960 pendelte Dutschke zwischen seinem Wohnort Luckenwalde und West-Berlin. Hier, im Westen, wollte er studieren; dazu mußte er das Abitur wiederholen, denn das aus der DDR wurde nicht anerkannt.

Nach dem 13. August 1961 blieb er als DDR- Flüchtling in West-Berlin.
     Im Wintersemester 1961/62 begann er an der Freien Universität (FU) mit dem Studium der Soziologie, das er 1968 beendete.
     Der Student Dutschke schloß sich 1963 der sogenannten »Subversiven Aktion« an. Dieser Gruppe gehörten Schriftsteller, Künstler und Studenten an, die gegen Spießigkeit und Obrigkeit rebellieren und handeln wollten: mit Provokationen, Happenings und anderen Aktionsformen.
     Dutschke knüpfte 1964 Kontakte zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), und im Juli 1965 wurde er in dessen Berliner Landesbeirat gewählt.
     Eine wichtige Zäsur für die bundesdeutsche und Westberliner Studentenbewegung war die Jahreswende 1964/65. Am 18. Dezember 1964 fand eine Demonstration statt, mit der gegen den Besuch des kongolesischen Ministerpräsidenten Moise Tshombe, den »Lumumba- Mörder«, wie es auf Plakaten hieß, in West-Berlin protestiert wurde. Sie galt als erste Aktion, mit der die antiautoritäre Bewegung die »Illegalisierung« der Aktionen verwirklichte. An Stelle genehmigter Demonstrationen sollten sie »illegal« durchgeführt werden, um provokatorisch zu wirken und wahrgenommen zu werden. Dutschke wertete sie »als Beginn unserer Kulturrevolution ..., in der tendenziell alle bisherigen Werte und Normen des Etablierten in Frage gestellt werden«.1)
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Das erste »Sitin«, eine neue Form des Protests, fand am 22./23. Juni 1966 statt. Mehr als 3 000 Studenten protestierten gegen den Akademischen Senat und forderten, eine Studienreformkommission zu bilden sowie Hochschule und Gesellschaft zu demokratisieren. Bereits im Mai, als die FU Erich Kuby den Zutritt zu einer Podiumsdiskussion verweigerte und dem Assistenten Krippendorff wegen kritischer Äußerungen kündigte, wurden Unterschriftensammlungen, Vorlesungsstreiks und Demonstrationen für Studentenveranstaltungen auf dem Universitätsgelände organisiert.
      Auf der »Spaziergangs- Demonstration« am 17. Dezember 1966 sollte eine gewaltsame Konfrontation mit der Polizei vermieden werden. Die Demonstranten gingen in kleinen Grüppchen, verteilten nach einem Signal Flugblätter, anschließend wurden die Grüppchen wieder aufgelöst. Dutschke bewertete die Aktion als gelungen, denn sie hätte die »Verwundbarkeit des Systems«2) bewiesen. Er selbst wurde als »Rädelsführer« verhaftet.
     Dutschke organisierte in diesen Jahren viele Protest- Demonstrationen und Aktionen, die sich gegen den Vietnam- Krieg der USA, die Notstandsgesetze, einschränkende Hochschulgesetze und Begrenzungen der Pressefreiheit richteten. Zwischen nationalen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und den Aktivitäten in der Bundesrepublik sah er enge Zusammenhänge. Die Weltkonflikte waren für ihn nicht durch die
Trennung zwischen Ost und West, sondern zwischen industrialisiertem Norden und agrarischem Süden bestimmt. Die erste große Westberliner Kundgebung gegen den Vietnam- Krieg fand am 5. Februar 1966 statt.
     Einen Wendepunkt in der Studentenbewegung markierte der Tod Benno Ohnesorgs. Bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien am 2. Juni 1967 wurde er durch einen Polizisten erschossen.
     Die politisch Verantwortlichen billigten das – später eingestandene unverhältnismäßige – Vorgehen der Polizei, schoben die Schuld den Studenten zu und verhängten Demonstrationsverbote. Angesichts einseitiger Berichte über den Tod Ohnesorgs und über die Studentenbewegung in der Presse entfaltete der SDS seine »Kampagne zur Enteignung des Springer- Konzerns«, zu deren Organisatoren Dutschke gehörte. Die Springer- Presse geriet vor allem auch wegen ihres Meinungsmonopols in West-Berlin und ihrer konservativen Ausrichtung in die Kritik. Ohnesorgs Tod löste die bis dahin größten Protestaktionen der Studenten aus.
     Dutschke war zum führenden Theoretiker der außerparlamentarischen Opposition und antiautoritären Bewegung geworden. Auf dem am 9. Juni 1967 in Hannover stattfindenden Kongreß »Hochschule und Demokratie« sprach er davon, daß die Spielregeln der »unvernünftigen Demokratie« bewußt durchbrochen werden müßten. Er forderte, umgehend »Aktionszentren«3) an
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den Universitäten aufzubauen, die er als Alternative zu den bestehende Organisationsformen und als Katalysator für die Entwicklung des oppositionellen Bewußtseins verstand. Auch sollten Räte als Organe zur Auseinandersetzung mit der Bürokratie gebildet werden. Auf einer SDS- Konferenz im Herbst 1967 betonte er, es dürfe nicht gewartet werden, bis alle objektive Bedingungen für die Revolution vorhanden seien, das subjektive, revolutionäre Bewußtsein sei entscheidend. Am Gründonnerstag 1968, dem 11. April, um 16.30 Uhr, wurde Dutschke in West-Berlin auf dem Kurfürstendamm durch den Rechtsextremisten Josef E. Bachmann mit drei Schüssen aus einem Trommelrevolver angeschossen und lebensgefährlich verletzt. Gegen ihn war zu dieser Zeit eine regelrechte Pogromstimmung entfacht worden, hatte er doch im Februar zu den maßgeblichen Initiatoren der Internationalen Vietnam- Konferenz und -Demonstration in Westberlin gehört. Auf einer vom Senat organisierten Gegenveranstaltung wurden Plakate mitgeführt, auf denen zu lesen war »Dutschke – Volksfeind Nr. 1«, im Treppenaufgang seines Wohnhauses stand »Vergast Dutschke«. Die Studenten betrachten daher das Attentat als »Konsequenz der systematischen Hetze ..., welche Springerkonzern und Senat in zunehmenden Maße gegen die demokratischen Kräfte dieser Stadt betrieben haben«.4) Das Attentat auf Dutschke löste die »Osterunruhen« aus. Noch am Abend des Gründonnerstags versammelten sich 5 000 Demonstranten vor dem Springer- Hochhaus, warfen Steine gegen die Fassade und hißten eine rote Fahne. Die Polizei ging mit Schlagstöcken und Wasserwerfern vor, worauf, angestachelt von einem Agenten des Verfassungsschutzes, Auslieferungswagen in Brand gesetzt und umgeworfen wurden. An den Ostertagen beteiligten sich an den Protesten in der Bundesrepublik und West-Berlin 60 000 Menschen.
     Die Massenproteste zu Ostern und der »heiße Mai« – mit dem Sternmarsch auf Bonn gegen die Notstandsgesetze – sollten der Höhepunkt der Studentenrevolte und der APO sein, ihr Niedergang begann.
     Durch das Attentat auf Dutschke fehlte nicht nur eine Symbol-, sondern auch eine Integrationsfigur der Studenten- und außerparlamentarischen Bewegung. Die Bewegung zerfiel, einige Aktivisten traten den »langen Marsch durch die Institutionen« an.
     Dutschke erholte sich nur langsam vom Attentat, mühsam mußte er Sprache und Erinnerungsvermögen trainieren. 1969 konnte er schließlich sein Studium in Cambridge fortsetzen, wurde aber im Frühjahr 1971 aus Großbritannien ausgewiesen wegen angeblicher subversiver Tätigkeit. Er nahm mit seiner Frau Gretchen, mit der er seit 1966 verheiratet war, und den beiden
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1968 bzw. 1970 geborenen Kindern Hosea Ché und Polly Nicole seinen Wohnsitz in einer Landkommune in Dänemark. 1974 promovierte er an der FU Berlin zum Thema »Zur Differenz des asiatischen und europäischen Weges zum Sozialismus«. Dutschke hielt Vorträge über die Sowjetunion und Osteuropa, Berufsverbote und Menschenrechte und schrieb für linke Zeitschriften.
     Seit 1976/77 war er politisch wieder aktiver. Klar distanzierte er sich von der Gewalt früherer Weggefährten, die nun in der RAF agierten. 1977 nahm er an der großen Anti- Atomdemonstration in Brokdorf teil. Überlegungen, eine neue linke, sozialistische Partei zu gründen, gab er wieder auf. Seine Sympathien galten Basis- und Bürgerbewegungen. Zum Gründungsparteitag der »Grünen« im Januar 1980 delegiert, hegte er die Hoffnung, »in den 80ern zu denjenigen zu gehören, die eine erste Wende ... in der Gesellschaft erkämpfen. Freiheit, Frieden und Sicherheit in einem sozialen und befreienden Sinne, d. h. Demokratie und Sozialismus ist weiterhin meine Grundhoffnung.«5)
     Weihnachten verstarb er in Aarhus an den Spätfolgen des Attentats. Im Januar 1980 wurde er in Berlin auf dem St. Annen- Friedhof beigesetzt. Erst Ende der 90er Jahre ehrte ihn die Stadt Berlin, indem eine Straße seinen Namen erhielt und sein Grab zum Ehrengrab ernannt wurde.
Quellen und Anmerkungen:
1     Zit. nach Uwe Bergmann u. a., Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition, Reinbek 1968, S. 63
2     Zit. nach Heinz Bude/Martin Kohli, a. a. O., S. 75 f.
3     Vgl. Bedingungen und Organisation des Widerstands. Der Kongreß in Hannover, Berlin 1967, S.78ff.
4     Zit. nach Freie Universität Berlin 1948–1973. Hochschule im Umbruch, Teil V 1967–1969, Berlin 1983, S. 83
5     Zit. nach Jürgen Miermeister, a. a. O., S. 125
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