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Horst Wagner
Berlin vor 100 Jahren
Mit Fanfarenklängen ins neue Jahrhundert

Auch damals wurde gestritten, wann denn nun das neue Jahrhundert zu begrüßen sei: In der Nacht vom 31. Dezember 1899 zum 1. Januar 1900 oder erst ein Jahr später. »Zwar streiten sich die Leut' herum ...«, so die »Vossische Zeitung« in einer Betrachtung zum Jahreswechsel, »Gelehrte, Schriftsteller, Dichter und Denker setzen den Kampf um den Anfang des neuen Jahrhunderts fort; aber von Staats wegen ist ebenso wie durch die Kirchenbehörde verfügt worden, daß der Beginn des neuen Jahrhunderts am 1. Januar 1900 gefeiert werde.« Ein besonders gewichtiges Wort in dieser Angelegenheit habe dabei Kaiser Wilhelm II. gesprochen.
     »Mit einem Gefühl, in das sich zu der lauten Sylvesterlust anderer Jahre doch eine gewisse Qualität von Nachdenken mischte«, schrieb das »Berliner Tageblatt« in seinem Silvesterbericht, »betraten am Sonntagabend Hunderttausende der ständigen oder zeitweiligen Bewohner Berlins die Straßen.« Viele Tausende seien aus den »Nachbarstädten Charlottenburg, Schöneberg und Rixdorf« gekommen, die, »so stolz und konkurrenzfähig« sie auch seien, »eine spezielle

Sylvesterfeier sich doch noch nicht geleistet« hätten. »Nach 11 Uhr strömten aus den Theatern, Tingeltangeln und Kaffeehäusern neue Scharen auf die Straßen und das Wetter war auch wie geschaffen zum Lustwandeln.«
     Drei Zentren öffentlichen Feierns gab es an diesem Silvesterabend in Berlin. Erstens die Straße Unter den Linden mit dem Café Kranzler und Café Bauer als Mittelpunkt. Zweitens der Schloßplatz, wo mächtige Scheinwerfer das Kaiser-Wilhelm- Denkmal anstrahlten und die Gardeartillerie vom Lustgarten her Salut schoß. Dritter Feierort war vor dem Roten Rathaus, wo die Stadtkapelle mit Fanfarenklängen das neue Jahrhundert begrüßte. »Die ununterbrochene, theils von der Polizei in gezwungener Bewegung gehaltene, theils auf den Trottoirs feststehende Menschenmenge zwischen Brandenburger Thor und Rathhaus«, so das »Tageblatt« weiter, »brach in den selben donnernden Ruf >Prosit Neujahr!< aus, der Geschützdonner, das Läuten der Kirchenglocken, die Klänge der Musikkapellen, das Spielen tausender Mundharmonikas, Trompeten, Waldteufel und Knarren mischte sich hinein.«
     Ausführlich berichteten die Zeitungen von der Silvesterfeier im kaiserlich- königlichen Schloß. Eine Stunde vor Mitternacht vollzog sich die Anfahrt der Mitglieder des königlichen Hauses, der Fürstlichkeiten und Botschafter. Gekommen waren auch Generalfeldmarschälle, die Ritter des Ordens vom
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Schwarzen Adler, die Staatsminister sowie die Präsidenten des Reichstages und des Landtages. Zuerst fand ein Dank- und Bittgottesdienst in der Schloßkapelle statt, anschließend eine Defilécour im Weißen Saal, die pünktlich um Mitternacht begann. Der Kaiser, an dessen Thron die hohen Herrschaften vorbeidefilierten, trug die große gestickte Generalsuniform, die Kaiserin eine schwere Cour-Robe. »Der ganze Vorgang«, so das »Tageblatt« abschließend, »bot bei den Tausenden von elektrischen Flammen ein zauberhaftes Bild.«
     Zauberhaft war auch das Bild in Berlins Apollo-Theater. Hier wurde am Silvesterabend 1899 die Operette »Frau Luna« von Paul Lincke aufgeführt. »Es flimmerte in den Logen nur so von Dekolletés, Brillanten, weißen Hemdbrüsten, Uniformen. Es war eine tolle Stimmung im Theater«, berichtete der Komponist selbst, der gerade rechtzeitig aus Paris zurückgekehrt war, um Silvester zu dirigieren.
     Die Reichspost übrigens hatte zur Jahrhundertwende eine Sonderpostkarte herausgegeben, weshalb es am Morgen des 28. Dezembers einen Sturm auf die Berliner Postämter gab. »Dem Andrang der Käufer war der Vorrat nicht im entferntesten gewachsen«, meldete das »Tageblatt«.
Zwar sei der Verkauf auf zehn Stück pro Person beschränkt worden, aber das sei nicht einzuhalten gewesen, da »mancher innerhalb weniger Minuten wohl ein Dutzendmal sich von neuem herandrängte und sein Quantum bekam«.
     Was sonst noch geschah in diesem Dezember 1899? Es tat sich vor allem einiges im Berliner Straßenbahnwesen. Am 16. Dezember berichtete das »Tageblatt« von einem gerade geschlossenen Vertrag zwischen der Stadt Berlin und der »Aktiengesellschaft Berlin- Charlottenburger Straßenbahn«, womit diese die gleichen Rechte erhielt wie die bis dahin schon bestehende »Große Berliner Straßenbahn AG«. Es wurde dabei gleichzeitig die Einrichtung neuer Linien und der »vollständige Übergang in den elektromotorischen Betrieb« vorgesehen. Am 23. Dezember konnte man lesen, daß »der Akkumulatorenbetrieb der Großen Berliner Straßenbahngesellschaft ... an den von Schneefällen hauptsächlich gefährdeten Punkten eingeschränkt und dafür provisorisch der Oberleitungsbetrieb gestattet« werde. Das betreffe unter anderem die Strecken in der Leipziger und in der Potsdamer Straße, zwischen dem Hackeschen Mark und dem Kastanienwäldchen, zwischen
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Einladungen zu Silvesterfeiern, Anzeigen aus dem »Berliner Tageblatt« vom 30. Dezember 1899
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Reichstagufer und Schiffbauerdamm sowie am Halleschen Tor. Ästhetische Gründe gegen den Oberleitungsbetrieb könnten »selbst in der Leipziger Straße nicht mehr mitsprechen«.
     Am 24. Dezember veröffentlichte das »Berliner Tageblatt« einen Erlaß des Innenministers über die Reform der Berliner Kriminalpolizei, der neben einer Verstärkung des Kriminalbeamtenpersonals und der Ausdehnung der Zuständigkeit der Berliner Kriminal- und Sittenpolizei auf weitere ländliche Vororte vorsah, die »Einrichtung eines photographischen Ateliers zu kriminalpolizeilichen Zwecken im Polizeidienstgebäude thunlichst schnell zu Ende« zu führen. Außerdem sei die »schnelle und unentgeltliche Mittheilung kriminalpolizeilicher Nachrichten an die hiesigen Zeitungen« weiterhin sicherzustellen, wozu auch der Ausbau einer »besonderen telegraphischen Verbindung zwischen den Polizeidienststellen« beitragen müsse.
Natürlich berichteten die Zeitungen auch über Weihnachten bei Hofe: »Nachdem um drei Uhr in Gegenwart der Kaiserin und der kaiserlichen Kinder die Dienerschaft beschert worden war, fand um vier Uhr das Weihnachtsdinner beim Kaiserpaar statt«, konnte man im »Tageblatt« lesen. Daneben die Notiz, daß den »Mannschaften der hiesigen Garnison am Sonntagnachmittag um vier Uhr in den einzelnen Kasernen einbeschert« wurde und jede Kompanie dabei u. a. 150 Liter Bier erhielt. Zur gleichen Zeit fand auch eine Weihnachtsfeier in den Städtischen Wärmehallen statt. »Schon am Mittag vermochten trotz der gelinden Witterung die geräumigen Stadtbahnbögen die Menge der Besucher nicht mehr zu fassen und vielen Hundert der Obdachlosen mußte von den Beamten der Zutritt verwehrt werden.«

Bildquelle: Archiv Autor

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