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Herbert Schwenk
Alles begann am Mühlendamm

Wie Berlin zur Stadt am Wasser wurde

»Berlin liegt in einem ungeheuren vorzeitlichen Flußtal. Was sich heute noch an wirklichen kleinen Wasserflächen und Wasseradern durch das alte Sandbett des Riesen spinnt, ist nur ein verzwergter Rest«, schrieb der populärwissenschaftliche Schriftsteller Wilhelm Bölsche (1861—1939) vor 70 Jahren.1) Aber diesem »verzwergten Rest« verdankt Berlin seine Existenz. Heute nimmt die Wasserfläche 6,6 Prozent des Stadtterritoriums ein. Sie besteht aus 62 Seen, über 100 kleineren Teichen und Pfuhlen und 189 Wasserarmen, Kanälen und Flüssen. Jenes vor etwa 10 000 Jahren im Warschau- Berliner Urstromtal entstandene verzweigte Gewässersystem bot seit jeher beste Voraussetzungen zur menschlichen Nutzung: zur Ernährung, zum Transport, zum Mühlenantrieb und auch zur Verteidigung vor Feinden.
     Besonders Spree und Havel haben maßgeblich das Werden und Wachsen von Berlin und Cölln geprägt. Die erste bedeutende wirtschaftliche Nutzung beider Flüsse durch die Errichtung von Wassermühlen setzte vermutlich um die Mitte des 13. Jahrhunderts ein.

Seitdem sind Wasser- und Kanalbauten ständiger Bestandteil der Berliner Stadtentwicklung, freilich mit wechselnder Intensität. Ein Spiegelbild der Stadtentwicklung wurde die Zahl der Brücken: Um 1250 gab es nur eine, um 1450 sechs, 1709 24, 1871 96, 1919 108, 1920 911 und Anfang der 90er Jahre 1 662, wobei freilich die Zahl der Nicht-Wasser- Brücken besonders stark zunahm.
     Und alles begann am Mühlendamm an der Spree. Walther Kiaulehn (1900–1968) nannte ihn »das Herz Berlins« und »die Ursache der Stadtgründung«.2) Er ist die eigentliche Keimzelle der Stadt am Wasser. Wann der »molendam tu Berlin« erbaut wurde, ist nicht belegt. In frühester Zeit ermöglichte eine Furt den Übergang über die Spree. In jenem Bereich entstand ein schleusenloser Knüppeldamm, der die Verkehrsverbindung zur gegenüberliegenden »Spreeinsel« herstellte und zugleich das Oberwasser der Spree aufstaute. Damit wurde der Betrieb von Mühlen ebenso begünstigt wie die Verteidigungsfähigkeit der Kaufmannssiedlungen Berlin und Cölln. Im Zusammenhang mit der ersten Umwehrung beider Städte (BM 9/1998), die 1319 erstmals in einer Urkunde erwähnt wird, wurden mutmaßlich zwei alte Spreearme, im Süden und Westen als Cöllnischer Stadtgraben und im Osten und Norden als Berliner Stadtgraben, ausgebaut und in das Wehrsystem einbezogen. Ob das Recht zum Bau des Mühlendamms und zum Betrieb von Mühlen Berlin schon mit
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der Stadtrechtverleihung um 1230 erteilt wurde, ist nicht belegt. Jedenfalls vermerkte Köpenick bereits um 1240 die Auswirkungen eines Spreestaus. Erstmals ist 1285 von Berliner Mühlen die Rede. Erst am 28. Oktober 1298 wird der Mühlendamm urkundlich erwähnt, als Berlin von Markgraf Otto IV. »mit dem Pfeil« (ca. 1238–1308, Markgraf 1266–1308) den bis dahin in Köpenick erhobenen Schiffszoll käuflich erwarb.
     Die strategische Bedeutung des Mühlendamms und der Mühlen wurde früh von den markgräflichen Landesherrn erkannt, so daß sie diese in ihren Besitz brachten und den »Mühlenhof« einrichteten. Für Berlin und Cölln bestand Mahlzwang auf dem Mühlenhof.

Berlin und Cölln um 1250, rechts Berlin mit Nikolaikirche, der Mühlendamm in der Mitte, links Cölln mit Petrikirche
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Die Energiegewinnung durch Nutzung des Staugefälles muß erheblich gewesen sein: Im 17. Jahrhundert wurden sechs Mühlen genannt, Ende des 18. Jahrhunderts kamen noch drei weitere hinzu. Später wurden die Mühlen von der Stadt angekauft und 1887–1890 abgebrochen, um für ein Sparkassengebäude Platz zu schaffen.
     Dem Mühlendamm verdanken Berlin und Cölln ihre Stadtwerdung. »Der Damm« – so Walther Kiaulehn –, »das war ursprünglich einmal die ganze Stadt.« Aus kleinen Fernhandelsstützpunkten an beiden Enden des Mühlendamms entwickelten sich bedeutende Märkte: auf der östlichen Seite der Molkenmarkt (ursprünglich »Older«, d.h. Alter Markt) und gegenüber auf westlicher Seite der Cöllnische Fischmarkt. Sie gelten als im wesentlichen gleichaltrige, durch den Mühlendamm einzigartig verbundene Gründungsorte der Stadt am Wasser. An beiden Märkten entstanden die ältesten Rathäuser von Berlin und Cölln und unweit davon die Kirchen St. Nikolai und St. Petri.
     Beide Märkte wurden von bedeutenden Fernhandelsstraßen gekreuzt, die Berlin und Cölln zu ihrem Aufstieg verhalfen, die älteren Städte Köpenick und Spandau bald überflügelnd. Der Fernhandel machte die alten Märkte am Mühlendamm zu Umschlagplätzen von Frachten, die aus dem mitteldeutschen Raum sowie aus Böhmen und Sachsen kamen und dann nach Oderberg und Frankfurt und von dort aus auf der
schiffbaren Oder bis zur Ostsee oder aber nach Lebus und Posen befördert wurden. Hinzu kam der Wasserweg über Spree und Havel, der Berlin und Cölln stromabwärts mit Hamburg und Lübeck verband und darüber hinaus bis Flandern und England reichte. 1359 ist die Zugehörigkeit der Doppelstadt zur Hanse beglaubigt.
     Eine große Rolle spielte dabei das Niederlags- oder Stapelrecht, das vermutlich schon seit der Stadtrechtverleihung galt. Es zwang die Händler, ihre Waren in der Stadt auszuladen und zum Verkauf zu stellen. 1442 forderte Kurfürst Friedrich II. (1413–1471, Kurfürst 1440–1470) das der Stadt im 13. Jahrhundert verliehene Niederlagsrecht zurück, die Handelsvorteile für die Stadt jedoch blieben bestehen.
     Ursprünglich führte oberhalb des Mühlendamms eine zu einem Kanal ausgebaute Bucht an der Spree zum Kaufmannhaus am Molkenmarkt (»Koop-Hus«), der zur Entfrachtung der Waren diente und daher als wichtiger Handelshafen mit Salzhäusern und Stapelplatz galt. Der kleine Kanal wurde schon im 16. Jahrhundert zugeschüttet und zum Fahrweg umfunktioniert. Dieser markante sogenannte Krögel hatte mit seinem Altberliner Flair noch bis ins 20. Jahrhundert als älteste Gasse Berlins einen berühmtberüchtigten Ruf. Der verkehrsreiche Mühlendamm wurde indes Standort für Einrichtungen des Handels, für Wohnhäuser und zum ältesten Versammlungsort der Berliner
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Kaufmannschaft zwecks Börsengeschäften. 1847 wurde die Mühlendammbrücke als Fahrbrücke ausgebaut, und 1876 entstand eine steinerne Brücke, wobei die historischen Bauten abgerissen wurden. Die heutige Spannbetonbrücke entstand 1967/68.
     Das System der Hochwasserableitung über den Cöllnischen Stadtgraben mittels einer (schon 1432 erwähnten) eintorigen Stauschleuse (»Arche«) erlaubte keine durchgehende Schiffahrt. Eine reguläre Schiffsschleuse erhielt das Mühlendammwehr jedoch erst 1894.
     Aber schon um 1550 war unter Kurfürst Joachim II. (1505–1571, Kurfürst ab 1535) im Cöllnischen Stadtgraben, der in einem kurfürstlichen Erlaß von 1607 »Schiffsgraben« und später »Schleusengraben« genannt wurde, als erste wirkliche Schiffsschleuse eine hölzerne zweitorige Kammerschleuse gebaut worden, die schon knapp drei Jahrzehnte später (1578) erneuert werden mußte.
     Bei Amtsantritt des Kurfürsten Johann Georg (1525–1598, Kurfürst ab 1571) wurden unterhalb der Schleuse am linken Ufer des Cöllnischen Stadtgrabens ein Hafenbecken und ein Packhaus gebaut, wo die Waren entsprechend dem Niederlagsrecht zum Verkauf gestellt oder umgeladen wurden, seit 1652 unterstützt durch einen Kran.
     In jener Zeit, nach langer Stagnation und schweren Rückschlägen während des Dreißigjährigen Krieges, erlebte die Stadt am Wasser unter Kurfürst Friedrich Wilhelm (1620–1688, Kurfürst ab 1640) einen erneuten Aufschwung.
Der Aufstieg als Residenz-, Festungs- und Handelsstadt wurde abermals durch zahlreiche Wasser- und Kanalbauten stimuliert. Nach holländischem Vorbild entstanden Kanäle und Brücken. Von großer Bedeutung für Berlin waren 1669 die Eröffnung des 9,8 km langen Müllroser Kanals (Friedrich- Wilhelms- Kanal) zwischen Oder und Spree, 1744–1746 der Wiederaufbau des 16,5 km langen Finowkanals, der schon 1620 als erste Verbindung zwischen Oder und Havel entstanden war, und 1743–1746 der Bau des 34,6 km langen Plauer Kanals zwischen der mittleren Elbe und Plaue (Havel) zur besseren Anbindung des Magdeburger Raumes an Berlin.
     Auch die Wasserläufe innerhalb Berlins wurden ausgebaut. Am Cöllnischen Spreearm wurde 1657 die hölzerne Kammerschleuse unter Leitung von Memhardt (1607–1678) und Michael Matthias Smids (1626–1692) abermals umgebaut und 1694 durch Johann Arnold Nering (1659–1695) massiv in Stein »zur perfection gebracht«. Die Schleuse hatte nun die Ausmaße von 76 m Länge und 7,50 m Breite. Dicht unterhalb der Schleuse befanden sich auf der rechten Seite Schneide- und Walkmühlen, die sogenannte Mühle beim Schloß, später Werdersche Mühlen genannt.
     Einfluß auf die Entwicklung der Stadt am Wasser hatte auch das Schiffbauprojekt des Großen Kurfürsten, in dessen Zentrum der aus Holland stammende Direktor der kur-
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fürstlichen Marine (seit 1681) Benjamin van Raulé (1634–1707) stand (BM 1/99). Zu diesem Zweck wurde 1680 durch holländische Fachleute, darunter Michael Matthias Smids, in der nördlichen Dorotheenstadt, in der Nähe der damaligen Dorotheenkirche und in der Gegend des heutigen Reichstagufers, eine Schiffbauwerft (»Schiffsbauhof«) für den Bau von Schiffen aller Art, darunter Kriegsschiffen, angelegt. Auf ihrem Höchststand umfaßte die kurfürstliche Flotte 16 hochseetüchtige, schnelle Fregatten mit großem Aktionsradius sowie 18 kleinere Schaluppen. Zwar wurde – unter Einbeziehung Berlins als »Seestadt« – die Entwicklung der brandenburgisch- preußischen Handelsschiffahrt forciert, die Ambitionen als Seemacht mußten allerdings begraben werden, obwohl Friedrich III. (1657–1713, Kurfürst ab 1688), Sohn und Nachfolger des Großen Kurfürsten und seit 1701 als Friedrich I. erster König in Preußen, den maritimen Träumen seines Vaters noch eine Zeitlang nachhing. Entsprechend seiner Vorliebe für Prunk und Luxus frönte Friedrich I. in erster Linie dem Lustschiffwesen. Er ließ Lustjachten aus England kommen, Galeeren prunkvoll ausstatten und Prachtschiffe in Holland bauen. Der König ließ ferner nach holländischer Art der »Treckschuyten« (trecken = ziehen) zwischen Berlin und Spandau eine Verkehrsverbindung auf der Spree einrichten, die vor allem auch Lützenburg (seit 1705 Charlottenburg) anbinden sollte. Die kleinen hölzernen Treckschuten wurden von zwei Pferden auf einem am Spreeufer angelegten Weg gezogen (»getreidelt«). Schon Kurfürst Friedrich Wilhelm hatte am 5. November 1674 befohlen, in jener Gegend, die zur Meierei der Kurfürstin Dorothea (1636–1689), der zweiten Gemahlin des Großen Kurfürsten, gehörte, Dämme gegen das Spree- und Panke- Hochwasser zu errichten. Sein Enkel, König Friedrich Wilhelm I. (1688–1740, König ab 1713), schob die Seemachtträume seines Großvaters und die Verschwendungen seines Vaters als »Chimere« beiseite. Dem Berliner Schiffbau wies er einen neuen Standort am rechten Spreeufer zwischen der Weidendammer Brücke und dem Unterbaum zu. Er ließ die dortige Uferstraße erhöhen und zu einem Damm gestalten, der von den Treckschuten genutzt wurde. Seit 1738 führt die Dammstraße den Namen »Schiffbauerdamm«, nachdem sich hier zwei Schiffbauer angesiedelt hatten – 1802 waren es 14 Meister und 88 Gesellen.
     Von dem einstigen Schiffbaugebiet ist nichts geblieben außer dem Namen und natürlich dem Ruf Berlins als Stadt am Wasser.

Quellen:
1     Wilhelm Bölsche, Die landschaftliche Umgebung Berlins, in: Unsere märkische Heimat, Leipzig 1929, S. 31
2     Walther Kiaulehn, Berlin. Schicksal einer Weltstadt, dritte Auflage, München/Berlin 1958, S. 37

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