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Wolfgang W. Timmler
Spätvorstellung mit U-Bahn- Gedonner

Das Ende des Alhambra- Filmtheaters in Wedding

Das Licht im Saal färbte sich bernsteinrot und verlosch. Schlaftrunken, mit trägem, mechanischem Gezwitscher teilte sich der Vorhang. Auf der Leinwand erschien das Signet eines Hollywoodstudios. Der Filmvorführer stellte die Schärfe nach, dann entließ er die Zuschauer in eine bunte Traumwelt mit Dolby Surround Sound. Der Projektor war ein neueres Ernemann- Modell, doch er stand in einem alten Filmtheater, das sich schon lange nicht mehr rechnete und deshalb Mitte September abgerissen wurde.
     Von außen sah das Lichtspielhaus wirklich schrecklich aus, überall Risse und Sprünge wie bei einer antiken Vase. Der Verputz bröckelte an allen Ecken und Enden ab, das Dach war undicht, und die große Leuchttafel über dem Eingang hatte der Regen längst ausgeknipst. Alhambra- Filmtheater nannte sich der häßliche Kasten im Norden Berlins, der wohl nur irrtümlich oder unverständigerweise nach dem maurischen Königspalast bei Granada benannt war.

Das Kino, 1953 nach den Plänen von Hans Bielenberg und Helmut Ollk errichtet, faßte zuletzt knapp vierhundert Plätze und verfügte über ein kleines Konzertpodium. Mit seinen ursprünglich neunhundertvierundzwanzig Sitzplätzen zählte es einmal zu den größeren Kinos in Berlin. Es gehörte der Familie Wegenstein, Pächter des Kinos war lange Zeit der Filmtheaterbesitzer Max Knapp, der auch den Zoo-Palast führte. 1981 übernahm Leopold Wegenstein das Alhambra- Filmtheater in eigene Regie. Wegen der hohen GEMA- Gebühren verringerte er die Platzzahl auf die Hälfte, doch ließ er den riesigen Saalbau unangetastet und teilte ihn nicht in Schachtelkinos auf, wie es damals üblich war. Mit seinem Programm wandte er sich an ein junges, aber cineastisch nicht allzu anspruchsvolles Publikum, das sich im Alhambra- Filmtheater nicht nur mit Filmen, sondern auch mit leicht schrägen Live- Konzerten vergnügen konnte.
     Nach der Vorstellung zeigte mir der Filmvorführer das Kino. »Neun Zuschauer waren es diesmal«, sagte er, während wir über den Hof gingen, vorbei an der Rolleiter für die Leuchttafel, die aussah wie eine stählerne Giraffe. »Das ist die Tür zur Bühne«, erklärte er. »Wir hatten mal Helge Schneider hier und so was.« Weil der Schlüssel nicht paßte, machten wir kehrt. »Hier sieht man ganz gut, was der Regen alles so angerichtet hat. Innen bröckelt es auch schon. Und das Flachdach, ich meine, Wasser sucht sich
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Alhambra-Filmtheater in der Seestraße, Wedding
halt seinen Weg. Als letztens der große Regenguß war, kamen einige Zuschauer raus und sagten, daß es durchregne. Dabei ist das Dach erst vor ein paar Jahren neu gedeckt worden. Das Gebäude ist so marode, daß es sich nicht mehr lohnt, etwas zu machen. Ein Neubau ist billiger. Ich find's eigentlich schade, weil, ich mache das nun schon sieben Jahre. Ich habe hier noch angefangen mit den alten Maschinen, und das ist schon ein ganz witziges Gemäuer. Nachts, wenn es ganz ruhig ist, kann man in der Spätvorstellung unten die U-Bahn durchdonnern hören.«
     Nachdem die deutsche Vereinigung der Großstadt Berlin eine nie geahnte Kinoblüte bescherte, entschloß sich der Besitzer vor zwei Jahren, das Lichtspieltheater durch
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ein Multiplexkino mit sieben Sälen für insgesamt siebzehnhundert Zuschauer zu ersetzen. Der Name dieses modernen Durchlauferhitzers für Filme wird »Alhambra Cine Eck« sein.
     »Ich meine, das Kino wäre ein Museum der fünfziger Jahre, wenn es renoviert werden würde, aber finanziell ist es eine Katastrophe«, sagte der Kartenverkäufer. »Die Verleiher wollen, daß man einen Film dreimal am Tag zeigt, aber neue geben sie einem nicht. Deswegen hat es auch überhaupt keinen Sinn, das Kino zu renovieren. Dafür müßte man zwei, drei Millionen Mark investieren, aber das Geld spielt man nie wieder ein, wenn man nur einen Film pro Woche zeigt. Es ist schon so weit, daß die Verleiher sagen, ach, ihr vom Alhambra, ruft doch gar nicht mehr an, ihr macht uns doch bloß Arbeit mit eurem Kino. Den Verleihern ist es lieber, wenn wir gar nicht mehr anrufen und einen Film buchen.
     Das liegt natürlich an den vielen Kinos heute. Vor zehn Jahren gab's weniger Kinos und mehr Filme. Damals sind die Verleiher betteln gegangen, damit sie ihre Filme unterkriegen. Aber jetzt die Riesendinger mit neunzehn Sälen, die müssen eigentlich neunzehn verschiedene Filme haben, aber so viele starten doch gar nicht in der Woche, und darum müssen sie im zweiten, dritten und achten Kino dreimal dasselbe spielen. Ein einziges Kino zu betreiben ist ein Verlustgeschäft, weil es inzwischen überall
Kinos gibt. Hierher kommen immer dieselben, die Leute, die im Wedding drumherum wohnen und fünf Minuten zu Fuß haben. Mit der Zeit kennt man jedes Gesicht.«
     Während er sprach, warf er ab und zu einen Blick zur Tür, aber es kam keiner. Resigniert breitete er ein schwarzes Tuch über den Süßwarenstand. Die letzte Vorstellung des Tages fiel aus.

Literatur und Quellen:
–     Astrid Bähr, Alhambra- Lichtspiele, in: Hänsel, Sylvaine und Angelika Schmitt (Hrsg.), Kinoarchitektur in Berlin 1895–1995, Berlin 1995
–     Nabil Osman (Hrsg.), Kleines Lexikon deutscher Wörter arabischer Herkunft, dritte, verbesserte und erweiterte Auflage, München 1992
–     Jörg Prinz, Der Kinoführer Berlin, Berlin 1998
–     Peter H. Vollmann, Kino im Wedding – gestern und heute, in: Bezirksamt Wedding (Hrsg.), Alter Wedding – neue Kultur. Berlin 1990. Seite 55–56 (Weddinger Texte zur Stadtkultur. Band 1)

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