25   Probleme/Projekte/Prozesse Julius Springer gab den Anstoß  Nächste Seite
Thomas Keiderling
Julius Springer gab den Anstoß

Die Modernisierung der Buchhandelsstadt Berlin im 19. Jahrhundert

Der Berliner Buchhandel war nach 1815 durch ein dynamisches Wachstum gekennzeichnet. Der Zuwachs der städtischen Bevölkerung brachte eine Vergrößerung der lokalen Leserschaft und sorgte für eine entsprechende Vermehrung der Buchhandlungen.1)

Im Vergleich zu Leipzig, der damaligen Hauptstadt des deutschen Buchhandels, läßt sich der Aufwärtstrend besonders gut illustrieren. Noch um 1840 nahm Berlin mit 108 Buchhandlungen hinter Leipzig mit 113 Firmen den zweiten Platz auf dem deutschsprachigen Gebiet ein. Ab 1850 kehrte sich diese Rangfolge um, wie aus der Tabelle 1 hervorgeht. Setzt man die absoluten Firmenzahlen mit der Einwohnerschaft ins Verhältnis, erhält man die in den Klammern ausgewiesenen Werte. Angesichts der großen Bevölkerung Berlins standen die dortigen Firmen allerdings in einem weit ungünstigeren Verhältnis zur lokalen Population, als dies in Leipzig der Fall war.
Tabelle 1: Vergleich der Firmenanzahl von Berlin und Leipzig 1850–1910
Quellen: O. A. Schulz: Adreßbuch für den Deutschen Buchhandel; Hinrichs- Vierteljahreskataloge
 
B e r l i n L e i p z i g
JahrBuchhand-EinwohnerBuchhand-Einwohner
lungen
 
(~ pro Buchhandlung)
 
lungen
 
(~ pro Buchhandlung)
 
1850171410 000   (2 398)12862 250   (486)
1860229463 700   (2 025)17974 800   (418)
1870590705 000   (1 195)24491 600   (375)
18807241 000 000   (1 381)421156 500   (372)
18909401 500 000   (1 596)623300 000   (481)
19001 1821 800 000   (1 523)870439 000   (505)
19101 2092 040 200   (1 688)1 142550 000   (482)
SeitenanfangNächste Seite


   26   Probleme/Projekte/Prozesse Julius Springer gab den Anstoß  Vorige SeiteNächste Seite
Seit 1860 führte Berlin auch in der Buchtitelproduktion und übertrumpfte damit die Verlagsstadt an der Pleiße, die seit Jahrhunderten darin führend war. In der Tabelle 2 sind neben den Titelzahlen auch die Anteile an der gesamten Titelproduktion im deutschsprachigen Gebiet ausgewiesen.
     Die statistische Führungsposition Berlins in den genannten zwei Kategorien konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Stadt, was die Geschäftsorganisation betrifft, dem Leipziger Standort zunächst weit unterlegen war. Die sächsische Metropole war der Sitz des 1825 gegründeten Börsenvereins der Deutschen Buchhändler – einer Dachorganisation der Branche – und verfügte seit 1833
über einen lokalen Buchhändlerverein, der die Sonderinteressen der Stadt gekonnt zu vertreten wußte. Leipzig besaß aber noch einen weiteren, entscheidenden Vorzug: Es war das Zentrum des Kommissionsbuchhandels und somit Cheforganisator der buchhändlerischen Logistik.
     Der Kommissionsbuchhandel hatte sich als ein brancheninterner Dienstleistungsbereich seit dem 15. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum herausgebildet. Seine Aufgabe bestand darin, die Bestellung, Lagerhaltung, Auslieferung und Abrechnung über wenige Handelsplätze zu konzentrieren und dadurch den Geschäftsverkehr zwischen Verlegern und Sortimentern zu verbilligen.
Tabelle 2: Vergleich der Buchtitelproduktion von Berlin und Leipzig 1850–1910
Quellen: O. A. Schulz: Adreßbuch für den Deutschen Buchhandel; Hinrichs- Vierteljahreskataloge
 
B e r l i n L e i p z i g
JahrverlegteAnteil an gesamterverlegteAnteil an gesamter
Titel
 
Titelproduktion
 
Titel
 
Titelproduktion
 
18501 10713,5 %1 49518,2 %
18601 47916,8 %1 64518,7 %
18702 06620,7 %1 87118,7 %
18802 56218,4 %2 50318,0 %
18903 51519,5 %3 22917,9 %
19004 38923,4 %3 56219,0 %
19104 35523,2 %4 05021,6 %
SeitenanfangNächste Seite


   27   Probleme/Projekte/Prozesse Julius Springer gab den Anstoß  Vorige SeiteNächste Seite
Wie hatte man sich dieses System vorzustellen?
     Ein deutscher Leser, der durch einen Verlagskatalog oder durch eine Rezension auf ein Buch bzw. eine Zeitschrift aufmerksam wurde, ging zur nächsten Sortimentsbuchhandlung und gab eine Bestellung auf. Diese erreichte über einen offenen Bestellbrief den Leipziger Kommissionär des Sortimenters – also dessen Vermittler und Interessenvertreter am Kommissionsplatz –, der zunächst überprüfte, ob der gewünschte Artikel in Leipzig auf Lager war. Dazu leitete der Sortimenter-Kommissionär den Bestellzettel an die dortigen Verleger weiter oder an den Kommissionär desjenigen auswärtigen Verlegers, der diesen Titel vertrieb. Was in Leipzig lagerte, wurde im Versandraum des Sortimenter- Kommissionärs abgelegt, um später in einer Sammelsendung durch Buchwagendienste kostengünstig dem Sortimenter zugeführt zu werden. Die nicht in der Stadt vorrätige Literatur mußte über den Verleger-Kommissionär erst noch vom Verlagsort eingefordert werden, was mitunter mehrere Wochen in Anspruch nahm.
     Das beschriebene System wurde in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts durch mehrere Innovationen revolutioniert, mit der Leipzig eine weltweit führende Technologie erhielt. Die zwei wichtigsten Neuerungen bestanden darin, daß die Leipziger Kommissionäre seit 1836 den Rechnungsausgleich zwischen den
Verlegern und Sortimentern weitgehend übernahmen und seit 1842 eine sogenannte Zettelbestellanstalt auf genossenschaftlicher Basis einführten. Bei der Bestellanstalt handelte es sich um eine buchhändlerische Stadtpost, mit deren Hilfe die täglich einlaufenden, in die Zehntausend gehenden Bestellzettel rasch weitergeleitet werden konnten.
     Man kann sich denken, daß Leipzig mit seinen modernen Einrichtungen einen großen Konkurrenzdruck auf die Nebenkommissionsplätze ausübte, die mit veralteten Techniken den Verkehr ihres kleineren Einzugskreises zu regeln hatten. Zu diesen Nebenplätzen gehörte neben Augsburg, Budapest, Frankfurt am Main, Köln, München, Nürnberg, Offenbach, Prag, Stuttgart, Wien und Zürich auch Berlin, das alsbald von sich reden machte. Denn Berlin gelang es mit zeitlicher Verzögerung, vergleichbare Bestell- und Auslieferungseinrichtungen wie in Leipzig zu schaffen.
     Bis 1840 kam dem Berliner Kommissionsbuchhandel aufgrund seiner Nähe zu Leipzig lediglich eine regionale Bedeutung für den preußischen und insbesondere ostelbischen Buchhandel zu. In den Jahren 1834–1836 gab es nur eine Buchhandlung, diejenige von Abraham Asher (1800–1853), die auch Kommissionen nach Großbritannien besorgte. (BM 8/96) Trotz des territorial eingeschränkten Einflußgebietes wurde der Kommissionsbuchhandel als ein einträgliches
SeitenanfangNächste Seite


   28   Probleme/Projekte/Prozesse Julius Springer gab den Anstoß  Vorige SeiteNächste Seite

Julius Springer

 
Nebengeschäft betrieben. In den genannten Jahren arbeiteten 19 Kommissionäre für ca. 70 Kommittenten, d.h. auswärtige Verleger und Sortimenter, als Auftraggeber.
     In den vierziger Jahren setzte sich vor

allem eine Persönlichkeit für ein Erstarken der Berliner Buchhandelsstadt ein: Julius Springer. Seine Lehrzeit absolvierte Springer beim Stuttgarter Großkommissionär Paul Neff.2) Viele der dort gesammelten Erfahrungen wollte er in seiner Heimatstadt nutzen, wobei er die Leipziger Entwicklungen genauestens verfolgte und darauf Bezug nahm. Innerhalb kurzer Zeit baute Springer ein erfolgreiches buchhändlerisches Unternehmen in Berlin auf, dessen eine Stütze – neben dem Verlag – der Kommissionsbuchhandel war. Nach nur dreijähriger Selbständigkeit besaß er 1845 20 Kommittenten. Damit gehörte sein Kommissionsgeschäft zu den größten in der Stadt. Die lokalen Verhältnisse schienen Springer aber eher ungeeignet, um den Kommissionsbuchhandel weiter ausbauen zu können. In einem Rundschreiben vom 6. September 1844 wandte er sich mit seiner Kritik an die buchhändlerische Öffentlichkeit. Er schrieb, daß die Weitläufigkeit der Stadt und Zerstreutheit der Buchhandlungen jede Kommunikation erschwerten. Insbesondere sei der damit verbundene hohe Arbeitsaufwand mit dem niedrigen Kommissionshonorar und der geringen Anzahl der Kommissionsbeziehungen kaum in Einklang zu bringen. Er sei zu Veränderungen bereit, könne aber nur bei
SeitenanfangNächste Seite


   29   Probleme/Projekte/Prozesse Julius Springer gab den Anstoß  Vorige SeiteNächste Seite
einer entsprechend großen Anzahl von Kommittenten mehr Dienstleistungen zu günstigeren Preisen anbieten.3)
     Im Jahre 1846 versandte Julius Springer einen weiteren Aufruf an den Gesamtbuchhandel, worin er ein modernes Berliner Kommissionszentrum forderte: »Die Handlungen um Berlin und an den von hier ausgehenden Eisenbahnen werden bei der Schnelligkeit, mit welcher jetzt jede Beschaffung des Absatzes besorgt sein will, genöthigt, sich in Berlin einen Commissionair zu halten, und neben ihren Beziehungen von Leipzig auch gleiche von hier eintreten zu lassen ... Wir haben an Leipzig als Commissions- und Stapelplatz des Buchhandels ein vielfach zu erstrebendes Muster.«4)
     Springer betrieb mit seinen Zirkularen eine offensive Werbung für den Berliner Standort. Durch seine wiederholten Auftritte in der Öffentlichkeit ermutigte er die lokale Branche zu Reformen. Andere Kommissionäre folgten seinem Beispiel und verfaßten sogar ein Memorandum zur Erhebung Berlins zu einem modernen Kommissionsort.5) Mitte der vierziger Jahre wurde eine Reihe von zwischenbuchhändlerischen Einrichtungen in Berlin eingeführt, mit deren Hilfe die Stellung der preußischen Hauptstadt im System des deutschen Buchhandels weiter ausgebaut werden konnte.
     Der im Februar 1845 gegründete Berliner »Verein zur persönlichen Abrechnung« hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die zerrütteten
Verhältnisse in der Abrechnung zu ordnen. Seit längerer Zeit rechneten die Berliner Buchhändler zweimal jährlich – am 1. April und am 1. Oktober – unter sich ab. Anfang der vierziger Jahre wurde diese Terminsetzung aber nicht mehr eingehalten. Aus diesem Grund sollte die persönliche Abrechnung (ohne die Vermittlung der Kommissionäre) seit 1845 am 15. und 16. Februar sowie am 15. und 16 August erfolgen.

Bedeutungsvollste Neuerung in Berlin: die Zettelbestellanstalt

Das Jahr 1845 wurde gleichfalls zur Vorbereitung der wohl bedeutungsvollsten Innovation des Berliner Buchhandels genutzt, dessen Anreger Heinrich Burchhardt, ein zweiter Protagonist des hiesigen Kommissionsbuchhandels, war. Im August 1846 legte er den Plan zu einer Zettelbestellanstalt vor, der von einer buchhändlerischen Expertenkommission als gut befunden, jedoch aufgrund von Finanzierungsproblemen nur in einer kleinen Variante beschlossen wurde. In der Berliner Bestellanstalt wurden die Zettel (Bestellzettel, Rechnungsabschlüsse, Zirkulare, Briefe, versuchsweise auch kleine Pakete) nur sortiert und nicht wie in Leipzig ausgetragen. Somit war die Bestellanstalt kein vollständiger Transfer des Leipziger Modells. Zur Begründung wurde angegeben, daß Berlin kein konzentriertes Buchhändlerviertel wie Leipzig besaß und somit das Austragen

SeitenanfangNächste Seite


   30   Probleme/Projekte/Prozesse Julius Springer gab den Anstoß  Vorige SeiteNächste Seite
nur durch ein umfangreiches Personal geleistet werden konnte. Die Buchhandlungen mußten zwar ihre Zettel selbst abholen, durch das Vorsortieren sparten sie aber Zeit bei der weiteren Bearbeitung von Anfragen und Bestellungen.
     Die Bestellanstalt nahm am 15. Oktober 1846 in der Königstraße ihren Betrieb auf und vermittelte die Zettel für ca. 75 Mitglieder. Ihr erster Leiter wurde Burchhardt selbst. Als Entschädigung für seinen Aufwand durfte er frei wohnen, und ihm floß auch ein Teil der Beiträge zu, die sich für jeden Teilnehmer auf 2 Taler und für jeden Kommittenten auf 7 1/2 Neugroschen jährlich beliefen. Zweimal täglich, um 11 und 17 Uhr, konnten die Firmen ihre sortierten Unterlagen abholen. Wie bescheiden die Anfänge waren, geht aus mehreren Anträgen Burchhardts hervor. 1853 bat er um einen monatlichen Zuschuß von 2 Talern zur Beheizung des Lokals sowie zur Vergütung des Botenmädchens.
     Die neue Einrichtung wurde aber nicht nur positiv aufgenommen. Ein anonymer Berliner Buchhändler schrieb kurz nach ihrer Eröffnung, sie hätte nur »Confusion in das bisher ohnehin mangelhafte Commissionsgeschäft u(sw.) hineingebracht, da ein großer Theil der bedeutendsten Handlungen nicht mit beigetreten ist ... Deshalb kann auch eigentlich von einer Bestellanstalt keine Rede sein, sondern nur von einem, den Meisten sehr entlegenen Lokal, wo die
Briefschaften u(sw.) in Empfang genommen und abgeholt werden können, und viele der Herren Mitglieder scheinen es auch schon zu bereuen, daß sie mit beigetreten sind, indem sie wahrscheinlich der Meinung waren, daß die betreffenden Gegenstände, wie in Leipzig, einem Jeden täglich mehrmals in's Haus gebracht würden.«6)

»... werden wir uns niemals beirren lassen«

Julius Springer veröffentlichte daraufhin eine Gegenerklärung. Nichts von alledem sei wahr. Weder fehle es an der Unterstützung bedeutender Buchhandlungen, noch sei Konfusion eingetreten. Alle Teilnehmer waren von Anfang an über die Besonderheiten der Berliner Anstalt informiert gewesen. Durch solche Angriffe, schrieb er, »werden wir uns niemals beirren lassen und bitten, daß der auswärtige Buchhandel dies auch nicht thun möge. Der Berliner Buchhandel selbst kennt übrigens seine Feinde am Orte wohl, zu deren Charakteristik die Anführung genügen wird, daß kürzlich ein hiesiger Verleger schriftlich erklärte, er sehe für die über Berlin beziehenden Handlungen gar keinen Nachtheil, wenn er denselben seinen Verlag über Leipzig sende!«7)
     1847 wurde ein »Verein für gemeinsame Postsendungen nach Leipzig« ins Leben gerufen, dem am 1. Januar 1848 die »Anstalt Berliner Verlags- und Sortiments- Buchhändler

SeitenanfangNächste Seite


   31   Probleme/Projekte/Prozesse Julius Springer gab den Anstoß  Vorige SeiteNächste Seite
zur gemeinschaftlichen Büchersendung nach Leipzig« folgte. Darin wurden die Bestellzettel, Briefe und Zirkulare der Berliner Buchhändler gesammelt und täglich gegen 18 Uhr per Post oder per Eisenbahn nach Leipzig verschickt. Eine direkte Verbindung mit der Leipziger Zettelbestellanstalt konnte aufgrund des Widerstandes der Leipziger Buchhändler- Deputation nicht erreicht werden. Dafür gewannen die Berliner den Leipziger Kommissionär Johann Georg Mittler zur Überstellung der gesammelten Postsendungen in Leipzig. Nachdem Friedrich Volckmar 1880 Mittler aufgekauft hatte, besorgte er die Leipziger Kommission für die Postanstalt weiter.
     Eine Konsolidierung erhielten die Reformen dadurch, daß sich die lokale Unternehmerschaft organisierte. Bereits 1839 hatte es einen kurzzeitigen Zusammenschluß von 28 Berliner Verlegern gegeben, die nichtzahlende Sortimenter boykottierten. 1840 wurde ein, gleichfalls kurzlebiger, Berliner Buchhändler-Verein mit vergleichbaren Zielen initiiert. Mit dem 1848 gegründeten Berliner Buchhändlerverein, der »Corporation der Berliner Buchhändler«, konnten die neuen Einrichtungen des Bestell- und Auslieferungsverkehrs besser organisiert und verwaltet werden.8) Unter Anleitung der Berliner Buchhändler-Korporation wurden 1848 die faktisch identisch arbeitenden Postund Packanstalten mit der bereits länger bestehenden Bestellanstalt besser koordiniert und
unter eine Leitung gestellt. Seit 1852 verkaufte Burchhardt in Form eines selbstgedruckten Plakates eine Mitgliederliste der Bestellanstalt. 1868 übernahm die Korporation diese Aufgabe, indem sie ein »Hülfsbuch für den Berliner Buchhandel« herausgab, das außerdem noch über die geschäftlichen Verhältnisse vieler Firmen berichtete und zu einer Art lokalem Adreßbuch wurde. Als Vorbild hatte das Leipziger »Meßhilfsbuch« gedient.

Die Bestellanstalt bezog 1893 ein eigenes Haus in der Wilhelmstraße

Bis 1879 änderte sich an der Organisation dieser Vermittlungszentren wenig, abgesehen davon, daß sie einen stets größer werdenden Verkehr bewältigen mußten. Nicht nur aufgrund der zunehmenden Zettelvermittlung, sondern auch auf Druck mancher Vermieter zog die Bestellanstalt häufig um. Sie befand sich 1848 am Platz der Bauakademie, 1850 in der Adlerstraße, 1858 in der Unterwasserstraße, 1862 wieder in der Adlerstraße, 1868 in der Krausenstraße, 1875 in der Mohrenstraße, 1886 in der Linkstraße und erhielt erst 1893 ein eigenes Haus in der Wilhelmstraße.
     Im Jahr 1878 legte Albert Goldschmidt einen Antrag zur Umgestaltung der Zettelbestellanstalt mit dem Ziel vor, ihren Aufgabenbereich umfassend zu erweitern. Die Bestelleinrichtung sollte künftig auch den

SeitenanfangNächste Seite


   32   Probleme/Projekte/Prozesse Julius Springer gab den Anstoß  Vorige SeiteNächste Seite
direkten Verkehr mit auswärtigen Verlegern vermitteln. Ein Ausschuß unter der Leitung von Paul Parey veränderte die Vorlage Goldschmidts dahingehend, daß die Anstalt fortan die Verteilung von Paketen übernehmen sollte, die von hiesigen oder auswärtigen Mitgliedern franko (frachtfrei Kommissionsplatz) zugesandt wurden. Es wurde beschlossen, daß die Anstalt ab dem 15. Juni 1879 »für ihre Mitglieder und deren ständige Kommittenten auch Pakete, welche ihr von hier oder auswärts franko zugehen, ohne Gewichtsbeschränkung« annahm, sammelte und sie regelmäßig an die Adressaten ausfuhr. Die Paketausfuhr übernahm die Speditionsfirma A. Warmuth. Seit 1888 besaß die Einrichtung eigene Gespanne. Durch diese Modifikation erhielt Berlin als erste Stadt der Welt eine kombinierte Zettel- und Paketbestellanstalt auf genossenschaftlicher Basis der lokalen Unternehmer. Sie wurde zum Zentrum des Berliner Kommissionsbuchhandels.
     Nach und nach konnte Berlin seinen Einflußkreis vergrößern. 1846 ließen sich hier ca. 120 Kommittenten vertreten. Vereinzelt gab es auch Kommittenten in Paris, Kiew und Warschau, die später aber ihre Geschäftsverbindungen wieder einstellten. Nach 1850 verzeichnete der Berliner Kommissionsbuchhandel bedeutende Zuwachsraten. Auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung angelangt, etwa um 1900, war der Kommissionsplatz mit 42 Kommissionären
und 443 Kommittenten hinter Leipzig, Wien und Stuttgart der viertgrößte auf dem deutschsprachigen Gebiet. Zu den führenden Kommissionären gehörten in den fünfziger Jahren Enslin und Springer (jeweils ca. 30 Kommittenten), in den sechziger und siebziger Jahren die Amelangsche Sortimentsbuchhandlung, Ferdinand Geelhaar und Springer (mit 40–60 Kommittenten) sowie in der Zeit nach 1880 Amelang, Mittlers Sortimentsbuchhandlung und Georg Winckelmann (mit 50–80 Kommittenten).
     Auch wenn die Berliner Übernahme Leipziger Einrichtungen des Kommissionsbuchhandels zunächst unvollständig blieb, konnten die Berliner Buchhändler mit der Errichtung der kombinierten Zettel- und Paketbestellanstalt auf dem Gebiet der Bestellung und Auslieferung mit den Leipzigern gleichziehen bzw. sie sogar partiell überholen. Das war ein außerordentlich großer Erfolg für den Berliner Standort und ließ zuweilen sogar eine grundlegende Diskussion darüber aufkommen, ob Berlin nicht etwa die Führungsposition im Buchhandel übernehmen sollte.
     Doch dazu sollte es nicht kommen. Nach der Jahrhundertwende kauften die führenden Unternehmen des Zwischenbuchhandels, die Leipziger Kommissionäre und Barsortimenter Koehler und Volckmar, den Berliner Kommissionsbuchhandel zu großen Teilen auf. Als schließlich infolge des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklungen
SeitenanfangNächste Seite


   33   Probleme/Projekte/Prozesse Julius Springer gab den Anstoß  Vorige SeiteAnfang
Leipzig seine einstige Bedeutung für das deutschsprachige Gebiet einbüßte, traten andere Städte die Nachfolge an: Stuttgart wurde Zentrum des Zwischenbuchhandels und Frankfurt am Main Ort der Buchmesse.
     Die traditionsreiche Buchstadt Berlin blieb weiterhin ein wichtiger Verlagsstandort in Deutschland, ohne organisatorisches Zentrum der Branche zu werden. 1997 nahm Berlin mit 6 342 neuproduzierten Titeln (Erstauflagen) den zweiten Platz in der Statistik hinter München mit 8 899 Titeln ein.

Quellen und Anmerkungen:
1     Unter Buchhandlungen werden im deutschen Buchhandel nicht nur Sortiments-, sondern auch Verlags-, Kommissions-, Antiquariats-, Kunst- und Musikalienbuchhandlungen verstanden
2     Zum Leben Julius Springers siehe die hervorragende Verlagsgeschichte von Heinz Sarkowski, Der Springer Verlag. Stationen seiner Geschichte, Teil I: 1842–1945. Berlin, Heidelberg, Springer, 1992

3     Vgl. Geschäftsrundschreiben Julius Springer vom 6. 12. 1844
4     Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (künftig BBl.) Nr. 96, 3. 11. 1846, S. 1265
5     Vgl. »Memorandum über die Errichtung eines besonderen buchhändlerischen Commissions- und Speditionsgeschäfts für Berlin durch H. Kaiser (E. H. Schroeders Buchhandlung) und G. W. F. Müller« vom 18. 5. 1852
6     BBl. Nr. 96, 3. 11. 1846, S. 1265
7     BBl. Nr. 99, 13. 11. 1846, S. 1331
8     Der Berliner Buchhändlerverein besaß nur einen vergleichsweise geringen Zuspruch, der mit den Jahren sogar abnahm. 1870 waren 196 Firmen Vereinsmitglieder, während sich 395 der Teilhabe verweigerten. Die Zahlen für 1880: 199 und 528, 1890: 209 und 735 sowie 1900: 211 und 972. Vgl. O. A. Schulz, Adreßbuch für den Deutschen Buchhandel
SeitenanfangAnfang

© Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de