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Bernhard Meyer
Sozialversicherung und medizinische Betreuung

Zum Stand der Medizin im ausgehenden 19. Jahrhundert

An der Schwelle zum 20. Jahrhundert plagten Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten die Menschen. Zwischen 60 und 80 Prozent der an Tuberkulose Erkrankten starben. Auch die Säuglingssterblichkeit war hoch, sie lag bei über 20 Prozent. Die mittlere Lebenserwartung betrug etwas über 40 Jahre. Die in den 80er Jahren per Gesetz eingeführte Sozialversicherung erfaßte um 1900 lediglich 15 Prozent der Bevölkerung, wobei ganzen Berufsgruppen (Landarbeiter, Hausangestellte) der Beitritt verwehrt wurde.
     Der Arztbesuch erfolgte meistens nur bei akuten Schmerzen oder körperlichem Zusammenbruch, während das Krankenhaus dem Notfall oder der Isolation vorbehalten war. Erst moderne Operationsmethoden zogen Bürger zunehmend in das Krankenhaus, dem noch immer ein zweifelhafter Ruf anhing, wie Fjodor Dostojewski (1821–1881) berichtete: »... ist das Volk durch allerlei Schauergeschichten, die häufig absurd sind, manchmal aber auch ihre Ursache haben,

verängstigt und gegen Krankenhäuser voreingenommen. Vor allem aber schrecken es die deutsche Krankenhausordnung, die fremden Menschen rundum während der gesamten Krankheitsdauer, die strenge Diät sowie die Geschichten von der ständigen Barschheit der Krankenpfleger und Ärzte, vom Aufschneiden und Ausweiden der Leichen und dergleichen mehr ab. Außerdem ist das Volk der Meinung, es werde dort von Herrschaften behandelt, weil die Ärzte doch nun mal zu den Herrschaften gehören.«1)
     Traditionell überliefert war die häusliche Krankenpflege gegen Bezahlung. Nur die Minderbemittelten kamen im Rahmen des kommunalen Armenwesens in die wenigen Krankenhäuser, um dort bis zum Tode wenigstens ein Minimum an Pflege zu erhalten. Zur Jahrhundertwende besaß Berlin mit dem Krankenhaus Moabit, dem Krankenhaus im Friedrichshain und dem Kreuzberger Urbankrankenhaus nur drei städtische Einrichtungen. Hinzu kamen einige konfessionelle Häuser und etwa 70 private Kleinkliniken in Wohnhäusern vorwiegend rund um die Charité.
     Noch immer verfügte die Medizin als Wissenschaft nur über ein beschränktes Instrumentarium zur Erkennung und vor allem zur Heilung von Krankheiten. Zwar befand sie sich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts auf dem Weg zur
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Erweiterung ihrer wissenschaftlichen Grundlagen, aber vieles steckte noch in den Anfängen. Anfang 1896 war die Nachricht von den geheimnisvollen X-Strahlen, mit denen man nach Röntgen (1845–1923) den Menschen durchleuchten konnte, eine Sensation. 1884 schon hatte Robert Koch (1843–1910) den Erreger der Tuberkulose gefunden, ein Therapeutikum stand auch mit dem Tuberkulin noch nicht zur Verfügung. Inzwischen hatte die Bakteriologie als neue medizinische Disziplin festen Fuß gefaßt. 1884 wurde der Erreger der Cholera gefunden, und Behring (1854–1917) schuf die Grundlagen für eine erfolgreiche Serumtherapie, aus der die wirkungsvolle Impfprophylaxe gegen Diphtherie und Tetanus hervorging.
     Dennoch blieben die Infektionskrankheiten für die Menschen äußerst gefährlich. Das traf vor allem für die Krankenhäuser zu, in denen Wundinfektionen wie Hospitalbrand und Eitervergiftung zum Alltag gehörten und viele Menschen nach erfolgreicher Operation in den Tod rissen. Noch war in bester Erinnerung, wie hygienische Nachlässigkeiten der Ärzte und des Pflegepersonals zu einer hohen Rate von Kindbettfieber und Müttersterblichkeit führten, ehe Semmelweis (1818–1865) mit Reinlichkeit und Desinfektion Veränderungen einleitete. Der Chirurg Ernst von Bergmann (1836–1907) führte an der Charité einen verbissenen, fast militärischen Kampf, um seine Ärzte und Schwestern
von der Asepsis zu überzeugen und sie zur peinlich genauen Anwendung im Klinikalltag zu zwingen. Fotografien von Operationen um 1900 an der Charité zeigen, daß Akteure wie ärztliche Beobachter noch immer die Benutzung von Mund- und Haarschutz sowie Gummihandschuhen vernachlässigten. Erst Anfang der 90er Jahre entwickelte Curt Schimmelbusch (1860–1895) als Assistent von Bergmann eine Methode zur Sterilisation der Operationsinstrumente (»Schimmelbuschtrommel«).
     Die beeindruckendste Entwicklung nahm die Chirurgie, die das Image eines »rohen Handwerks« endgültig ablegte. Der Aufschwung geht besonders auf das 1846 von den amerikanischen Zahnärzten Wells (1815–1848) und Morton (1819–1868) verwendete Lachgas bzw. Äther als Narkosemittel zurück. Ihre ständige Vervollkommnung eröffnete der Chirurgie völlig neue Operationsmethoden, von denen nur die erste Magenresektion (1881) von Theodor Billroth (1829–1894) erwähnt sein soll. Carl Ludwig Schleich (1859–1922) bahnte mit der Infiltrationsanästhesie die Methode der örtlichen Betäubung an, die August Bier (1861–1949) mit einem Selbstversuch 1899 auf die Operation des Unterkörpers (Lumbalanästhesie) ausdehnte. Sauerbruch ermöglichte mit seiner Unterdruckkammer 1903 erste Operationen an der Lunge. Demgegenüber blieb die innere Medizin zurück, obwohl neuartige Medikamente wie das Veronal von Emil
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Fischer (1852–1919) und seine fabrikmäßige Herstellung die Palette beträchtlich erweiterten. Im Entstehen begriffen war die Chemotherapie durch Paul Ehrlich (1854–1915).
     In den 40er Jahren begann sich in Preußen allmählich das 1819 in Frankreich entstandene Stethoskop zur Auskultation zu verbreiten. Selbst die relativ einfach zu handhabende Methode der Perkussion (Abklopfen) des Patienten galt noch als ungewöhnlich, was noch viel mehr für die regelmäßigen Fiebermessungen im Krankenhaus zutraf, die seit 1851 durch Ludwig Traube (1818–1876) an der Charité vorgenommen wurden. Erst 1886 kam es zur Einführung des Normalthermometers als einheitlicher und vergleichbarer Grundlage für Fiebermessungen.
     Zu den wesentlichen Voraussetzungen der Verwissenschaftlichung der Medizin im 19. Jahrhundert gehörte die moderne Krankheitslehre in Form der Zellularpathologie, wie sie Virchow (1821–1902) Ende der 50er Jahre vorgelegt hatte. Mit ihr wurden naturphilosophische Auffassungen in der Medizin endgültig überwunden und die Aufmerksamkeit auf die Zelle als den hauptsächlichen Ort der Krankheitsentstehung gelenkt. Davon profitierte u. a. Wilhelm Griesinger (1817–1868), der die als Irre bezeichneten Menschen als organisch Erkrankte betrachtete und eine entsprechende Behandlung und Betreuung in der Psychiatrie verfocht, die er an der Nervenklinik der Charité praktizierte.
Ganz im argen lag die Stomatologie, die verstärkt um ihren akademischen Status rang und der Medizin gleichgestellt werden wollte. Um die Zähne kümmerten sich relativ wenige approbierte Zahnärzte, dafür um so mehr Dentisten, Zahnkünstler und Zahnoperateure unterschiedlichster Qualifikation, die mehrheitlich nach den Prinzipien der Gewerbeordnung ihr Tun als Handwerk und weniger als medizinische Handlung betrachteten. Zwar waren 1884 an den Universitäten Berlin und Leipzig erstmalig Kliniken für Zahnmedizin entstanden, doch sie gehörten nicht der Medizinischen, sondern der Philosophischen Fakultät an. Herausragend die Kariestheorie des in Charitédiensten stehenden Amerikaners Willoughby Dayton Miller (1853–1907), der 1894 die Ursache der Karies auf Bakterien und die von ihnen gebildete Säure zurückführte. Wichtig auch, daß es nun zu einer mehr oder weniger geregelten Ausbildung von Krankenschwestern kam, wodurch die Krankenpflege zunehmend aus dem Status konfessioneller Barmherzigkeit und allgemeiner Menschenliebe heraustrat und sich im Gefolge der Medizinfortschritte zu einem eigenständigen Beruf an der Seite des Arztes entwickelte.
     Es reifte die Erkenntnis von der Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Fabrikarbeiters als einer wirtschaftlichen Größe. Verstärkt wurde dieser Prozeß durch den Eintritt von immer mehr Frauen in die Erwerbstätigkeit sowie die deutliche Abnahme
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der Kinderzahl pro Familie. Strategisch denkende Nationalökonomen (Schmoller, Brentano) und Kirchenvertreter (Ketteler) suchten mit dem von den Sozialdemokraten (Bebel, Wilhelm Liebknecht) vehement geforderten Arbeiterschutz, die Bedingungen der Arbeit (Achtstundentag, Urlaub, Kinderarbeit) gesetzlich zu regeln. Der Manchester- Kapitalismus hatte sich überlebt, neue gesundheits- und sozialpolitische Regelungen wurden dringend erforderlich. Die Berufstätigkeit der Frauen zwang zu arbeitsrechtlichen und sozialen Überlegungen hinsichtlich Schwangerschaft und Geburt, Kindergeld und Kindergärten.
     Wissenschaftlich war durch Max von Pettenkofer (1818–1901) längst der Schritt von der tradierten Medizinalpolizei zur naturwissenschaftlich-experimentellen Hygiene vollzogen worden, die den Einfluß von Luft, Wasser, Boden, Kleidung, Wohnung und Nahrung auf die Gesundheit zu einer auch praktisch zu lösenden Aufgabe erhob. Als ein Sproß resultierte daraus die Arbeitsmedizin, die ihrerseits eine lange Liste mit Erfordernissen hinsichtlich der Länge des Arbeitstages, der Erholung durch Wochenende und bezahlten Urlaub, der sicheren und gesundheitserhaltenden Gestaltung des Arbeitsplatzes, der Vermeidung von Berufskrankheiten und Unfällen vorlegte. Zunehmend gelangten die sozialen und arbeitsmedizinischen Belange in den Forderungskatalog der Sozialdemokratie, der im
Erfurter Programm von 1891 sichtbaren Ausdruck fand.
     Unter diesen Bedingungen veränderten sich natürlich auch Stellung und Einfluß des Arztes in der Gesellschaft. Er stieg als approbierter Arzt immer deutlicher »zum allein zuständigen Experten in Fragen von Gesundheit und Krankheit« auf, der »ein tendenzielles Monopol auf dem Markt für medizinische Dienstleistungen« erwarb und künftighin zäh verteidigte.2) Die neue Sozialversicherung erhöhte die Nachfrage nach Expertenwissen und drängte Kurpfuscher und Naturheiler zurück. Die Ärzteschaft mußte sich von nun an Kassenpatienten stellen, die bald zur Haupteinnahmequelle wurden und gegenüber dem bisherigen Armenkrankenwesen das Recht der freien Arztwahl besaßen. Und die Zahl der approbierten Ärzte stieg kräftig an, obwohl das Medizinstudium am längsten dauerte und am teuersten war: Immatrikulierten sich 1880, also kurz vor den Sozialversicherungsgesetzen, noch 4 000 Medizinstudenten an deutschen Universitäten, so waren es 1890 mit 8 724 Studenten mehr als doppelt soviel. Die neue Studentengeneration wurde anhand naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und exakter Beweise bei ausreichender praktischer Übung für die medizinische Praxis ausgebildet. Sie blickte mitleidig auf die älteren Ärzte herab, deren wichtigstes Handwerkszeug vom Studium her die Beobachtung, der gute Zuspruch und Aderlaß und
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Brechmittel waren. Der Approbierte drang jetzt auch in entlegenere Landstriche vor, deren Bevölkerung früher dem Barbier, dem Wundarzt 2. oder 3. Klasse, Kräuterfrauen, Kurpfuschern und allerlei Scharlatanen ausgeliefert war. Der niedergelassene Arzt beherrschte in der Stadt als »Practischer Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer« den ambulanten Alltag. Dennoch erhöhte sich um 1900 der Anteil der Krankenhausärzte auf etwa zehn Prozent.
     Wurden Gesundheitseinbußen in vorangegangenen Zeiten als gegeben hingenommen, wuchs nunmehr das Bestreben, sie auf irgendeine Weise medizinisch zu kompensieren. All das führte dazu, daß sich ein neuartiges Arzt-Patient- Verhältnis herausbildete. Der über die Sozialversicherung gesicherte Patient wurde zur Haupteinnahmequelle des Arztes, also mußte er eine angemessene Beziehung unter Berücksichtigung der freien Arztwahl zu ihm aufbauen. 1908 widmeten 90 Prozent aller niedergelassenen Ärzte 75 Prozent ihrer Tätigkeit der sogenannten Arbeiterversicherung. Der Konkurrenzdruck zwang die Ärzte dazu, sich über das Wohlwollen des Patienten einen festen Zugang zur Sozialversicherung zu schaffen. 1898 praktizierten in Preußen 24 725 Ärzte (1876: 13 700), wodurch auf einen Arzt nur noch 2 100 Einwohner kamen. Die größte Arztdichte erreichte Berlin mit 2 360 Ärzten (ca. 10 Prozent aller Ärzte) bei 1,9 Millionen Einwohnern,
das waren 826 Einwohner pro Arzt. Die uns heute geläufige Sprechstundenpraxis bürgerte sich um 1900 mehr und mehr gegenüber dem Hausbesuch ein. Damit schränkte sich allerdings der Blick des Arztes auf das häuslich-soziale Umfeld des Patienten gewaltig ein und fiel schließlich ganz weg. Die Ärzte klagten bald über die zu geringen Honorarsätze der Versicherung. Schon 1904 riefen die Leipziger Kassenärzte zu einem Streik auf. Es entstand ein andauerndes Spannungsverhältnis zwischen Kassen, Ärzten und Versicherten.

Quellen:
1     Fjodor Dostojewski, Aufzeichnungen aus einem Totenhaus. Berlin 1987, S. 234
2     C. Huerkamp, Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, H. 68, Göttingen 1985, S. 12

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