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Wolfgang W. Timmler
Unter Moskauer Patriarchat

Der Russisch-Orthodoxe Friedhof in Tegel

Im Norden und Süden grenzt er an Industriebetriebe und einen Getränkemarkt, im Osten an die stark befahrene Bundesautobahn 111 Berlin–Hamburg, kein ruhiger Platz für die Lebenden und kein stiller Ruheplatz für die Toten. Die Rede ist vom Russisch-Orthodoxen Friedhof in der Wittestraße in Berlin-Tegel.
     Im Schatten von Birken liegen die Gräber der Emigranten, der Erzpriester, Generäle, Großgrundbesitzer, Kaufleute, Schriftsteller, unzählige Namen in geheimnisvollen Lettern, aus Stein oder Holz, die Kreuze mit drei Balken, der untere schräg, Wegweiser zum Himmel, viele frische Gräber, eines mit einem weißen Engel, der Stein noch jungfräulich in Folie gehüllt, andere mit schwarz glänzenden Steinen und kleinen Porträtmedaillons, ein buntes Karussell der Gesichter, das Leben ist ein Zustand, der vergeht, und zwischen den Gräbern der Geistliche, in der einen Hand eine kleine Wanne aus Plastik, das Taufbecken, in der anderen eine Kanne mit warmem Wasser, beides trägt er zur Kirche.

Die Sonne scheint, aber der junge Priester sieht aus wie ein Eiszapfen, blaß und durchsichtig, mit schwarzem Haar und dunklen Augen, die er halb schließt, wenn er zuhört. Er steigt die Kirchentreppe hinauf und öffnet die Tür zum Innenraum, zur Schatzkammer, zur Versammlung der Gottesmutter und der Heiligen, verklärt von überirdischem Licht. Der Priester stellt die Plastikwanne und die Kanne auf einen kleinen Tisch, den er mit einem Wachstuch abgedeckt hat. Es ist alles vorbereitet für die Taufe. Ein junges Paar erscheint, der Mann hat etwas auf dem Arm, das eingewickelt ist wie ein Blumenstrauß, das Kind.
     Nachdem eine Verordnung des Magistrats von Berlin die Neuanlage von Friedhöfen im Stadtgebiet aus hygienischen Gründen untersagt hatte, entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Reihe neuer Friedhöfe in Reinickendorf und Tegel, wo die Grundstückspreise niedrig und die sandigen Böden vorteilhaft für die christliche Erdbestattung waren. Die neuen Friedhöfe wurden nach einem einheitlichen Muster angelegt. Den Mittelpunkt des Begräbnisplatzes bildete die Kapelle. Die Grabfelder erschloß ein rechtwinkliges Raster mit zwei Hauptwegen, die sich in dem kleinen Gotteshaus kreuzten. Die Hauptwege wurden als Laubbaumalleen gestaltet, um die Anlage auch räumlich zu gliedern. Mit Ausnahme der Baumbepflanzung fehlten weitere Gestaltungselemente. Auch der Russisch-
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Orthodoxe Friedhof in der Wittestraße 37 in Berlin-Tegel wurde nach diesem einfachen und zweckmäßigen Muster angelegt.
     1718 wurde in Berlin die erste Russisch-Orthodoxe Kirche errichtet. Ihr folgten zahlreiche Kirchenbauten in anderen deutschen Städten. Im 19. Jahrhundert erhielt die Kaiserlich Russische Botschaft in Berlin eine Hauskapelle. Sie war dem Heiligen Apostelgleichen Großfürsten Wladimir geweiht. 1886 wurde der Erzpriester Aleksej Petrowitsch Maltzew (1854–1915) als Blagotschinyi (Probst) an die Botschaft berufen. Er gründete 1890 das Wladimirskoje bratstwo (Wladimir-Bruderschaft), einen Wohltätigkeitsverein, dem reichlich Spenden
zuflossen. Maltzew kaufte von den Zuwendungen ein 20 000 Quadratmeter großes Grundstück in Tegel bei Berlin und ließ einen Friedhof für die Russisch-Orthodoxe Kirchengemeinde anlegen.
     Mit den Entwürfen beauftragte er 1893 den Berliner Architekten Albert Blohm (1853–1933), der sich mit Wohn- und Geschäftshäusern, aber auch mit zahlreichen Grabmonumenten im Stil des Historismus einen Namen gemacht hatte. Nach dem Vorbild altrussischer Kirchen schuf Blohm auf einer Grundfläche von zwölf mal acht Metern eine malerische Friedhofskapelle aus gelbem Backstein mit blau gestrichenen Kupferdächern. Für das Friedhofsportal
Priester steigt die Stufen zur Konstantin-und- Helena-Kapelle hinauf
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Grab von Hochwürden Grigori Prosorow (1864-1942)

entwarf er eine reich verzierte Holzgiebelkonstruktion mit Glockenstuhl, dem Pfarrhaus gab er die Gestalt eines altrussischen Blockhauses.
     Es war eine romantische Bühnenarchitektur, wie geschaffen für eine Volksoper von Michail Glinka, dem russischen Komponisten, der in Berlin verstorben war und dem später, wohl um 1910, ein Denkmal auf dem Friedhof gesetzt wurde. Um die Illusion perfekt zu machen, ließ Probst Maltzew 4 000 Tonnen russischer Erde nach Tegel schaffen, damit die Toten in heimatlichem Boden ruhen konnten. 1894 waren die Bauarbeiten abgeschlossen. Am 3. Juni, dem 21. Mai nach dem alten Julianischen Kalender, der für die russisch-orthodoxe Kirche bis heute verbindlich ist, wurden der Friedhof und die mit kostbaren Ikonen ausgestattete Konstantin-und- Helena-Kapelle eingeweiht.
     Der Erste Weltkrieg bedeutete das Ende für die Russisch-Orthodoxe Gemeinde in Berlin. Am 1. August 1914 erklärte das deutsche Kaiserreich Rußland den Krieg und wies alle Russen aus dem Land. Auch Probst Maltzew mußte
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Figurenschmuck einer neueren Grabstätte
nach Moskau zurückkehren. Die kircheneigenen Grundstücke kamen unter Zwangsverwaltung.
     Das Gemeindeleben ruhte lange Zeit und blühte erst wieder auf, als in den zwanziger Jahren russische Emigranten nach Berlin strömten. Um 1938 zählte die Gemeinde in Tegel 135 Mitglieder. Im Dritten Reich wurden die Russisch-Orthodoxen Gemeinden in Deutschland geduldet, bisweilen sogar gefördert, weil sie wie die nationalsozialistischen
Machthaber das Sowjetsystem ablehnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel die Konstantin-und- Helena-Kapelle an das Moskauer Patriarchat. Auf Druck der Westalliierten erwarb das Land Berlin die Grundstücke und Gebäude der Kirchengemeinde, überließ aber dem Moskauer Patriarchat das Hausrecht, das es bis heute ausübt.

Bildquelle: Fotos Autor

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