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Herbert Mayer
Im Dienste des Liberalismus

Der Politiker Friedrich Naumann (1860–1919)

1919 stand Friedrich Naumann auf dem Höhepunkt seiner politischen Karriere, war er doch am 22. Juli in Berlin zum Vorsitzenden der Deutschen Demokratischen Partei gewählt worden – in sein erstes bedeutendes politisches Amt. Völlig unerwartet verstarb er vier Wochen später, am 24. August 1919 während eines Ostseeurlaubs in Travemünde, an den Folgen eines Schlaganfalls. Naumann war ein glänzender Redner und erfolgreicher Buchautor, und er war ein Politiker, der politische Aktivität als eine Menschenpflicht verstand. Auf ihn oder Teile seiner Auffassung beriefen sich später Politiker und Publizisten unterschiedlicher Couleur.1)
     Friedrich Naumann wurde als ältestes von acht Geschwistern am 25. März 1860 in Störmthal bei Leipzig geboren. Er entstammte einer evangelischen Familie, sein Vater war Pfarrer, sein Großvater ebenfalls. Nach der Volksschule in Lichtenstein besuchte er das Nikolai-Gymnasium in Leipzig, dann die Fürstenschule St. Afra in Meißen.


Friedrich Naumann mit seiner Verlobten, 1889

 

Die Studienwahl geschah nicht ohne innere Zerrissenheit, denn Mathematik war in der Schule sein Lieblingsfach, auch Zeichnen bereitete ihm Freude. Schließlich blieb er in der familiären Tradition und studierte 1879 bis 1883 in Leipzig und kurzzeitig in Erlangen Theo-

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logie, besuchte aber auch Vorlesungen zur Nationalökonomie und Pädagogik.
     In der Studienzeit nahm er das Gedankengut der christlich- sozialen Bewegung auf, dessen bekanntesten Vertreter Adolf Stoecker (1835–1909; siehe BM 3/99) er 1881 kennenlernte. Im gleichen Jahr beteiligte sich Naumann an der Gründung des »Vereins Deutscher Studenten«, den er um die Jahrhundertwende verließ, als sich der Verein der antisemitischen Bewegung anschloß.
     Nach Abschluß der ersten theologischen Examina arbeitete er 1883 bis 1885 als Oberhelfer in einem Heim für gefährdete Jugendliche, dem »Rauhen Hause« der Inneren Mission in Hamburg. Nachdem er am Leipziger Predigerseminar die letzten theologischen Prüfungen ablegte, nahm Naumann im Frühjahr 1886 eine Pfarrstelle in Langenberg bei Glauchau an. Nach vier Jahren wechselte er 1890 zur Inneren Mission in Frankfurt am Main als Vereinsgeistlicher. Zuvor hatte er 1889 geheiratet, seine Frau Magdalene Zimmermann kam ebenfalls aus einer Pfarrersfamilie.
     Konfrontiert mit den Problemen, Sorgen und Nöten der arbeitenden kleinen Leute, bekamen seine Vorstellungen vom Christentum eine starke soziale Komponente. Die Beschäftigung mit den sozialen und ökonomischen Tagesproblemen führte ihn schließlich immer mehr in die Politik, zu seinem politischen und publizistischen Engagement für die christlich-soziale Bewegung.2)
Allmählich wurde er als Redner und Autor bekannt. Größere Aufmerksamkeit erreichte er erstmals mit einer Rede auf einem Kongreß der Inneren Mission 1888 in Kassel. 1889 erschien sein »Arbeiterkatechismus oder der wahre Sozialismus«, in dem er im Sinne eines Christlichen Sozialismus für Rechte der Arbeiter, für soziale Freiheit und Gleichheit, für soziale Reformen eintrat.
     Ziel der christlich- sozialen Bewegung war es, Christentum und Sozialismus, Kirche und Arbeiterbewegung miteinander auszusöhnen. Sein Buch »Jesus als Volksmann« von 1894 fand eine große Leserschaft. Naumann befaßte sich intensiv mit marxistischer Literatur, las Marx (1818–1883), Engels (1820–1895), Lassalle (1825–1864), Bebel (1840–1913) und andere Sozialisten und war von deren ökonomischen Anschauungen beeindruckt. Auch Auffassungen von Max Weber (1864–1920), den er auf dem Evangelisch-Sozialen Kongreß 1893 kennenlernte, und von Rudolph Sohm (1841–1917) beeinflußten ihn. Er geriet in Gegensatz zu Stoecker, dessen enge Bindungen an die Konservativen und dessen Antisemitismus er ablehnte, und löste sich von der christlich- sozialen Bewegung.
     Im November 1896 zählte Naumann zu den Mitbegründern des Nationalsozialen Vereins. Mit ihm verband er seine Hoffnung, Nationalismus, Liberalismus und Sozialismus miteinander verknüpfen zu können. Er widmete sich nun ganz der Politik und
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Schriftstellerei. Die Programmatik des Nationalsozialen Vereins war maßgeblich von ihm bestimmt. Er legte sie in mehreren Werken dar, vor allem im »Nationalsozialen Katechismus«, den er 1897 als Erklärung der Grundlinien des Vereins veröffentlichte, in »Demokratie und Kaisertum« 1900 und in »Briefen zur Religion« 1903. Dabei wollte Naumann eine »Politik der Macht nach außen und der Reformen nach innen« miteinander verbinden. Auf ein »soziales Kaisertum« hoffend, erstrebte er eine »nationalsoziale« Gemeinschaft von Monarchie, Staat und Arbeiterbewegung. Naumann, der die chauvinistische Großmachtpolitik des Kaiserreichs unterstützte, stand aber mit seinem Verein zwischen den Fronten: Er fand weder unter der Arbeiterschaft noch unter dem industriellen Bürgertum eine große Anhängerschar, der Kaiser war keineswegs gewillt, sich auf die Demokratie einzulassen.
     1897 schied Naumann aus dem Pfarramt aus und siedelte nach Berlin über – genauer gesagt nach Schöneberg, damals ein Berliner »Vorort«. Er zog zunächst in ein Haus in der Kaiser-Friedrich- Straße (dem heutigen Willmanndamm), wo er auch Verlag und Redaktion seiner 1895 gegründeten Zeitschrift »Die Hilfe« unterbrachte. »Die Hilfe«, die im Laufe der Jahre mit verschiedenen Untertiteln erschien, war eine Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst, mit der er seine Ideen verbreiten konnte. 1900 verzog er in
die Geßlerstraße und anschließend in die Hohenfriedbergstraße. In seinem Schöneberger Verlag gab er die »Patria. Jahrbücher der Hilfe« wie auch die Wochenzeitung »Die Zeit« heraus.
     Friedrich Naumann griff nicht direkt in das lokalpolitische Geschehen in Schöneberg und seiner als »Insel« bezeichneten Wohngegend ein. Er sammelte jedoch politisch Gleichgesinnte um sich, die zum Teil in der Schöneberger Kommunalpolitik aktiv waren. Theodor Heuss (1884–1963), der erste Präsident der Bundesrepublik Deutschland, war wohl der prominenteste Schüler und Mitarbeiter von Naumann.
     Naumanns Hoffnung, in den Reichstagswahlen 1898 und 1903 in das Parlament einzuziehen, hatte sich nicht erfüllt. Ein Trost mag gewesen sein, daß er 1903 von der Universität Heidelberg die Ehrendoktorwürde der Theologie erhielt. 1903 löste sich der Nationalsoziale Verein auf, Naumann und die Mehrheit seiner Mitglieder schlossen sich der linksliberalen Freisinnigen Vereinigung an, eine Minderheit ging zur SPD.
     Seinen Übergang zum Liberalismus begründete er 1911 rückblickend in seiner Schrift »Freiheitskämpfe«: »Der Ausgangspunkt meiner politischen Gedanken ist die Sozialpolitik. Ich gehöre zu denen, die vom Rhythmus der Arbeiterbewegung erfaßt wurden und denen die Lehre von Marx viele neue Gesichtspunkte gab. Ich hätte zur Sozialdemokratie gehen können, wenn diese
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für die nationale Macht des Deutschtums Verständnis gezeigt hätte. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie habe ich mit meinen Freunden mich nationalsozial genannt. Als sich nun zeigte, daß zwischen Sozialdemokratie und Liberalismus eine besondere Parteigruppe nicht herstellbar war, bin ich zum Liberalismus gegangen, weil ich bei aller Kenntnis seiner Schwäche ihn für wichtiger und notwendiger für die deutsche Zukunft halte als die Sozialdemokratie.«3)
     Bevor Friedrich Naumann 1907 erstmals als Abgeordneter in den Reichstag – für den Wahlkreis Heilbronn – einzog, wechselte er im Herbst 1906 nochmals seinen Wohnsitz in Schöneberg. Wiederum waren die Verlagsräume im selben Haus untergebracht. In der »Hilfe« vom 30. September 1906 war zu lesen: »Da die bisherigen Räume für die wachsende Arbeit zu klein geworden sind, ist die Redaktion und Expedition der >Hilfe< umgezogen. Die neue Adresse lautet Schöneberg bei Berlin, Königsweg 6.«
     Nicht vergessen werden sollte Naumanns Anteil an der Gründung des »Deutschen Werkbundes« 1907. Ziel des Vereins von bildenden Künstlern, Architekten, Industriellen, Kaufleuten und Schriftstellern war die »Veredelung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk durch Erziehung, Propaganda und geschlossene Stellungnahme zu einschlägigen Fragen«.4)
     Im Reichstag machte Naumann sofort als
Redner auf sich aufmerksam, aber auch mit seiner sozialrechtlichen Tätigkeit in verschiedenen Ausschüssen. Im Vordergrund seines Wirkens stand der Zusammenschluß der liberalen Kräfte. Er wurde zum eigentlichen Erneuerer des Liberalismus in Deutschland nach der Jahrhundertwende. In dieses Ziel stellte er auch »Die Hilfe«: »Die Hilfe steht auf nationalem Boden und tritt für eine kräftige äußere Politik ein, in der Erkenntnis, daß alle politische Machtentfaltung unseres Volkes nach außen hin die Grundbedingung aller großen sozialen Reformen im Innern ist. Die Hilfe erstrebt den festen Zusammenschluß aller liberal gesinnten Elemente gegen alle egoistischen Interessen der begüterten Klassen für eine energische Vertretung der berechtigten Forderungen der wirtschaftlich Schwächeren, insbesondere für eine gerechte Verteilung der Steuerlasten.«5)
     Naumann hatte maßgeblichen Anteil daran, daß sich 1910 die linksliberalen Parteien zur Fortschrittlichen Volkspartei zusammenschlossen. Politisch war ihm nun vor allem ein parlamentarisches Regierungssystem, eine Liberalisierung und Reformierung des Kaiserreichs wichtig, wirtschaftlich plädierte er für einen modernen Industriestaat.
     Im Ersten Weltkrieg setzte sich Naumann für den »Burgfrieden« ein. 1915 erschien sein umstrittenes Buch »Mitteleuropa«. In diesem damals viel, wenn nicht gar am meisten gelesenen politischen Buch legte er seine
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Interpretation der deutschen Kriegsziele dar: eine Neuordnung Europas, vor allem in seinem Zentrum und im Südosten. Deutschland sollte sich auf das Festland zurückziehen, aber unter seiner Führung ein fest gefügter Verbund mit gemeinsamer Wirtschaftsordnung und militärischer Verteidigung in Mitteleuropa entstehen. Ihm sollten Deutschland und Österreich-Ungarn, aber auch Polen und Balkanstaaten angehören.
     In den Kriegsjahren baute er auch Beziehungen zu Führungen von SPD und Gewerkschaften aus. Die Entstehung des Interfraktionellen Ausschusses des Reichstages, dem Parlamentarier der Sozialdemokratie, des Zentrums und der Liberalen angehörten, ging maßgeblich auf ihn zurück. Als im Juli 1917 der Reichstag die sogenannte Friedensresolution annahm, war er an der Formulierung des Textes beteiligt – ihren Zweck sah er in einem Verständigungsfrieden ohne Annexionen. Auch für Verfassungsreformen und die Demokratisierung des preußischen Wahlrechts setzte er sich während des Krieges weiter ein.
     Nach Kriegsende war er weiter bestrebt, die liberalen Kräfte zusammenzuführen. 1918 gehörte er zu den Mitbegründern der Deutschen Demokratischen Partei. Von ihr als Vertreter Berlins aufgestellt, wurde er in die Verfassunggebende Nationalversammlung gewählt. Aktiv hatte er an der Entstehung der Weimarer Verfassung, v. a. an den
Artikeln über die Grundrechte, mitgewirkt. Die Fixierung der Rechtsstellung der Kirchen im parlamentarischen Staat als Körperschaft des öffentlichen Rechts geht wesentlich auch auf Naumann zurück. Sein etwas illusionärer »Versuch volksverständlicher Grundrechte« wurde zurückgewiesen und nicht in die Verfassung aufgenommen. Das Verhältniswahlrecht lehnte er damals ab. Heftig polemisierte er gegen den Versailler Vertrag.
     1918, kurz vor Kriegsende, hatte Naumann in Berlin mit finanzieller Unterstützung von Robert Bosch (1861–1942) die »Staatsbürgerschule« gegründet. Mit ihr wollte er die Bürger zur Demokratie erziehen und zu aktiver Politik befähigen. Sie war der Vorläufer der 1920 begründeten Deutschen Hochschule für Politik, aus der 1959 das Otto-Suhr- Institut der Freien Universität Berlin hervorging.
     Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte vor allem die FDP zu den politischen Kräften, die an Naumanns politisches Erbe anknüpfte. Nach ihm benannt wurde die 1958 gegründete FDP-nahe Friedrich-Naumann- Stiftung in Gummersbach, die in ihren Satzungen u. a. festschrieb, »Wissen im Sinne der liberalen, sozialen und nationalen Ziele Friedrich Naumanns zu vermitteln«.6)
     In Berlin erhielt Naumann ein Ehrengrab auf dem Alten Kirchhof der Zwölf-Apostel- Gemeinde in der Kolonnenstraße. Der Königsweg, in dem Naumann einst wohnte, heißt heute Naumannstraße.
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Quellen und Anmerkungen:
1     Vgl. Barthold Witte, Friedrich Naumann und die Zukunft der Liberalen. In: Friedrich Naumann. Persönlichkeit und Werk, Königswinter 1994, S. 13. Über Friedrich Naumanns Biographie und Lebenswerk existiert eine umfangreiche Literatur, umfassend dazu vor allem Theodor Heuss: Friedrich Naumann (1937, 1968); ders., Friedrich Naumanns Erbe; ders., Friedrich Naumann und die deutsche Demokratie; ders., Das war Friedrich Naumann. Vorliegende Skizze basiert auf einer Auswahl von vorliegenden Arbeiten zu Naumann, lokalgeschichtlichen Publikationen sowie Materialien aus dem Schöneberg Archiv.
2     Zu verschiedenen Aspekten seiner Auffassungen ist eine Fülle von Spezialliteratur erschienen. Fragmentarisch seien nur erwähnt Jürgen Christ, Staat und Staatsraison bei Friedrich Naumann; Dieter Düding, Der Nationalsoziale Verein; Ingrid Engel, Gottesverständnis und sozialpolitisches Handeln; Walter Göggelmann, Christliche Weltverantwortung zwischen sozialer Frage und Nationalstaat; Wilhelm Happ, Das Staatsdenken Friedrich Naumanns; Beatrix Loew, Friedrich Naumann 1860–1919; W. Schmidt, Die Entwicklung des politiktheoretischen Denkens Friedrich Naumanns; Stefan-Georg Schnorr, Liberalismus zwischen 19. und 20. Jahrhundert; Peter Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Verwiesen sei auch auf Alfred Milatz, Friedrich-Naumann- Bibliographie.
3     Friedrich Naumann, Freiheitskämpfe, zit. nach: Friedrich Naumann über Arbeiterschaft und Staat, Leipzig-Berlin 1929, S. 2.
4     Vgl. Der Deutsche Werkbund, Berlin 1997.
5     Die Hilfe, 1909, zit. nach Faksimile in: Die Rote Insel, Berlin 1989, S. 85.
6     Friedrich-Naumann- Stiftung: Die Satzung, o. O., O. J.

Bildquelle: Friedrich-Naumann- Stiftung

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