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Gerhard Keiderling
Berater aus Berlin und ihr Auftrag

Der alliierte Berlin-Vorbehalt von 1949

Am 8. Mai 1949, kurz vor Mitternacht, nahm der Parlamentarische Rat in der Bonner Pädagogischen Akademie, dem späteren »Bundeshaus«, das »Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland« mit 53 gegen 12 Stimmen an. In der Schlußsitzung des Parlamentarischen Rates am 23. Mai 1949 wurde in Anwesenheit von Vertretern der Westmächte das Grundgesetz von allen Abgeordneten, die zwei KPD-Abgeordneten ausgenommen, unterschrieben und vom Präsidenten Konrad Adenauer ausgefertigt und verkündet.
     Zu den Einwänden, die die Westmächte in ihrem Genehmigungsschreiben zum Grundgesetz geltend machten, gehörte ein Berlin-Vorbehalt. In der Fassung vom 22. April 1949 lautete er: »Die Außenminister können gegenwärtig nicht zustimmen, daß Berlin als ein Land in die ursprüngliche Organisation der deutschen Bundesrepublik einbezogen wird.«1) Dieser Vorbehalt war zum einen in der westalliierten Rechtsauffassung und zum anderen in der Entstehung des Grundgesetzes begründet.

Aus der Sicht der Westmächte blieb ganz Berlin auch nach dem Zusammenbruch der Viermächte- Kontrolle im Frühjahr 1948 ein von den Besatzungszonen getrenntes Sondergebiet. Die US-Militärregierung stellte im November 1947 klar: »Jedes Argument, daß es sich beim US-Sektor von Berlin um ein Land der US-Zone handelt, entbehrt jeglicher Grundlage.«2) An der These von der 5. Besatzungszone mußten die Westmächte festhalten, weil sie inzwischen mit der Sowjetunion, die ganz Berlin währungs- und verwaltungspolitisch in ihre Zone zu integrieren trachtete, in einen offenen Konflikt geraten waren.
     Den Auftrag zur Bildung eines westdeutschen Staates erteilten die drei Militärgouverneure am 1. Juli 1949 nur den Ministerpräsidenten der elf westdeutschen Länder. Trotzdem luden diese zu ihrer Vorbesprechung auf dem Rittersturz bei Koblenz vom 8. bis 10. Juli 1948 auch die amtierende Oberbürgermeisterin von Berlin, Louise Schroeder (SPD), mit »beratender Stimme« ein. Unter Hinweis auf die verworrene Berliner Situation, wo die Sowjets soeben die Blockade veranlaßten, bat sie die Ministerpräsidenten, eine staatliche Neuordnung vorerst im Westen einzuleiten, und wünschte ihnen eine erfolgreiche Arbeit »für Ihre drei Zonen, für Ihre Länder«.3)
     Als am 21. und 22. Juli 1948 die elf Ministerpräsidenten erneut im Jagdschloß Niederwald bei Rüdesheim zusammenkamen,
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erschien als »Gast« aus Berlin Stadtrat Ernst Reuter (SPD), der 1947 gewählte, von den Sowjets aber nicht anerkannte Oberbürgermeister. Im Gegensatz zu seiner Genossin bedrängte er die Länderchefs, ihre »Provisorium«-Debatte zu beenden und mit aller Entschlossenheit einen »Kernstaat« zu schaffen, dem die Ostzone als eine Irredenta baldigst anzuschließen sei. Berlin als vorgeschobener Posten sollte bis zur »Rückkehr des Ostens zum gemeinsamen Mutterland« bereits 12. Mitglied in diesem Staatsverband sein. Ohne Umschweife erklärte Reuter: »Wir haben in unserer Stadtverordnetenversammlung, die Ihrem Parlament, Ihrem Landtag entspricht, die Absicht, für die Stadt Berlin, nicht nur für die drei Westsektoren, eine Delegation in diese beratende Körperschaft zu entsenden, um an der Ausarbeitung dieser Verfassung mit teilzunehmen. Endgültige staatsrechtliche Entscheidungen darüber, ob Berlin als Land definitiv korporiert werden soll und kann, können heute nicht gefällt werden, weil heute unsere Situation vollkommen ungeklärt ist und niemand von uns übersehen kann, was sich ereignen wird. Wir möchten aber auf keinen Fall durch Abwesenheit dazu beitragen, ... ins Hintertreffen zu kommen.«4)
     Die im Jagdschloß Versammelten nahmen die Botschaft zustimmend auf, auch wenn der Ministerpräsident von Württemberg-Baden, Reinhold Maier (DVP, später FDP), einwarf: »Es mag vielleicht etwas grotesk an-
muten, daß man sagt, zu den drei Westzonen gehört Berlin.«5) Was ihnen an Reuters Idee gefiel, war die Aussicht, nicht unter dem Odium der Spaltung Deutschlands handeln zu müssen. Sie hätten in letzter Zeit nur zu oft von Berliner Vertretern gehört: »Was, Ihr wollt einen deutschen Staat im Westen schaffen und wollt uns auf diese Weise sozusagen verraten?« In diese Stimmung hätte Reuter nun »eine gewaltige Bresche geschlagen«.6)
     Was die Länderchefs damals nur ahnten, ist für die Historiker unbestreitbar: Ernst Reuter entledigte sich im Jagdschloß Niederwald eines Auftrags. Der US- Militärgouverneur General Clay war mit der schleppenden Ausführung der Frankfurter Dokumente höchst unzufrieden. Den Ministerpräsidenten las er schon am 14. Juli 1948 die Leviten: »Wenn wir im Westen nicht hier wären, wären Sie längst russisch.«7) Wie Willy Brandt, damals Berlin-Beauftragter der SPD (vgl. BM 1/98), aus US-Kreisen erfuhr, zeigte sich Clay enttäuscht: »Jetzt fühle er sich von den Deutschen im Stich gelassen ... Das würde sich auch negativ auf die Bereitschaft der Amerikaner, Berlin zu halten, auswirken können.«8) Clay ließ Reuter, »damals für das amerikanische Hauptquartier wohl der wichtigste Mann in Deutschland«,9) nach Rüdesheim reisen, um den zaudernden Länderchefs den Marsch zu blasen. Ob dieser auch zu solch weitgehenden Erklärungen hinsichtlich der Rechtslage Berlins befugt
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gewesen war, ist fraglich. Die Berliner Situation war im Juli 1948 noch offen. Die Westmächte demonstrierten ihre Entschlossenheit, in der Stadt zu bleiben, mit der Luftbrücke, hielten dennoch einen Kompromiß für möglich (vgl. BM 6/98). Reuters Anliegen wurde auch »nicht im Magistrat erörtert, in dem die Kommunisten noch vertreten waren, und hatte also keinen >offiziellen< Charakter«.10) Später rechtfertigte er sein Vorgehen so: »Wenn ich an die Zeit zurückdenke, die vor dem Entstehen der Bundesrepublik liegt, im Sommer 1948, wie ich zum ersten Mal auf der Konferenz der Ministerpräsidenten aufgetreten bin – ob legal oder nicht, das weiß ich nicht genau, denn ich war nicht Bürgermeister –, aber frech wie man sein muß, habe ich gesagt, wo ich bin, ist Berlin.«11)
     In der Tat hatte Reuters forsches Auftreten im Jagdschloß Niederwald bewirkt, daß Berlin – ab Herbst 1948 realiter West-Berlin – in die Weststaatgründung mitgestaltend eingebunden wurde. Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, der im August 1948 einen Entwurf für ein Grundgesetz erarbeitete, empfahl: »Grundsätzlich soll jeder Teil Deutschlands auf seinen Wunsch aufgenommen werden können. Groß-Berlin aber, dessen Gebiet nach dem Willen der Militärgouverneure vorläufig nicht unmittelbar einbezogen werden soll, soll nach dem Willen der Ministerpräsidenten (sic! – G. K.) schon jetzt eine besondere Berücksichtigung erfahren.«12)
Damit war ein Doppelkonflikt vorgezeichnet. Groß-Berlin konnte man nicht einfach gegen den Willen der Westmächte zu einem »Glied des Bundes« deklarieren. Auch war völlig ungeklärt, unter welchen Konditionen die Stadt, die vor der Spaltung stand, überhaupt aufgenommen werden könnte und welche Reaktionen dies auf östlicher Seite auslösen würde.
     Zur konstituierenden Sitzung des Parlamentarischen Rates am 1. September 1948 in Bonn erschienen »Vertreter Groß-Berlins« mit beratender Stimme. Präsident Adenauer bat die fünf »Herren aus Berlin« Platz zu nehmen: »Es sind noch einige Sessel frei.«13) Diese fünf Herren – Paul Löbe, Ernst Reuter, Otto Suhr (alle SPD), Jakob Kaiser (CDU) und Hans Reif (FDP) – verfügten über kein Mandat ihres Stadtparlamentes; es wurde erst am 6. September 1948, nachdem sich die Fraktionen von SPD, CDU und FDP in den britischen Sektor zurückgezogen hatten (vgl. BM, 11/98), nachgereicht. Die Konstituante zu Bonn nahm daran keinen Anstoß.
     Nach fünfmonatiger Arbeit lag im Februar 1949 ein Grundgesetzentwurf vor, der ein »aktives Mitwirken von Groß-Berlin im Bund« vorsah. Die Verfassungsväter – die meisten westdeutschen Vertreter hatten sich dazu erst durchringen müssen – hielten die politischen Umstände für günstig: Berlin war gespalten, die Luftbrücke ein bombastischer Erfolg, und die Sowjets fügten sich in ihr Los. In den westlichen Hauptstädten
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prüfte man jedoch die Lage streng. Washington wollte Moskau, mit dem es gerade Geheimverhandlungen über ein Blockadeende aufgenommen hatte, nicht brüskieren. Andererseits dachte es an die Zeit danach: Wie sollte die Insel West-Berlin lebensfähig sein, auf wessen Tasche sollte es liegen? Paris wiederum, das die Weststaatbildung mit großer Besorgnis verfolgte, wünschte, daß »Berlin« mit keinem Wort im Grundgesetz erscheinen dürfe, da in dieser Frage »der Parlamentarische Rat seine Vollmacht überschritten hatte«.14)
     Die drei Außenminister, die im Anschluß an die NATO-Gründung Anfang April 1949 in Washington zusammenkamen, einigten sich schließlich auf die eingangs zitierte Formel, die die drei Militärgouverneure einer Delegation des Parlamentarischen Rates am 26. April 1949 übermittelten. Die beiden anwesenden Berliner Vertreter Jakob Kaiser und Otto Suhr durften auf Anweisung des französischen Militärgouverneurs nicht am Tisch Platz nehmen. Suhr beklagte sich bitter, daß der »Berliner Stuhl vor der Tür« geblieben sei.15)
     Zum drittenmal teilten die Militärgouverneure dem Parlamentarischen Rat am 12. Mai 1949 mit, daß Berlin nicht vom Bund regiert werden darf. Eine Änderung des Verfassungstextes erfolgte nicht. In der gültigen Fassung des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949 wurde in der Präambel »Groß-Berlin« aus der Aufzählung der Bundesländer zwar ge-
strichen, doch tauchte es in Artikel 23 (Geltungsbereich), Artikel 144, Absatz 2 (Ratifizierung), und Artikel 145 (Verkündung) wieder auf. Die Vorbehalte der Alliierten erschienen als ergänzende Dokumente.
     Von nun an operierten Völker- und Staatsrechtler mit dem anfechtbaren Argument, nach deutschem Recht sei Berlin schon ein Bundesland, nach westalliiertem Recht leider noch nicht.
     Ein entsprechendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Mai 1957 folgte mehr dem Wunschdenken als der Rechtslage. Die »Erklärung über Berlin« vom 5. Mai 1955 hatte zuvor die Vorbehalte bekräftigt. Sie prolongierte das »Kleine Besatzungsstatut« vom 14. Mai 1949 im selben Moment, wo für die Bundesrepublik alle besatzungsrechtlichen Einschränkungen aufgehoben wurden. Die Alliierten bestanden auf ihrem Vorbehalt nicht nur, um der Sowjetunion gegenüber den Fortbestand des Viermächtestatus für ganz Berlin zu demonstrieren, sie regierten auch direkt in Westberliner Angelegenheiten hinein. Deutlicher konnte die jahrzehntelange Sonderstellung Berlins im Bund – wie der Hamburger Völkerrechtler Ingo von Münch unlängst einräumte, handelte es sich immer nur um eine Umschreibung für West-Berlin – nicht dokumentiert werden.
     Die Unnatürlichkeit der Rechtslage in und um Berlin fand ein überraschendes Ende mit der deutschen Einigung 1990. Erst jetzt,
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nachdem die alliierten Vorbehaltsrechte aufgehoben und der West- und der Ostteil der jahrzehntelang gespaltenen Stadt vereinigt worden waren, konnte das neue »Land Berlin« seine volle Rechtseinheit mit der Bundesrepublik verwirklichen und damit auch sämtliche Rechtsvoraussetzungen für den Hauptstadt-Beschluß des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 schaffen.

Anmerkungen:
1     Dokumente zur Berlin-Frage 1944–1966, München 1967, Dok. 85, S. 113
2     Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1949, Bd. 1, München 1976, S. 1102, Anm. 19
3     Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Boppard 1974, Bd. I, Nr. 6, S. 63
4     Ebenda, Nr. 11, S. 192
5     Ebenda, Nr. 6, S. 78
6     Ebenda, Nr. 11, S. 196 f.
7     Ebenda, Nr. 8, S. 152
8     Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert- Stiftung, Bonn-Bad Godesberg, Bestand Schumacher, Nr. 126 b, Bericht Nr. 66 vom 13. 7. 1948
9     Hans-Peter Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, Neuwied 1966, S. 616

10     Willy Brandt/Richard Löwenthal, Ernst Reuter. Ein Leben für die Freiheit. Eine politische Biographie, München 1957, S. 473
11     Ernst Reuter. Vierter Band. Reden, Artikel, Briefe 1949 bis 1953, Berlin 1975, S. 440
12     Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 2: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, Boppard am Rhein 1981, S. 507
13     Parlamentarischer Rat. Stenographische Berichte, Bd. 1, Bonn 1948/49, S. 4
14     Foreign Relations of the United States. Diplomatic Papers 1949, Washington 1974, Bd. III, S. 206
15     Ebenda, S. 261
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