64   Porträt Erich Wernicke  Nächste Seite
Manfred Stürzbecher
Mitentdecker des Diphtherie-Serums

Der Arzt Erich Wernicke (1859-1928)

Wenn in der Medizin heute der Name Wernicke genannt wird, denkt man zunächst an den Nervenarzt Carl Wernicke (1848-1905), der durch sein Wirken Neurologie und klinische Medizin entscheidend und auf Dauer beeinflußt hat. Sein zeitgenössischer Namensvetter Erich Wernicke ist dagegen weitgehend nur noch den Immunologen und Mikrobiologen ein Begriff.
     Erich Arthur Emanuel Wernicke wurde am 20. April 1859 als Sohn des Gymnasiallehrers Julius Wernicke in Friedeberg/ Neumark geboren. Nach Abschluß seiner Schulbildung auf dem Progymnasium in seiner Vaterstadt und dem Gymnasium in Landsberg an der Warthe, wo er am 28. August 1879 die Reifeprüfung ablegte, ging er an die Medizinisch-Chirurgische Akademie für das Militär - das Friedrich-Wilhelms- Institut, bekannt als Pépinière - in Berlin und erhielt dort und an der Friedrich-Wilhelms- Universität von 1879 bis 1883 seine medizinische Ausbildung. Zu seinem Kurs im Wintersemester 1879/80 gehörte auch Adolf Passow




(1859-1926), der spätere Ordinarius und Direktor der Ohrenklinik der Charité. Emil Behring (1854-1917), der später in seinem Leben eine große Rolle spielen sollte, gehörte nicht zu seinen Kurskameraden und Studienfreunden. Ob sie sich im Rahmen einer studentischen Verbindung kennengelernt

SeitenanfangNächste Seite


   65   Porträt Erich Wernicke  Vorige SeiteNächste Seite
haben, bedarf noch der Untersuchung. Behring gehörte dem Friedrich-Wilhelms-Institut von Michaelis 1874 bis 1878 an und wurde erst 1889 wieder an das Institut kommandiert. Sie befreundeten sich wahrscheinlich erst später als Militärärzte auf einem Kommando an das Institut von Robert Koch (1843–1910; BM 12/98). Während ihrer Ausbildung scheinen auch sonst keine gemeinsamen Interessen bestanden zu haben.
     Vom 1. April bis 30. September 1880 diente Wernicke als Einjährig-Freiwilliger mit der Waffe beim Kaiser Alexander Garde-Grenadier- Regiment Nr. 1, 4. Kompagnie. Als Unterarzt war er im 4. Westfälischen Infanterie-Regiment Nr. 17 in Mülhausen/ Elsaß eingesetzt, gleichzeitig war er aber auch »auf ein Jahr zur Dienstleistung an das Charité- Krankenhaus commandiert«, wo er wenigstens zeitweise an der Kinderklinik von Otto Heubner (1859–1926) arbeitete.
     Von der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms- Universität wurde Wernicke auf Grund einer Dissertation »Ueber foetale Hydrocephalie in geburtshilflicher Beziehung« aus der Gusserowschen Klinik im Umfang von 48 Seiten, die in der Buchdruckerei N. Niethe in der Kurstraße 18/19 gedruckt worden war, am 9. Mai 1885 promoviert. Am Ende der Studie erklärte Wernicke: »Zum Schluß erfülle ich die angenehme Pflicht Herrn Dr. Wyder für die Anregung und die liebenswürdige Unterstützung bei der Arbeit meinen besten Dank auszu-
sprechen.« Der Schweizer Theodor Alois Wyder (1853–1926) war ein Schüler von Adolf Gusserow (1836–1906) und Franz von Winckel (1837–1907) in Dresden, hatte 1882 in Zürich habilitiert, wirkte von 1884 bis 1888 als Privatdozent in Berlin bei Gusserow und wurde 1888 Ordinarius in Zürich. Als Opponenten bei der Promotion fungierten der Doktorand Ulrich Hagen (geb. 1861, später Generaloberarzt in Insterburg) und Dr. med. Alfred Dührssen (1862–1933), der sich später als Frauenarzt in Berlin einen Namen machen sollte, und ein Doktorand O. Thiel, über dessen späteren beruflichen Lebensweg keine weiteren Daten ermittelt werden konnten. Er ist auch nicht in der Stammliste der Kaiser-Wilhelms- Akademie aufgeführt.

Als Militärarzt ans Institut von Robert Koch

Die Angaben über Wernickes militärärztliche Karriere sind in der Literatur relativ spärlich. Am 21. April 1885 erhielt er die Approbation als Arzt und wurde am 1. September 1885 zum Assistenzarzt befördert. Zeitweise war er Arzt beim Pommerschen Füsilier-Regiment in Bromberg.
     1890 wurde er an das Hygienische Institut der riedrich-Wilhelms- Universität zu Robert Koch kommandiert. Dort traf er mit dem bereits 1889 an das Institut abkommandierten Stabsarzt Emil Behring zusammen, der sich schon seit einiger Zeit mit der Be-

SeitenanfangNächste Seite


   66   Porträt Erich Wernicke  Vorige SeiteNächste Seite
kämpfung der Diphtherie beschäftigt hatte. Hans Zeiss (1888–1949) und Richard Bieling (1888–1967) haben 1940 in »Behring Gestalt und Werk« im Stile der damaligen Zeit sowohl die Persönlichkeit als auch die Vorgeschichte der Blutserumtherapie geschildert, wobei die Beiträge anderer Forscher, insbesondere wenn sie – wie Paul Ehrlich (1854–1915) – Juden waren, weitgehend verschwiegen wurden.
     Bernhard Moellers (1878–1945), ebenfalls ein Schüler Robert Kochs, hat im Reichsgesundheitsblatt auf den Anteil Wernickes an den Versuchen zur Gewinnung des Diphtherie-Serums hingewiesen, wobei er sich auch auf Aussagen Wernickes, mit dem er korrespondiert hatte, stützen konnte.

Das »Behring- Wernickesche- Diphtherie- Heilserum«

Heinrich A. Gins hat anläßlich des 100. Geburtstages von Wernicke im Zentralblatt für Bakteriologie, Parasitologie, Infektionskrankheiten und Hygiene auf Grund der ihm aus dem Familienbesitz der Töchter Wernickes überlassenen Unterlagen nochmals auf seinen Anteil an der Entdeckung und Entwicklung des Diphtherie- Antitoxins hingewiesen und den Begriff des »Behring- Wernickeschen- Diphtherie- Heilserums« benutzt.
     Die beiden Militärärzte hatten offensichtlich sehr unterschiedliche Charaktere. Behring muß als starke Persönlichkeit mit

großem Selbstbewußtsein, Machtstreben und auch mit einer gehörigen Portion Egoismus ausgestattet gewesen sein, während Wernicke zwar auch mit Selbstbewußtsein aufzutreten wußte, aber eher bescheiden und zurückhaltend war. Für die Experimente besaß Wernicke die Erfahrungen und das notwendige Geschick, er besorgte die Versuchstiere, führte die Experimente durch und führte die Versuchsprotokolle.
     Obwohl es eine umfangreiche Literatur über den Nobelpreisträger Behring und die Bedeutung der Immunisierungsversuche gegen Diphtherie gibt, fehlt es noch an einer modernen Analyse der Versuchsprotokolle. Die öffentlichen Auseinandersetzungen um die wissenschaftliche Bedeutung der Serumtherapie wurden weitgehend von Behring geführt, wie dieser auch die Vermarktung – Wernicke nannte ihn ein »Kaufmanns- Genie« – des neuen Heilmittels übernahm. Sein Freund Wernicke wußte die Erfindung seinen Zeitgenossen ohne die theatralische Inszenierung Behrings darzustellen.
     Hier sei angemerkt, daß Behring bei der Gründung des Königlichen Institutes für Infektionskrankheiten in dieses versetzt wurde, während Wernicke weiter im Universitäts- Institut blieb. Der praktischen Zusammenarbeit der beiden Stabsärzte hat die unterschiedliche organisatorische Zuordnung nicht geschadet.
     Der Universitäts- Assistent Wernicke beantragte am 11. Januar 1893 unter Zahlung ei-
SeitenanfangNächste Seite


   67   Porträt Erich Wernicke  Vorige SeiteNächste Seite
ner Gebühr von 89 Mark beim Dekan der Medizinischen Fakultät, dem Psychiater Friedrich Jolly (1844–1901), unter Vorlage einer Reihe seiner bisherigen Arbeiten (Dissertation, Arbeit über Sublimatverbandsstoffe, über die Commabacillen der Cholera asiatica) die Habilitation. In seinem Antrag führte er u. a. aus:
     Schließlich erwähne ich noch, daß ich seit April 1890 militärärztlicher Assistent am hygienischen Institut bin und während dieser Zeit vielfach Gelegenheit gehabt habe in den sehr zahlreichen militär- und civilärztlichen Kursen Vorlesungen auf dem Gebiet der Hygiene und Bakteriologie zu halten.
     Im Januar 1894 bestimmte der Dekan, der Chirurg Ernst von Bergmann (1836–1907), den Hygieniker Max Rubner (1854–1932) und den Pharmakologen Oskar Liebreich (1839–1908) zu Referenten für die eingereichten Arbeiten. Rubner beurteilte die Arbeiten Wernickes positiv. Er berichtete, daß Wernicke neben seinen dienstlichen Verpflichtungen in militärärztlichen Fortbildungskursen für Stabsärzte umfangreiche experimentelle Arbeiten von Bedeutung durchgeführt habe. Abschließend führte er an:
     Durch die vorliegenden Arbeiten ist bewiesen, daß er – von seiner sonstigen mir bekannten Ausbildung sehe ich ab – über ein entschiedenes Geschick auf experimentellem Gebiet verfügt, daß er ein genauer und sorgfältiger Beobachter ist und durch eigene Thätigkeit die
Wissenschaft auf bisher unbetretenen Pfaden zu fördern versteht.
     Nachdem Rubner durch sein Gutachten, dem sich Liebreich anschloß, die Habilitation empfohlen hatte, teilte von Bergmann Wernicke mit, daß die Fakultät als Thema für die Probevorlesung »Über die Verbreitung der Cholera durch Wasser« festgesetzt habe. Erst im Dezember 1894 kam das Habilitationsverfahren durch die Antrittsvorlesung »Über die wissenschaftlichen Grundlagen der Blutserumtherapie« zum Abschluß.

»... bis dieser Erbfeind am Boden lag«

Sicher hat die von Wernicke an den Tag gelegte Zurückhaltung wesentlich dazu beigetragen, daß die bei den Versuchen entstandene persönliche Freundschaft bis zum Tode Behrings anhielt. Als Beweis für das freundschaftliche Verhältnis und den Charakter Wernickes ist der von Zeiss-Bieling überlieferte Brief, den er Behring zum 25. Jubiläum der Entdeckung des Diphtherieserums am 4. Dezember 1915 sandte:
     Zum 25. Geburtstag des Diphtherieserums sende ich Dir innigste und herzlichste Glück- und Segenswünsche. In wie herrlicher Weise hat Deine wunderbare Entdeckung alles gehalten, was sie versprochen hat. Dankerfüllt und segenspendend naht sich heute Dir die ganze Menschheit, um ihrem Wohltäter, der ihr viele Millionen von Kindern am Leben er-

SeitenanfangNächste Seite


   68   Porträt Erich Wernicke  Vorige SeiteNächste Seite
halten hat, ehrfürchtig zu huldigen. Preisen wir alle das gütige Geschick, das Dich selbst diesen herrlichen Tag erleben ließ, ein Lohn für unsägliche Mühe, Arbeit, Kummer und Sorgen. Der Wille zum Sieg ließ Dich alles Schwere überwinden, bis dieser Erbfeind des Menschgeschlechts am Boden lag, und wenn Dir die Immunisierung nach Deinen neusten Methoden gelingt, so wird man in naher Zukunft von der Diphtherie als einer vollkommen überwundenen und in früherer Zeit weit ausgebreiteten Maße vorhandenen Seuche sprechen, von welcher die Behringsche Schutzimpfung die Welt befreit hat. Bei diesem Siegesritt als Dein Adjutant Dich begleitet zu haben, ist das Glück meines Lebens.
     Mit der neuesten Methode meinte Wernicke die Arbeiten zur aktiven Immunisierung gegen Diphtherie, die in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg zur vollen Entfaltung kam.
     Ob er mit dem Hinweis auf seine Rolle als »Adjutant« die Verhältnisse richtig charakterisiert, muß eine Analyse der erhalten gebliebenen handschriftlichen Aufzeichnungen aus den Nachlässen der beiden gelehrten Ärzte im Archiv der Behring Werke in Marburg und in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin sowie der amtlichen Akten klären.
     Wernickes Kommandierung an das Hygienische Institut der Berliner Universität endete im April 1894, zu dieser Zeit war Max
Rubner bereits Direktor der Hygienischen Institute der Friedrich-Wilhelms- Universität und Koch Direktor des Königlichen Instituts für Infektionskrankheiten in Berlin.
     Wernicke wurde nun als Leiter des hygienisch-chemischen Labors an die militärärztlichen Bildungsanstalten versetzt, die zu diesem Zeitpunkt in Kaiser-Wilhelms- Akademie umbenannt wurden. Sein Freund Behring erhielt auf Initiative von Friedrich Althoff (1839–1908; BM 2/99) im preußischen Kultusministerium 1894 einen Ruf an die Universität Halle/Saale, ohne vorherige Habilitation. Zu dieser Zeit lief das Habilitationsverfahren von Wernicke an der Medizinischen Fakultät in Berlin.

Als Extraordinarius bei Behring in Marburg

1896 erhielt er vom Kultusministerium den Titel Professor. Als Behring 1897 von Halle an die Universität Marburg als Ordinarius berufen wurde, veranlaßte Althoff die Berufung Wernickes als Extraordinarius an diese Universität. Dort vertrat er nicht nur Behring bei Abwesenheit an der Universität, sondern unterstützte auch dessen kommunalpolitisches Wirken in den städtischen Gremien. 1897 schied Wernicke aus dem aktiven Militärdienst als Stabsarzt aus.
     1899 wurde er nach Posen versetzt und hatte den Auftrag, dort ein Medizinaluntersuchungsamt als Direktor des Königlichen

SeitenanfangNächste Seite


   69   Porträt Erich Wernicke  Vorige SeiteAnfang
preußischen hygienischen Instituts aufzubauen. Gleichzeitig bekleidete er den Rang eines Generalarztes der Landwehr 2. Klasse. In Posen bestand eine sehr aktive militärärztliche Gesellschaft, deren Geschichte bisher weitgehend ungeschrieben ist. Es gibt Indizien dafür, daß sich Wernicke dort stark engagierte.
     Bei der Errichtung der Medizinischen Akademie in Posen 1903 wurde er dort zum außerordentlichen Professor für Hygiene berufen. Er wurde 1903 Prorektor und von 1905 bis 1908 Rektor. In dieser Zeit hat er es offensichtlich verstanden, Studenten und Ärzte für seine Ideen nachhaltig zu begeistern. Hatte er schon vorher in Zeitschriften einige Arbeiten zu Fragen der Immunologie, der Bakteriologie und der Hygiene veröffentlicht, so erschien während seines Wirkens in Posen 1903 eine Studie »Verbreitung und Bekämpfung der Tuberkulose in Posen« und 1904 »Die Immunität bei Diphtherie« im Handbuch der Mikrobiologie.
Nach dem Ersten Weltkrieg und der Abtretung der größten Teile der Provinz Posen an das wiedererstandene Polen mußte Wernicke Posen verlassen. 1921 erhielt er den Auftrag, in Landsberg an der Warthe ein Medizinaluntersuchungsamt zu schaffen. Nach seiner Pensionierung bei Erreichen der Altersgrenze zog er nach Berlin und verstarb hier am 20. Mai 1928. In Würdigung seiner Verdienste wurde sein Grab auf dem Friedhof der Kaiser-Wilhelm- Gedächtnisgemeinde am Fürstenbrunner Weg in Charlottenburg vom Senat zum Ehrengrab erklärt.

Bildquelle:
Robert-Koch-Institut. Bundesinstitut für Infektionskrankheiten und nicht übertragbare Krankheiten. Porträtsammlung

SeitenanfangAnfang

Berlinische Monatsschrift Heft 5/99
© Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de