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Katharina Raabe/ Ingke Brodersen (Hrsg.)
Das große Berlinbuch

Rowohlt, Berlin 1998

In einem einzigen Buch dem Leser einen Einblick in die Stadt und das Berliner Leben geben zu wollen, ist ein verlegerisches Ansinnen, das nun bereits mehr als zwei Jahrhunderte hindurch betrieben wird. Es hat zwar überaus interessante Schilderungen hervorgebracht, aber es hat mindestens genauso viel über die jeweiligen Verfasser bzw. Herausgeber ans Licht der Welt gebracht, wie es Erkenntniszuwachs über das jeweils zeitgenössische Berlin in der jeweiligen Publikation unter die Leser gestreut hat.
     Das Genre hat mit Friedrich Nicolais »Beschreibung der Kgl. Residenzstädte Berlin und Potsdam« 1769 seinen Anfang genommen und ist dann über Leopold v. Zedlitz' »Neuestes Conversationslexikon für Berlin und Potsdam« (1834) zu Ludwig Rellstab (»Berlin und seine Umgebung«, 1854) und Ludwig Löffler (»Berlin und die Berliner« 1856), die beiden letzteren erstmals auch illustriert, gelangt, wo es einen ersten Höhepunkt erklomm. Mit der weltpolitischen Aufmerksamkeit für Berlin nach 1945 war das Bedürfnis nach solcherart Berliner Überblicksliteratur eo ipso gegeben, und das Wissenschaftliche Zentrum für Berlin-Studien im Ribbeckhaus muß dann auch zwei Regalreihen für solche Einblicksbände (ausdrücklich handelt es sich nicht um eigentlich historiographische Werke!) zur Verfügung stellen. Einer der empfehlenswerten Titel, der sich sogar während der Teilung der Stadt – in der gegenseitige Invektiven an der Tagesordnung und durchaus verständlich waren – durch Seriosität auszeichnete (»Das Berlin-Buch« von Heinz Off und Rainer Höynck, Stapp-Verlag 1987), ist im Buchhandel leider vergriffen. Da ist es nun an der Zeit, den radikal

veränderten Umständen Rechnung zu tragen und das schon traditionsbeladene Vorhaben mit einem neuen Anlauf zu bereichern. Die Erlebniswelt der Bewohner beider über vier Jahrzehnte geteilten Stadthälften ist seit 1990 wieder gesamtberlinisch geworden, und so gibt es schon Fragen nach dem Entstehen bzw. dem Hintergrund städtischer Orte, denen der Einwohner – besonders der jüngere – wie der Besucher beim Durchstreifen der deutschen Hauptstadt begegnet.
     Mit dem vorliegenden ist ein in großen Teilen durchaus empfehlenswertes Buch entstanden. Auch dieses ist in erster Linie darauf angelegt, Berlinern und Zuwanderern etwas über die Geschichte ihrer Stadt und Wesentliches über ihre historische Struktur nahezubringen – und zwar in einer lockeren, jedem verständlichen Sprache (die bei einzelnen Autoren allerdings etwas allzu kindertümlich gerät. So erfährt man z. B. etwas über Berliner Stadttore – die mit der einen berühmten Ausnahme ja nur noch in Verkehrshalten präsent sind –, über den Berliner Nahverkehr, über die Ursprünge der Berliner Konsumtempel (am Beispiel des KaDeWe), über den jüdischen Beitrag zum Berliner Geistes- und Kulturleben (am Beispiel der Salons und der Familie Mendelssohn Bartholdy), über einzelne bedeutende Bauwerke, Straßenzüge und Stadtviertel, über die Mietskasernenstadt, über das unterirdische Berlin, über die Ansiedlung fremdsprachiger Zuwanderer (anhand der russischen Immigration in den zwanziger Jahren und der türkischen Kolonie der Gegenwart). Eingestreut sind (leider nicht deutlich genug gestalterisch abgesetzt, so daß Irrtümer über Textzusammenhänge nicht gänzlich auszuschließen sind) kurze Informationen zu einzelnen markanten Bauwerken, auch – z. B. hinsichtlich Borsig vor dem Oranienburger Tor und mehrerer Fernbahnhöfe – zu solchen, die verschwunden sind. Ein kurzer Einblick in die Berliner Kriminalgeschichte (Exempel: die Gebrüder Saß) darf nicht fehlen, und am Beispiel von vier Biographien (die beiden Humboldts,
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Rosa Luxemburg und Kaiser Wilhelm II.) wird verdeutlicht, welch unterschiedliche Persönlichkeiten in Berlin zu dessen Prägung beitrugen. Daß die Erinnerung an die schrecklichen Verbrechen des NS-Regimes an den Juden nicht nur mit einem, sondern mit mehreren Beiträgen wachgehalten wird, ist zu begrüßen.
     Andererseits haftet der Publikation eine unangenehme Penetranz an, die dem einstigen DDR-Bürger nur allzu bekannt ist und bei ihm notgedrungen die Frage aufwirft, weshalb den bei ihm einst entstandenen Rückschauen stets der Beigeschmack der Siegermentalität zum – berechtigten – Vorwurf gemacht wird. Auch diese ist wieder einmal von »Siegern der Geschichte« geschrieben und zusammengestellt worden. So paßt es natürlich in den Zeitgeist des 50. Jubiläumsjahrs der Luftbrücke, bei Aussparung der Berliner Bombentage und -nächte (unter 22 AutorInnen sind immerhin noch zwei, die daran Erinnerungen haben müßten) den Begriff »Bomber« nur in Verbindung mit »Rosinen-« auftauchen zu lassen. Noch heute im Stadtbild erkennbare Lücken sind so nur in einzelnen weit verstreuten Nebensätzen als Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs auszumachen – wer derart an ein, zudem noch »großes«, Berlinbuch herangeht, wird sich nicht zu wundern haben, wenn Jung-Berliner die Baulücken in manchen Straßenzügen von Kreuzberg, Mitte und Tiergarten in nicht allzu ferner Zukunft aus den ihnen penetrant mitgeteilten Bausünden der Kommunisten ableiten werden. Auch das Leben in der DDR wie eine Art Vorhof der Hölle darzustellen ist nun doch schon etwas obsolet. Dazu paßt, daß vom Müggelsee, vom Tierpark, vom Friedhof der Märzgefallenen nicht ein Wort vorkommt. Überhaupt findet (auch 1998!) die Märzrevolution 1848 nicht statt, die Novemberrevolution 1918 nur ganz am Rande in zwei Zeilen in der Biographie Rosa Luxemburgs (wo auch prompt ein Bild vom »Spartakistenaufstand« im Januar 1919 erscheint, aber keines von den Vorgängen am 9. November – und sei es wenigstens der
historische Akt der Proklamierung der Deutschen Republik durch Scheidemann!). Der 17. Juni 1953 hingegen erfreut sich ebenso epischer Breite wie die merkwürdige Spielart einer Revolution in der Form vieler individueller Lösungen – soll heißen: die abenteuerlichen Fluchten aus der DDR in jener Zeit, als die Mauer stand.
     Die notwendigen Quoten-Ossis kommen teils seriös daher (sehr gut Daniela Dahn über den Prenzlauer Berg!), teils zynisch (Cornelia Geißler, in Zynismus geschult durch Journalistikstudium in Leipzig und Moskau, über die Berliner Mauer), teils ausgesprochen bösartig (Jutta Voigt über die Karl-Marx-Allee, in Teilen falsch – die Weberwiese z. B. liegt nicht an der Karl-Marx-Allee; das dortige Hochhaus kann also mitnichten das erste Bauwerk des »sozialistischen Boulevards« gewesen sein! – und gipfelnd in der Abqualifizierung älterer Menschen, die jetzt in der Straße wohnen, als »Dinosaurier des Sozialismus«, S. 303). Am peinlichsten ist Jens Reich, der das Marx-Engels-Denkmal zum Anlaß nimmt, über seine Bart-Phobie zu sinnieren, mit der ihm sein Schüler- und Jünglingsleben vergällt wurde. Wahrscheinlich verdankt der renommierte Naturwissenschaftler sein Auftreten in diesem Band unter lauter Schriftstellern und Journalisten einer Verwechslung, die den Herausgeberinnen passierte: Sie wollten wohl eigentlich Konrad Weiß als Autor ansprechen, der in seinem neuen Beruf als Publizist Zubrote gewiß gebrauchen kann.
     Bei dem angeschlagenen verbindlichen Plauderton begegnet man kleinen Schlampereien an der historischen Wahrheit natürlich en masse. So stammt z. B. der Ausdruck »bis in die Puppen« keineswegs von den Marmor-»Puppen« in der Siegesallee her (S. 119), sondern von Sandsteinfiguren am Großen Stern, die schon 125 Jahre vor der Siegesallee existierten. Der Laie wird die Schnitzer überlesen, der Fachmann schmunzelt oder runzelt die Stirn. (Z. B. bei dem von Unkenntnis zeugenden Stereotyp, die ersten Opfer der gewaltsamen Teilung der Stadt
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»waren schon im August 1961 zu beklagen«, S. 334; solche Opfer waren – und zwar auf beiden Seiten – schon seit 1948 zu beklagen. Das sollte ein 1941 geborener Autor eigentlich wissen.) Daß aber im Geleitwort (S. 9) der einstige U-Bahnhof »Stadion der Weltjugend« in den heutigen U-Bahnhof »Zinnowitzer Straße« umgebogen wird (er hieß früher und heißt heute wieder »Schwartzkopffstraße«), ist irgendwie symptomatisch für das publikatorische Unternehmen: Alles nur aus der Sicht der Erfahrungen des städtischen Westteils gesehen, ohne sich im Ostteil wirklich kundig zu machen, aber dem vollmundigen Anspruch nach als großes Berlinbuch daherkommend.
     Trotz allem ist das Buch in wesentlichen Teilen lesbar. Auf ein »Großes Berlinbuch«, das den anspruchsvollen Titel verdient, ist aber weiterhin zu warten.
Kurt Wernicke

 

Schöneberg – einst und heute

Christian Simon
Schöneberg im Wandel der Geschichte
be.bra Verlag, Berlin 1998

Veronika Liebau/ Petra Zwaka(Hrsg.)
Schöneberg in historischen Postkarten,
Schöneberg Museum Berlin, Jaron Verlag 1998

Im vergangenen Jahr beging Schöneberg den 100. Jahrestag der Verleihung der Stadtrechte. Das Jubiläum wurde durch den Bezirk mit zahlreichen Veranstaltungen, Führungen und Ausstellungen begangen. Selbstverständlich erschienen auch neue Bücher – zwei sollen hier vorgestellt werden.

Die Bände führen durch die Geschichte Schönebergs, die mehr als 100 Jahre Stadtgeschichte ist – der eine historisch-chronologisch, der zweite thematisch-geographisch. Sie weisen Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf, vermitteln Bekanntes und weniger Bekanntes, zeigen Kurioses und Interessantes.
     Der Band von Christian Simon stellt in neun Kapiteln Schönebergs Entwicklung seit dem 13. Jahrhundert bis zur Gegenwart vor. Dies geschieht in einer übersichtlichen, die wichtigsten Ereignisse beachtenden Darstellungsweise, so daß der Leser einen guten Überblick über das Geschehen auf dem Territorium des heutigen Schönebergs erhält. Der Schwerpunkt liegt auf der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, zu kurz kommen vor allem die »Nachkriegsjahre« von 1945 bis heute. Allerdings trifft für fast alle Gesamtdarstellungen zur Schöneberger Geschichte zu, daß die jüngere Zeitgeschichte unterrepräsentiert bleibt.
     Natürlich wird mitgeteilt, daß Schöneberg erstmals am 3. November 1264 als »villa sconenberch« urkundlich erwähnt wurde, als der Markgraf Otto III. dem Spandauer Benediktinerinnen-Kloster fünf Hufen Land schenkte. Ungeklärt ist und bleibt die Herkunft des Ortsnamens. Vermutlich wurde er von Ansiedlern mitgebracht. Die andere Auslegung, daß er nach einem »schönen Berg« benannt wurde, ist wenig plausibel – schon mangels »geeigneter« Berge. Zumindest datiert die erste Karte von Schöneberg aus dem Jahre 1685, auf der als Ortsstraße die heutige Akazienstraße zu erkennen ist.
     1750 wurden, wie auch anderswo in Preußen, böhmische Einwanderer angesiedelt. Das letzte Siedlerhaus der damaligen böhmischen Kolonie, die dann Neu-Schöneberg genannt wurde, ist erst 1973 in der Hauptstraße abgerissen worden. Berlin hatte 1861 Schöneberg seines Nordens »beraubt«; die Grenze liegt seither nicht mehr am Landwehrkanal, denn der Bezirk Schöneberg bekam 1938 nur Gebiete südlich der Kurfürstenstraße wieder. Ende des
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vergangenen Jahrhunderts wurden in Schöneberg zahlreiche Mietskasernen gebaut, aber auch Viertel für Besserverdienende – das Bayerische Viertel, das Kielganviertel und Friedenau (das bei seiner Entstehung noch selbständig war und erst 1920, als es zu Berlin kam, in den neugeschaffenen 11. Bezirk Schöneberg eingegliedert wurde).
     Das älteste Grab Schönebergs auf dem Dorffriedhof stammt aus dem Jahre 1718. Es ist die Grabstätte des »königlichen Hoftapezierers«, der 1643 geboren wurde. Manch Grab ist als Mausoleum gestaltet, oft ist es ein Begräbnis der wohlhabenden Schöneberger Bauernfamilien: Richnow, Willmann, Saare ... Und auch folgende Anekdote ist erwähnenswert: Ende des 19. Jahrhunderts kam es auf dem Friedhof zu einer Exhumierung. Der preußische General Otto von Diericke war nach einer Legende mit Pferd und in vollem Ordensschmuck beigesetzt worden. Das wollte man überprüfen. Gefunden wurden weder Pferd noch Orden.
     Überhaupt lebte im Laufe des vergangenen Jahrhunderts in Schöneberg und Friedenau allerhand Prominenz: So die Politiker Rudolf Breitscheid, Theodor Heuss, Paul Löbe und Rosa Luxemburg, die Künstler, Wissenschaftler und Schriftsteller Albert Einstein, Max Frisch, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Erich Kästner oder Billy Wilder. Nicht zu vergessen der Komponist Walter Kollo, der in der Schwäbischen Straße wohnte und mit seinem Lied »Es war in Schöneberg im Monat Mai« den Ort bekannt machte. Auf dem St.-Mätthäus-Friedhof zu finden sind unter anderem die Gräber von Rudolf Virchow, Bethel Henry Strousberg, der Gebrüder Grimm, von Carl Bolle, Heinrich von Treitschke und Max Bruch. Ein Gedenkstein erinnert an die Widerständler vom 20. Juli 1944. Viele Todesurteile gegen Widerstandskämpfer fällte der Volksgerichtshof, der im Kammergericht im Heinrich-von Kleist-Park unter Vorsitz von Freisler tagte. In diesem Gebäude bezog 1945 der Alliierte Kontrollrat seinen Sitz, am 3. Juni 1972 wurde hier das Vier-
mächteabkommen zur Normalisierung der Lage um West-Berlin unterzeichnet. Der Kleistpark ging aus dem Botanischen Garten hervor, der um die Jahrhundertwende nach Dahlem verlegt wurde.
     Auch die Lokalitäten, für die Schöneberg einst berühmt war, bleiben nicht unerwähnt. Die bekannteste war der »Schwarze Adler«, von dem man sich Wunderdinge erzählte. Der Biergarten ging von der Hauptstraße 235/236 über die heutige Belziger Straße zur Apostel-Paulus-Straße, im Osten begrenzten ihn Akazienstraße und im Westen die Merseburger Straße: Er soll Platz für 10 000 Gartenstühle geboten haben und ein Lokal mit 8 000 Quadratmetern gehabt haben. Da es keine Unterlagen gibt, läßt sich das nicht mehr nachprüfen. Immerhin existierte der »Schwarze Adler« bis 1893, kurz vor der Stadtwerdung. Um die Jahrhundertwende war die Zeit der großen Ausflugslokale in Schöneberg vorbei: An ihre Stelle traten Cafés, Tanzpaläste, Weinhäuser und die typischen Eckkneipen.
     Obwohl durch das Schöneberger Gelände seit 1838 die Potsdamer Bahn und seit 1841 die Anhalter Bahn fuhren, war Schöneberg von Berlin aus per Eisenbahn erst 1871 mit der Ringbahn zu erreichen; den ersten Bahnhof gab es am Werdauer Weg. Eine Besonderheit Schönebergs sei hervorgehoben: Es leistete sich als sechste europäische Stadt eine eigene U-Bahn. Man brauchte für den Bau der drei Kilometer langen Strecke vom Innsbrucker zum Nollendorfplatz vom 8. September 1908 bis zum 1. Dezember 1912.
     Mit der industriellen Entwicklung entstanden Werke wie die »Photographische Apparate C. P. Goerz« oder die Firma »Mix und Genest«. Die allmähliche Trennung von Wohn- und Gewerbegebieten führte in Schöneberg zur Entstehung eines reinen Industriegeländes beiderseits der Bessemerstraße. Verwundert nimmt man zur Kenntnis, daß es lange Jahre Abmelkbetriebe gab, etwa 70 von ihnen bestanden noch Anfang der sechziger Jahre. In der Steinmetzstraße 22 erinnert ein
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Mosaik aus Pflastersteinen daran, daß im dritten Hinterhof seit 1931 gemolken und im ersten Hof Milch verkauft wurde, erst Anfang der achtziger Jahre zog der Abmelkbetrieb weg.
     Schöneberg mangelt es zwar an Grün, doch wer weiß heute noch, daß das Gebiet zwischen Sachsendamm und Prellerweg vor dem Zweiten Weltkrieg mit einst 4 500 Gärten (heute nur noch etwa 2 000) die größte zusammenhängende Kleingartenanlage Deutschlands war?
     Zu den Kuriosa Schönbergs gehörte der traditionsreiche schwule Verlag Rosa Winkel in der Kufsteiner Straße; in der Großgörschenstraße entstand der erste Frauenverlag, der Verlag Orlanda, und 1975 eröffnete in der Yorckstraße die erste Frauenkneipe Deutschlands, der »Blocksberg«, der nicht mehr existiert.
     Als Mangel des Bandes von Simon erweist sich die nur ungenügende Einordnung der Schöneberger Entwicklung in die Rahmenbedingungen preußischer und deutscher Geschichte. Gelegentlich werden unkritisch zeitgenössische Berichte oder tendenziöse Einschätzungen übernommen: »Die desolate wirtschaftliche und politische Lage Deutschlands führte im Frühjahr 1920 zu einem Militärputsch.« Die Darstellung des Kapp-Putsches in Schöneberg gerät fast zur Entschuldigung, ja zum Bedauern der Putschisten. Verharmlosend lesen sich einige Passagen zur NS-Zeit. Die Umbenennung der Haberlandstraße 1938 fungiert lediglich als Namens-»änderung«. Diese Namens»änderung« war aber Teil der Diskriminierungs-, Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der faschistischen Machthaber gegenüber der jüdischen Bevölkerung. 1938 wurden in Berlin alle noch nach Juden benannte Straßennamen beseitigt. Zum Kriegsende 1945 heißt es: »Jegliche Ordnung war zusammengebrochen.« Kommentarlos wird mitgeteilt, in der Kauschstraße 5 weise noch heute ein Relief auf die Entstehung der Siedlung hin: »... es stellt einen Hitlerjungen dar. Über dem Hauseingang Nr. 7 ist ein BDM-Mädel erkennbar.«
Der »Postkarten«-Band, von der Bezirksbürgermeisterin Elisabeth Ziemer eingeleitet, stellt die »historische Mitte«, das städtische Zentrum, die »Insel,« Potsdamer Straße, das Bayerische Viertel und Friedenau vor. Andere Themen behandeln die Rathäuser, Schulen, die Frauenbewegung, Krankenhäuser, Hoch- und Untergrundbahn, Gewerbe, Industrie und Handel, und natürlich auch Cafes, Restaurants und Ausflugslokale. Selbstverständlich fehlen auch nicht der Sportpalast und das KaDeWe.
     Die meisten Postkarten stammen aus der Zeit zwischen 1895 und 1920. Sie reflektieren den kometenhaften Aufstieg Schönebergs, das bereits um 1905 zu den größten Städten Preußens zählte. Vieles, was der Leser – besser der Betrachter – hier findet, existiert leider nicht mehr, denn durch Kriegszerstörungen und zeitbedingte Veränderungen verschwanden viele Gebäude und Einrichtungen. Die Postkarten sind durch die Herausgeber(innen) fachkundig erläutert, so daß der Band mehr als eine Bildbeschau bietet. Die Kommentare zu jedem Abschnitt führen Schönebergs Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen. Der Band regt an, die gezeigten Orte heute aufzusuchen und dem einen oder anderen selbst nachzuspüren. Das Anliegen, die Vielfalt des städtischen und kulturellen Lebens Schönebergs in Erinnerung zu bringen, ist durchaus gelungen.
     Die einzelnen Teile dokumentieren sowohl bessere Wohngegenden im Westen, die Mietskasernen im Norden wie auch die »historische Mitte« an der Verbindung zwischen Berlin und Potsdam, wo einst die Dorfaue lag. Einige Karten zeigen den Kaiser-Wilhelm-Platz, an den das städtische Zentrum um die Jahrhundertwende gerückt war.
     Was wäre Schöneberg ohne sein Rathaus. Nachdem 1874 Alt- und Neu-Schöneberg vereinigt wurden, ließ die Gemeinde am Kaiser-Wilhelm-Platz ein Amtshaus mit Gefängnis bauen. Das von 1890 bis 1892 am gleichen Platz errichtete Rathaus reichte auch bald nicht mehr aus. Doch erst am 26. Mai 1911
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erfolgte die Grundsteinlegung für das neue, 1914 eröffnete Rathaus. Nutzen konnte es die Stadt Schöneberg als Rathaus nur für wenige Jahre, denn 1920 wurde Schöneberg Teil des neuen Berlins. Den Friedenauern ging es nicht besser, sie konnten sich an ihrem 1916 bezogenen eigenen Rathaus nur vier Jahre erfreuen. Allerdings sollte das Schöneberger Rathaus nach dem Zweiten Weltkrieg, nach der Spaltung der Stadt Berlin, nicht nur stadtgeschichtliche Bedeutung erhalten, sondern weltberühmt werden.
     Der Kommunikation über Schöneberg hinaus dienten zwei wichtige Einrichtungen: das 1902 erbaute Hauptpostamt und das Fernamt 1 in der Winterfeldtstraße (heute Nr. 19–23). Es war die zentrale Stelle zur Vermittlung von Telefongesprächen aus ganz Berlin und Brandenburg.
     Ein Schöneberger Kuriosum ist die bereits erwähnte »Insel«. Sie ist ein von allen Seiten durch Bahngleise vom übrigen Schöneberg abgetrenntes Gebiet, das vor dem Ersten Weltkrieg vor allem durch das Militär als Garnisonsstandort geprägt war. Die (»Rote«) Insel war zugleich Hochburg der Arbeiterparteien, zunächst der SPD, in den zwanziger Jahren auch der KPD. Auf ihr fand Julius Leber Unterschlupf; an den in Plötzensee Hingerichteten erinnern heute eine Straße und Brücke.
     Neugier erwecken auch die Bilder von Schöneberger Plätzen, z. B. von der Gegend um den Nollendorfplatz. Hier gab es zahlreiche Kinos, Cafés, Restaurants, Bars, und in den zwanziger Jahren war er Mittelpunkt des literarisch-künstlerischen Berlins. In seiner Nähe, in der Motzstraße 15, befand sich die »Sensation Berlins«, das »Eldorado«. Es war in den zwanziger Jahren einer der bekanntesten Treffpunkte der lesbischen Frauen und homosexuellen Männer.
     Wer kennt schon noch die Amerikanische Kirche in der Motzstraße? Seit 1896 gab es in Berlin eine amerikanische Gemeinde. Ihre zu Beginn des Jahrhunderts erbaute Kirche wurde im Zweiten Welt-
krieg stark beschädigt, 1958 abgerissen und in Dahlem neu aufgebaut.
     Die Postkarten zum Bayerischen Viertel, insbesondere zum Bayerischen Platz, lassen ein ganz anderes als das heute gewohnte Bild entstehen: Die Plätze sind als Schmuckplätze gestaltet. So befindet sich im Zentrum des Bayerischen Platzes ein Brunnenbecken, im Norden eine Pergola und Wasserspiele im Süden.
     Auch auf eine bisher kaum bekannte Besonderheit in Friedenau wird aufmerksam gemacht: In der Wilhelmshöher Straße 17–20 entstand 1909 ein sogenanntes Einküchenhaus. Nach der Erprobung in den USA wurden solche Häuser mit zentraler Hauswirtschaft und anderen Gemeinschaftsreinrichtungen, die das Leben angenehmer gestalten sollten, auf privatwirtschaftlicher Grundlage auch in Berlin gebaut. Das Haus wurde zwei Jahrzehnte lang geführt; im Krieg unversehrt geblieben, steht es heute unter Denkmalschutz. Eine architektonische Besonderheit ist die Lindenhofsiedlung von Taut und Wagner. Zwischen 1918 und 1921 entstanden hier zweigeschossige Reihenhäuser für sozial schwächere Einwohner. Das Auguste-Viktoria-Krankenhaus an der Rubensstraße war bei seiner Eröffnung 1910 das damals modernste Krankenhaus im Großberliner Raum.
     Wenn Christian Simon feststellt, daß »... gerade die Mischung von Kiez und Kommerz, Mietskasernen und Musterhäusern, die Vielfalt kulturellen und gesellschaftlichen Lebens ... das Leben in Schöneberg spannend und interessant (macht)«, so möchte man nur noch hinzuzufügen: und das seit 100 Jahren.
Herbert Mayer
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Ralph Hoppe
»Bolle reiste jüngst ...«

Pankow im Wandel der Geschichte
be.bra verlag, berlin.brandenburg 1998

»Pankow« oder in der Aussprache Konrad Adenauers »Pankoff« war einst beinahe ein Synonym für die gesamte DDR, selbst als deren oberste Führung schon längst nach Wandlitz übergesiedelt war.
     Udo Lindenbergs 1983 entstandener »Sonderzug nach Pankow« wurde vielerorts geträllert. Aber auch solche Gassenhauer wie »Komm Karlinekin, komm, wir woll'n nach Pankow gehn ...«, »Bolle reiste jüngst zu Pfingsten, Pankow war sein Ziel ...« oder aber auch »Kille, kille, Pankow ...« sind weithin bekannt.
     Diesem vielzitierten, vielbesungenen Ort ist das vorliegende 150 Seiten starke Buch gewidmet. Basierend auf einem gründlichen Quellen- und Literaturstudium, beschreibt der Autor mit leichter Feder die Geschichte dieses heutigen Berliner Stadtbezirkes bis in unsere Tage. Einst beliebtes Ausflugsziel und Sommerfrische der Berliner mit zahlreichen Wirts- und Gasthäusern, Bier- und Sommergärten, lag es für die brandenburgischen Kurfürsten und preußischen Könige auf halbem Wege von Berlin zum Schloß Schönhausen (heute Niederschönhausen).
     Alljährlich im Juli oder August zogen einst die Berliner Zeug- und Raschmacher (Weber eines leichten Wollgewebes aus gröberem Kammgarn) zu ihrem Fliegenfest nach Pankow, das bereits um 1830 in einem Lied besungen wurde. Neben dem Mottenfest der Tuchmacher in Lichtenberg und dem Stralauer Fischzug war es eines der »hohen« Feste in Berlin. Höhepunkt und Abschluß des Festes war alljährlich die Einkehr im »ersten Haus am Platze«, dem Gasthaus »Lindner«, Breite Straße 34, nahe der Pankower Dorfkirche. Das große Lokal mit Sommer und

Biergarten sowie einem Konzertsaal bot genügend Raum zum Feiern.
     1882/83 etablierte sich am Rande der Schönholzer Heide die Berliner Schützengilde und errichtete hier ihr Schützenhaus. 1961 nach Spandau übergesiedelt, möchte sie nun ihr einstiges Schießgelände, das gegenwärtig von zwei Vereinen genutzt wird, rückübertragen bekommen.
     Versuche in den 30er und 50er Jahren, in der Schönholzer Heide einen Vergnügungspark mit großer Freilichtbühne zu schaffen, scheiterten letztlich.
     Breiten Raum widmet Hoppe der Beschreibung der einzelnen Ortsteile Pankows. Die einstigen Dörfer Blankenburg, Heinersdorf und Karow, die von 1920–1986 zu Pankow gehörten, sind seit dem Januar 1986 Teil von Weißensee. Im Dorf Buchholz siedelten 1699 etwa 20 französische Familien und 86 Personen, weshalb der Ort auch Französisch-Buchholz genannt wurde. An sie erinnern heutige Straßennamen sowie eine neu entstandene Wohnsiedlung in diesem Ortsteil. Zu Pankow gehören weiterhin die ehemaligen Dörfer Blankenfelde, Rosenthal, Buch, Niederschönhausen sowie die früheren Kolonien Schönholz und Wilhelmsruh und der Amtsbezirk Nordend (heute vor allem bekannt durch den großen Straßenbahnbetriebshof an der Endhaltestelle der Straßenbahnlinie 52).
     Hoppe erinnert daran, daß die Panke – heute eher ein Rinnsal – früher ein wilder Fluß war. »Fluß mit Strudeln« lautet ja auch sein aus dem Slawischen stammender Name. Eine seit dem 16. Jahrhundert im Gebiet des heutigen Bürgerparks befindliche Papiermühle fiel Anfang des 19. Jahrhunderts einem Panke-Hochwasser zum Opfer. Bis in die 20er Jahre hinein konnte und durfte an der heutigen Ossietzkystraße und nordwestlich vom Bürgerpark sogar gebadet werden. Erst die immer schmutziger werdenden Abwässer, die auch die Panke belasteten und zur »Stinke-Panke« mutieren ließen, beendeten dieses Vergnügen.
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Leider verschweigt uns der Autor, daß Kurfürst Friedrich III., der spätere König Friedrich I. in Preußen, um 1690 herum die Panke ausbauen ließ, um per Schiff vom Schloß Schönhausen aus das Schloß Lietzenburg (Charlottenburg) bequemer erreichen zu können.
     Auf dem Gelände des verstorbenen Barons Killisch von Horn wurde am 25. August 1907 der Pankower Bürgerpark eröffnet. Dem Bürgermeister Wilhelm Kuhr war es gelungen, dieses Territorium vor den Terraingesellschaften, die hier Nobelvillen bauen wollten, zu retten und der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Das einem Triumphbogen nachempfundene Eingangstor des Parks ist neben dem 1903 von F. W. Johow gebauten Pankower Rathaus das bekannteste Wahrzeichen des Bezirkes.
     Seit der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg entwickelte sich Pankow zu einer Parkstadt – verbunden mit den Namen solcher Architekten wie Otto March, Paul Mebes, Carl Fenten, Rudolf Klante, Erwin Gutkind u. a. Noch heute überwiegen in Pankow der eher vornehme Mietshausbau und dementsprechende Wohnsiedlungen, die von Alleen oder Grünanlagen gesäumt werden. Und auch schöne Villenviertel sind zu finden. Die Mietskaserne spielte hier nie eine Rolle.
     Das Gesicht Pankows prägten aber auch die mit dem Namen des Berliner Stadtbaurates Ludwig Hoffmann verbundenen Krankenanstalten in Buch, die Rieselfelder am Stadtrand, die Mälzerei der Schultheiss-Brauerei in der Mühlenstraße, mehrere Brauereien (z. B. die Weißbierbrauerei Willner an der Berliner Straße), die Garbaty-Zigarettenfabrik und das jüdische Waisenhaus in der Berliner Straße (zu DDR-Zeiten war hier die kubanische Botschaft untergebracht, heute steht das Haus leer), die Lederfabrik Buchholz und Bergmann-Borsig (in der DDR von großer Bedeutung für die Energiewirtschaft).
     Und natürlich erinnert Hoppe auch an berühmte Bürger Pankows, wie den Filmpionier Max Skladanowsky, den Erfinder der Thermosflasche Reinhold
Burger, den Pionier des Fernsehens Paul Nipkow, der 1936 noch die Einrichtung einer öffentlichen Fernsehstube auf dem Hof der Wollankstraße 134 und die Übertragung der Olympischen Spiele miterleben konnte. Aber auch einige der zahlreichen Schriftsteller und Künstler, die in Pankow lebten oder noch heute hier wohnen oder wirken, werden genannt: Manfred Krug, Johannes R. Becher, Volker Braun, Willi Bredel, Arnold Bronnen, Ernst Busch, Fritz Cremer, Rudolf Ditzen (Hans Fallada), Hanns Eisler, Fritz Erpenbeck, Stephan Hermlin, Heinz Knobloch, Max Lingner, Erich Weinert, Christa und Gerhard Wolf, Arnold Zweig.
     Breiten Raum nehmen im Buch auch Aspekte der jüdischen Geschichte bis 1945, die Entwicklung Pankows nach der Befreiung vom Faschismus und die Zeit nach 1989 ein.
     Ein solch breit angelegtes lobenswertes Buch weist natürlich auch Lücken auf. So wünschte man sich in dem Abschnitt über »Mauerbau und Mauerfall« wenigstens einen Hinweis auf den am 27. Januar 1962 kurz vor seiner Fertigstellung eingestürzten und dadurch entdeckten Tunnel, den Studenten der Westberliner TU unterhalb der Gleisanlagen des S-Bahnhofs Wollankstraße nach Ostberlin vorgetrieben hatten.
     Zur Pankower Geschichte gehört auch, daß am 20. Oktober 1933 im Haus Wollankstraße 126 die »festliche Einweihung eines Pankower Musterschutzkellers« stattfand – Vorbereitung auf den Krieg, dessen Spuren noch heute im Gesicht unserer Stadt sichtbar sind.
     Und sicher hätte den Leser auch die Anekdote über den »echten« König in Pankow amüsiert. Der 1958 verstorbene Abenteurer und internationale Hochstapler Otto Witte hatte es um 1912 herum geschafft, einige Tage als König von Albanien zu gelten; dem später in Pankow Wohnenden gelang es in der DDR, die Bezeichnung »ehemaliger König von Albanien« in seinem Personalausweis vermerken zu lassen.
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Ungeachtet dieser und einiger weiterer Lücken ist dieses kenntnisreiche, locker erzählte, faktenreiche Büchlein allen zu empfehlen, die sich mit der Geschichte Berlins und seiner Bezirke beschäftigen.
Achim Hilzheimer

 

Bruno Flierl
Gebaute DDR

Über Stadtplaner, Architekten und die Macht. Verlag für Bauwesen, Berlin 1998

Bruno Flierl, Berlin baut um – Wessen Stadt wird die Stadt? Verlag für Bauwesen, Berlin 1998

Der namhafte und engagierte Architekturkritiker aus Berlin Ost, der im vergangenen Jahr seinen siebzigsten Geburtstag beging, macht sich und uns mit diesen Publikationen ein in mehrfacher Hinsicht bemerkenswertes Geburtstagsgeschenk. Gemeinsam ist beiden Büchern, daß sie in den Jahren von 1989 bis 1997 gesprochene und geschriebene Beiträge zum Wechselverhältnis von Architektur und Gesellschaft am Beispiel der geteilten und nun wieder zusammenwachsenden Stadt vereinen. Reflexionen, die von der Leidenschaft eines kompetenten Zeitzeugen künden, der sich seinen kritischen Blick und seine Lust zum Anregen weder zur DDR-Zeit noch seit dem Fall der Mauer hat trüben lassen. Obgleich viele dieser Beiträge Wiederholungen enthalten, lesen sich die beiden Sammlungen wie aus einem Guß. Gewissermaßen bedingen und ergänzen sie einander. Dabei sind sie durchaus als Orientierungshilfe zum Verständnis der widersprüchlichen Geschichte auf diesem Gebiet und auch der Diskussionen um die städtebaulich-architektonische Umgestaltung der neuen deutschen Hauptstadt zu emp-

fehlen. Der rote Faden, der sich durch beide Publikationen zieht: Flierl warnt vehement davor, die Vereinigung auf den Eintritt der Ostdeutschen in die alte Bundesrepublik zu reduzieren. Er setzt sich dafür ein, die bis 1989 getrennt verlaufene deutsche Nachkriegsgeschichte gemeinsam aufzuarbeiten, um so die politische, kulturelle und soziale Einheit der Deutschen wirklich befördern zu helfen.
     In »Gebaute DDR. Über Stadtplaner, Architekten und die Macht« reflektiert er kritisch solche Themen, die oft »Stichwortgeber« für einseitige, undifferenzierte und nicht selten fehlerhafte Beurteilungen ostdeutscher Architektur und Stadtentwicklung sind. Flierl erinnert an die unterschiedlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen, Zielstellungen und politischen Einflußnahmen auf Architektur in der kriegszerstörten und nachkriegsgeteilten Stadt und entwickelt dies am Beispiel der Stalinallee, an den politischen Wandbildern und Denkmälern im Stadtraum, dem Kulturhaus-Bau in der DDR und an zentralen Dominanten im Ostberliner Stadtraum. Bildhaft und überzeugend beschreibt er an der Stalinallee den Gegenentwurf zu einer damals feindlichen Gesellschaft.
     Von großem Gewinn für den Leser ist, daß in Flierls kritischen Reflexionen die Architekten und Städtebauer einen gewichtigen Platz einnehmen. Überzeugend und nachvollziehbar skizziert er Leistungen, Versagen und Grenzen ihrer Wirkung in Ost-Berlin. Ihr historisches Verdienst sieht er darin, daß sie sich trotz aller Probleme in den Dienst sozialer Aufgaben der Gesellschaft gestellt haben. Ihr historisches Versagen sieht Flierl darin, sich gegen Entmündigung und Benutzung durch den Apparat nicht genügend gewehrt zu haben. Mit seinen Porträtskizzen über Lothar Kühne, an dessen beachtlichen Einfluß auf die Architekturtheorie der DDR erinnert wird, über den Schweizer Hans Schmidt und dessen Beitrag zur Theorie und schließlich über Hermann Henselmann zeichnet er ein diffe-
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renziertes Bild – und beim letzteren dazu ein sehr bestechendes vom Typus eines erfolgreichen Architekten.
     Flierl wäre nicht Flierl, wenn er es bei der kritischen Beleuchtung der Vergangenheit belassen hätte. Während im realen Sozialismus die Architekten und Stadtplaner ihre Illusion vom »Glück des Plans« und zugleich ihre Hoffnung auf »kreative Kollektivität« verloren haben, würden sie in der vergrößerten Bundesrepublik Gefahr laufen, ihre Illusion vom »Glück des Marktes« und ihre Hoffnung auf »kreative Individualität« zu verlieren, so eine seiner zugespitzten Folgerungen. Ausgesprochen von einem, der sich, ob seiner Kompetenz zur Mitarbeit eingeladen in viele Fachgremien – so im Stadtforum Berlin – bis heute redend und schreibend, beschwörend, fordernd und fragend einmischt.
     »Berlin baut um – Wessen Stadt wird die Stadt?« kann durchaus als eine kleine Chronik der Möglichkeiten und Grenzen einer demokratischen Einflußnahme auf Architektur und Stadtentwicklung in Berlin gelten. Die dreißig hier vereinten Beiträge stehen für die jeweiligen Streitpunkte dieser Jahre. Der Leser erlebt ganz unmittelbar, mit welcher Leidenschaft und meist guten Argumenten von allen Seiten demokratisch gestritten wurde über das vorgefundene Erbe, wie man mit ihm umgehen, wie sich die Stadt und für wen sie sich entwickeln soll. Das Spektrum der debattierten Themen reicht hier über gesamtkonzeptionelle Fragen der Stadtentwicklung und Architektur bis hin zu Einzelfragen und -objekten: die Gestaltung der Berliner Mitte, Berliner Stadtschloß ja oder nein, Palast der Republik ja oder nein, Hochhäuser. Immer wieder auf die Geschichte zurückgreifend, entwickelt Flierl hier seine Überzeugungen, über die natürlich trefflich zu streiten ist, was ja wesentlich den Reiz seiner Textsammlung ausmacht. Auffällig, daß die meisten Beiträge aus der Zeit zwischen 1990 und 1993 stammen, das restliche Drittel verteilt sich auf die Jahre 1994 bis 1997. Geändert haben sich im Laufe der Jah-
re die Themen, behandelt werden sie mit derselben Leidenschaft. Während in den ersten Jahren Pläne geschmiedet werden und auf die Hoffnung der »Vernunft« gesetzt wird, spiegeln die Beiträge der letzten Jahre zunehmende Enttäuschung wider. 1990–1992 stritt Flierl für seine Überzeugung, daß die Stadtmitte durch einen demokratisch legitimierten Stadtvertrag zum Lebensraum für Menschen werden könne. In der sich jetzt vollziehenden Privatisierung sieht er eine Kapitulation der Bundesrepublik vor der historischen Aufgabe, »für die Mitte der neuen Bundeshauptstadt Berlin eine neue gesellschaftliche Sinnstiftung zu finden«.
Hans-Jürgen Mende
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© Edition Luisenstadt, 1999
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