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Gerhard Keiderling
Der lange Weg zur Bundeshauptstadt

Wenn am 19. April 1999 der Deutsche Bundestag das umgebaute Reichstagsgebäude in Besitz nehmen wird, beginnt die letzte, die eigentliche Phase des Umzuges der obersten Bundesorgane von Bonn nach Berlin. Dann endet für Berlin ein mehr als 40jähriges »Interregnum« der Hauptstadtlosigkeit.
     Warum verlor Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg seine Hauptstadtfunktion? Der totale Zusammenbruch des Reiches im Mai 1945 war Anlaß, nicht der Grund. Die Siegermächte waren sich in Potsdam einig, bis auf weiteres keine zentrale deutsche Regierung zu bilden. Doch das bedeutete kein Votum gegen Berlin. Im Gegenteil, sie betrachteten und behandelten Berlin weiterhin als deutsche Hauptstadt. Deshalb nahmen der Alliierte Kontrollrat, bei dem mehr als 30 Staaten ihre Militärmissionen und Konsulate akkreditierten, und die vier Militärregierungen hier ihren Sitz. Deshalb vereinbarten die Siegermächte auch eine »besondere Berliner Regelung«, den später so viel zitierten »Viermächtestatus«.
     Allerdings maßen die vier Mächte in ihrer Deutschlandpolitik der Hauptstadtfrage einen unterschiedlichen Stellenwert zu. Die

Sowjetunion präferierte einen Zentralstaat, der von der Hauptstadt her politisch-administrativ zu beherrschen sei. Für die Westmächte, die föderalistischen Prinzipien nachhingen, war ein zentraler Ort eher entbehrlich.
     Distanzierter begegneten die Deutschen ihrer alten Hauptstadt. Berlin war mit NS-Diktatur und Krieg belastet. In der Umbruchsituation von 1945 kamen im Westen und Süden alte Aversionen gegenüber dem »Moloch«, dem »preußischen Parvenu« unter den historischen Residenzstädten und der »unnatürlichen Hauptstadt« in »geographischer Randlage des christlich-abendländischen Kulturkreises« hoch. Offen wurde ein »Los von Berlin« debattiert. Der Sozialdemokrat Carlo Schmid sprach am 10. Februar 1946 in Reutlingen eine verbreitete Meinung aus: »Der Berliner Zentralismus hat uns Deutschen nicht wohlgetan. Er darf nicht wiederkommen. Und vielleicht wird einmal darüber gesprochen werden müssen, ob Berlin noch einmal als Hauptstadt eines neuen Deutschland in Betracht kommen kann; mir persönlich liegt es zu nahe an Potsdam. In diesen Dingen weiß ich mich einig mit vielen unserer Freunde in Norddeutschland und im Grundsatz auch mit dem bayerischen Ministerpräsidenten.«1)
Bemerkenswert waren die Stellungnahmen der neuen Parteien. Die im Juni 1945 in Berlin gegründeten Parteien verstanden sich als »Reichszentrale« und sahen sich dabei in
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der Kontinuität zur Weimarer Republik. Ihnen traten die wenig später in den Westzonen zugelassenen Parteien als Konkurrenten entgegen. So lehnte es das »Büro Schumacher« in Hannover strikt ab, die Parteizentrale der SPD wieder in Berlin anzusiedeln. Am schärfsten erklärte sich Konrad Adenauer, der Führer der CDU in der britischen Zone. Im Februar 1946 verlangte er, »daß wir unter allen Umständen erstreben müssen, das politische Schwergewicht Deutschlands, das so lange in Berlin gelegen hat, von Berlin fortzuverlegen, selbst wenn Berlin nicht von den Russen besetzt wäre«.2) In der Folge wurde er nicht müde zu dozieren, daß die künftige Hauptstadt nicht wieder inmitten märkischer Kartoffelfelder, sondern unter den Rebhügeln am Rhein liegen sollte, »denn dort ist altes Kulturland und kein Kolonialland«, dort seien »die Fenster Deutschlands auch nach dem Westen hin weit geöffnet«.3)
Was zunächst ein Führungsstreit zwischen der CDU-West um Adenauer und der CDU-Ost um Jakob Kaiser zu sein schien, nahm alsbald prinzipiellen Charakter an. Die amerikanisch lizenzierte »Neue Zeit« brachte am 3. Mai 1946 einen groß aufgemachten Artikel »Berlin? – Berlin!« Der Kölner »Rheinische Merkur« konterte am 15. November 1946: »Bundeshauptstadt Frankfurt?« In den »Frankfurter Heften« sinnierte Eugen Kogon über »Berliner Zentralismus und Frankfurter Bundesregierung«. Der Würzburger Historiker Ulrich Noack plädierte für einen
Mittelweg: die Verlegung der Hauptstadt in das Herz Deutschlands, nämlich auf den Hohen Meißner nahe Kassel. Die Debatte um eine (zentral)deutsche oder westdeutsche Hauptstadt war in aller Öffentlichkeit entbrannt.
     An der Jahreswende 1947/48 hatte sich die politische Großwetterlage grundlegend verändert. Die Westmächte nahmen Kurs darauf, einen sich Westeuropa zugehörig fühlenden westdeutschen Bundesstaaat zu gründen und provozierten somit die Schaffung eines ostdeutschen Staates unter sowjetischer Ägide.
     Das Hauptstadtproblem wurde zu einem Scheidepunkt. Die politische Elite der Westzonen dachte so wie der Sozialdemokrat Erich Ollenhauer: »Wir wünschen kein einheitliches Deutschland unter den Bedingungen, wie sie heute in der Ostzone bestehen.«4) Der »Reichshauptstadt Berlin« war damit endgültig der Boden entzogen. Nach den Worten Kurt Schumachers besaß sie nur noch einen Wert als »mächtige Außenbastion und ein politisches Einflußzentrum für die Ostzone«.5)
Bezeichnenderweise äußerten sich die westdeutschen Länderverfassungen von 1946/47 nicht zur Hauptstadtfrage. Man hätte annehmen können, daß wenigstens in Berlin eine klare Bestimmung in die Verfassung von 1948 aufgenommen worden wäre. Weit gefehlt! SPD, CDU und LDP, die seit den Oktoberwahlen 1946 die Mehrheit in den städti-
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schen Organen stellten, sprachen sich für »ein Land und eine Stadt« aus und lehnten die SED-Forderung, Berlin solle die Hauptstadt einer deutschen Republik sein, rundweg ab.
     Da für die meisten westdeutschen Länder- und Parteipolitiker der »russisch besetzte Teil Deutschlands« auf unabsehbare Zeit verloren war, konnte ihnen eigentlich das Schicksal der Hauptstadt Berlin inmitten der Ostzone gleichgültig sein. Zutreffend schrieb
der Kölner Historiker Otto Dann: »Die westdeutschen Parteien verblieben in ihren Zonen; sie überließen Berlin und die sowjetzonalen Parteien dem Schicksal und den Pressionen des Kalten Krieges ... Berlin ist nicht von den Siegermächten, sondern zuerst von den Deutschen selbst seiner Hauptstadtfunktionen beraubt worden.«6)
Allerdings konnte die Absage an Berlin mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung niemals definitiv sein. Der Parlamentarische

Am 18. Juni 1959 bezog Bundespräsident Theodor Heuss das Schloß Bellevue als seinen zweiten Amtssitz. Zunächst für drei Tage wehte die Standarte des Staatsoberhauptes auf dem Mittelgiebel
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Rat, der von September 1948 bis Mai 1949 das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ausarbeitete (es enthielt keine Hauptstadtbestimmung), wählte am 10. Mai 1949 mit den Stimmen der CDU/CSU Bonn zum vorläufigen »Bundessitz«, den Begriff »Hauptstadt« geflissentlich vermeidend. Frankfurt am Main, von der SPD favorisiert, war aus dem Rennen geschlagen, ebenso die anderen Kandidaten Kassel und Stuttgart. Der 1. Deutsche Bundestag bestätigte am 3. November 1949 die Option zugunsten der linksrheinischen Universitätsstadt. Dabei flossen – wie das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« ein Jahr später enthüllte – beträchtliche Bestechungsgelder.
     Der »Bundessitz« Bonn entstand gewissermaßen auf der grünen Wiese zwischen Rheinufer und der heutigen Adenauerallee. Bis Mitte 1951 waren bereits 23 Millionen Mark verbaut, und längst war noch kein Ende abzusehen. Zu den Bundesbauten kamen die Botschaftsgebäude, die Ländervertretungen, die Parteizentralen und die Büropaläste der Wirtschaft und Interessengruppen und nicht zuletzt die Wohnungen für die Staatsbediensteten. Alles sollte nur provisorischen Charakter haben, denn nach einem Grundsatzbekenntnis des Bundestages wollte man im Falle einer deutschen Wiedervereinigung zurück nach Berlin.
     Im »Tauwetterjahr« 1956 fragte Marion Gräfin Dönhoff in der »Zeit«: »Warum erklären wir nicht, die nächste Regierung wird in
Berlin amtieren?«7) Der Berliner Sozialdemokrat Willy Brandt und der Hamburger CDU-Abgeordnete Gerd Bucerius griffen die Anregung sofort auf. Doch bedurfte es großer Anstrengungen, bis der Bundestag im Frühjahr 1959 wenigstens den Wiederaufbau des Reichstages beschloß, der Bundespräsident im Sommer 1959 das Schloß Bellevue als zweiten Amtssitz bezog und die Bundesregierung einige demonstrative Bundespräsenzen in West-Berlin vornahm.
     An eine Verlegung der gesamten Regierungstätigkeit an die Spree war zu Zeiten des Kalten Krieges nicht zu denken. Das verboten die Bonner Staatsräson ebenso wie die westalliierten Berlin-Interessen. Die obligatorischen Berlin-Bekenntnisse erstarrten zum Ritual in dem Maße, wie eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten in weite Ferne zu rücken schien. In der Teilungsperiode lebte für die Westdeutschen Berlin als Hauptstadt höchstens im öffentlichen Bewußtsein weiter; für die Ostdeutschen hingegen nahm Ost-Berlin als Hauptstadt der DDR reale Gestalt an. Für Außenstehende blieb trotz der Entspannungspolitik seit Beginn der siebziger Jahre als Gesamteindruck: »Die ehemalige Hauptstadt eines der mächtigsten europäischen Länder ist sozusagen der Lunapark des Kalten Krieges geworden.«8)
Dem Zwang des Faktischen folgend, entwickelte sich Bonn, in den fünfziger Jahre noch als »Bundesdorf« bespöttelt, zur tat-
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sächlichen, von der westdeutschen Bevölkerung und von der Weltöffentlichkeit akzeptierten Hauptstadt. In Vorbereitung der 2000-Jahr-Feier der Stadt Bonn im Jahre 1989 – was bedeutete demgegenüber schon die 750-Jahr-Feier Berlins 1987 – wollte man städtebaulich Abschied vom Provisorium nehmen. Zu den protzigen Neubauplänen zählten ein neues Bundeshaus, ein Abgeordnetenhochhaus, Ministerienbauten und nicht zuletzt ein »Haus der Geschichte der Bundesrepublik«. Dann geschah etwas, womit keiner mehr gerechnet hatte. Das Ende des Kalten Krieges und die Vereinigung Deutschlands im Jahre 1990 eröffneten urplötzlich die Chance der Rückkehr der Hauptstadtfunktion an ihren historisch angestammten Platz. Doch statt die feierlichen Bekundungen und Versprechungen aus früherer Zeit zu erfüllen, setzte aufs neue eine mit zunehmender Härte geführte Diskussion ein, die das eben vereinigte Land erregte. Bonn oder Berlin – das war keine Frage der geographischen Lage, des Wohlwollens oder der Zweckmäßigkeit. Hier standen deutsche Geschichte, nationale Identitätsfindung und europäische Vision auf dem Prüfstand. Am 20. Juni 1991 entschied der 12. Deutsche Bundestag in einer über zehnstündigen Debatte die Hauptstadtfrage, der Ausgang war denkbar knapp: Von den 660 anwesenden Abgeordneten votierten 338 für Berlin und 320 für Bonn. Die Entscheidung fällten Vertreter aus dem Osten und Norden, von CDU, FDP, PDS und Bündnis 90/Grüne; für Bonn sprachen vorwiegend Abgeordnete von SPD und CSU aus dem Westen und Süden. Am 12. Oktober 1993 beschloß die Bundesregierung, bis zum Jahre 2000 umzuziehen und die entsprechenden städtebaulichen und sonstigen Voraussetzungen hierfür zu schaffen.
     Die Rückgewöhnung an die Hauptstadt Berlin schuf weniger Probleme als erwartet. In die Genugtuung darüber mischte sich allerdings die Nachdenklichkeit, daß dies der teuerste Umzug einer Hauptstadt in der modernen deutschen Geschichte sein wird.

Quellen:
1     Zitiert in: Wilhelm Hoegner, Der schwierige Außenseiter, München 1959, S. 280
2     Konrad Adenauer, Briefe 1945–1947, Berlin 1983, S. 154
3     »Der Tagesspiegel« vom 12. November 1946
4     »Hannoversche Presse« vom 19. September 1947
5     Acht Jahre sozialdemokratischer Kampf um Einheit, Frieden und Freiheit, Dokumentation, Bonn 1954, S. 28
6     Otto Dann, Die Hauptstadtfrage in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg, in: Hauptstädte in europäischen Nationalstaaten, München–Wien 1983, S. 44
7     »Die Zeit« vom 11. Oktober 1956
8     Stéphane Roussel, Die Hügel von Berlin. Erinnerungen an Deutschland, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 32

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