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Die gebaute Umwelt des Lebens der Menschen

Bruno Flierl zu Architektur und Stadtplanung

In der Diskussion um die Entwicklung des Berliner Stadtzentrums, um Architektur und Stadtplanung generell, taucht seit 1990 der Name Bruno Flierl immer wieder auf. Einmal Kritiker, immer Kritiker? Wie wurde denn aus dem Architekten ein Architekturkritiker?
     Bruno Flierl: Weihnachten 1947 kehrte ich aus der Kriegsgefangenschaft zurück, im Herbst 1948 begann ich an der Westberliner Hochschule der Bildenden Künste mit dem Architekturstudium. Schon nach drei Jahren, da hatte ich mein Werk- Architektenexamen gemacht, ging ich an die neugegründete Bauakademie nach Ost- Berlin. Ich wollte nicht unbedingt selbst bauen, sondern helfen, Architektur zu entwickeln.

Damals war es ja eher üblich, vom Osten in den Westen zu gehen. War das eine politische Entscheidung?
     Bruno Flierl: Durchaus. Wir lebten in West- Berlin, mein Vater war links orientiert. In Auswertung der Nürnberger Prozes-

se und bei der Aufarbeitung der NS-Zeit sah ich, wie in welchem Teil Deutschlands zur Vergangenheit Stellung genommen wurde. Für mich war klar, daß der Osten eine dynamische, kritische Aufarbeitung anstrebte, während im Westen manches zugedeckt wurde. Das paßte mir politisch nicht. Als ich in den Krieg mußte, war ich allgemein humanistisch- demokratisch gesinnt. Jetzt mußte ich mich politisch entscheiden. Und ich konnte mich ja informieren. Ich besuchte Veranstaltungen der sowjetischen Kulturoffiziere im Haus der Deutsch- Sowjetischen Freundschaft am Festungsgraben, ich ging zu Celibidache- Konzerten in den Titania- Palast. Außerdem erlebte man ja, daß die deutschen Emigranten- Künstler, die Creme der Weimarer Republik, zu einem großen Teil nach Ostdeutschland, in die dann schon gegründete DDR, zurückkamen. Eine zentrale Rolle spielte für mich die Person und das Werk von Bertolt Brecht. Was da auf der Bühne stattfand, war eben nicht nur Spiel, sondern Auseinandersetzen und Begreifenlernen, was in der Gesellschaft wirklich vor sich geht. All das bestimmte letztlich meine Entscheidung für den Osten.

Gab es einen konkreten Anlaß, die Hochschule zu verlassen und zur Bauakademie in den Osten zu gehen?
     Bruno Flierl: Indirekt schon. Ich war mit dem Aufbau der Stalinallee nicht einverstanden. Ideal der fortschrittlichen Architek-

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ten der Weimarer Zeit, eigentlich seit Anfang des Jahrhunderts, waren baulich- räumliche Strukturen in der Einheit von Städtebau und Architektur. Was diese Architekten wollten, läßt sich aber nur unter Verhältnissen gesellschaftlichen Eigentums und gesellschaftlicher Zielstellungen verwirklichen. Deshalb konnte ich nicht verstehen, daß eine neue Gesellschaft sich – wie bei der Stalinallee – alter historischer Metaphern der Architektur und der Repräsentanz gesellschaftlicher Bedeutungen bedient. Ich fand, die neue Gesellschaft brauche auch eine neue Architektur. Schließlich war ich im Geist von Bauhaus ausgebildet. Es ging mir eigentlich immer darum, die Wechselwirkung von Gesellschaft und Architektur zu begreifen und mich, wo immer möglich, einzumischen in die Beförderung einer Entwicklung für beide.

Sie gingen damals an das Institut für Theorie und Geschichte der Baukunst an der Bauakademie, also in die wissenschaftliche Arbeit.
     Bruno Flierl: Unter wissenschaftlicher Arbeit verstand ich, mich auf Grundlage von Analysen an der Formulierung von Zielsetzungen und Kriterien für die Entwicklung von Städtebau und Architektur zu beteiligen. Ich fühlte mich also nicht vordergründig als Kritiker, sondern eigentlich als Theoretiker, der natürlich immer die kritische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit braucht.

Architektur wurde in der DDR der Kunst zugerechnet. Wie erging es den Architekten in der Formalismus- Debatte?
     Bruno Flierl: Die ersten Konflikte tauchten tatsächlich mit dem Problem Kunst auf. Auch ich vertrat damals noch die Auffassung, die ja tradiert ist, daß Baukunst der Oberbegriff ist, der die Tätigkeit der Architekten und Städteplaner in einem gesellschaftlich bedeutsamen Sinn abdeckt. Als die berühmtberüchtigte Schrift »Überbau« von Stalin auf die Architektur angewandt wurde, war das für mich reiner Unsinn. Natürlich hat Architektur auch Überbaufunktion, aber sie mit Überbau gleichzusetzen, fand ich absurd. Damals war ich Zeuge einer Diskussion zwischen Ernst Fischer und Wilhelm Girnus. Fischer verteidigte die dominante Rolle der Produktivkräfte gerade im Bereich der Architektur, Girnus schrieb einen sehr scharfen Artikel gegen ihn. Ich ging in die Redaktion des »Neuen Deutschlands«, da war Girnus Kulturredakteur, und bot einen Gegenartikel an. Der wurde natürlich nicht gedruckt.
     Das Problem Architektur und Kunst ist dann in den 60er Jahren vehement für mich aufgebrochen. Mit der bis dahin ja quasi verbotenen Entwicklung der Soziologie und einer kulturtheoretischen Konzeption, die vor allem DDR- Wissenschaftler ausarbeiteten, voran Fred Staufenbiel, kam eine völlig neue Bewertung mensch-
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licher Tätigkeit und eine neue Bewertung der Freisetzung der individuellen Kräfte des Menschen in die Diskussion. Es ging um Lebensweise und Kultur, Lebensumwelt, kulturelle Zwecksetzung, die durch die Fähigkeit des Menschen verwandelte Natur. Mein theoretischer Schritt bestand darin, Architektur als gebaute Umwelt des Lebens der Menschen zu definieren. Eingebettet in eine ganzheitliche Gesellschaftskonzeption und als Gegenmodell zur Theorie von der Industriegesellschaft.

Sie waren kurze Zeit Chefredakteur der Zeitschrift »Architektur«, und wieder taten sich Konfliktfelder auf. Warum?
     Bruno Flierl: Es gab klare politische und gesellschaftliche Zielsetzungen, und zwar von einem sozialpolitischen Niveau, das man grundsätzlich befürworten konnte: Wohnungen zu schaffen für alle, Städte zu bauen, in denen man gut leben kann, Harmonie der Funktionen Arbeiten, Wohnen, Kultur und Verkehr. Alles Ziele, die wir natürlich freudig begrüßten. Die Frage war nur, wer bestimmt im Konkreten. Ich kam in diese Zeitschrift mit dem Willen, die Architekten selbst zum Sprechen zu bringen und Artikel zu schreiben über ihre Probleme, über ihre Bauten. So fiel auch meine Berichterstattung über eine Diskussion junger Architekten mit dem damals 34jährigen Minister für Bauwesen, Wolfgang Junker, aus. Da war von Bürokratie und Behinderung die Rede, von jungen sowjeti-

schen Architekten, die neue Wege gingen, und das führte dann bald zum Ende meiner Journalistenarbeit.

Später kamen Sie wieder zur Bauakademie, und es folgten theoretisch äußerst fruchtbare Jahre. Konnte denn diese Einrichtung im ideologischen Windschatten segeln?
     Bruno Flierl: Das Institut für Theorie und Geschichte an der Bauakademie hatte einen neuen Direktor, den großartigen, auch international bekannten Hans Schmidt. Er gab uns jungen Leuten die Freiheit, systematisch zu denken. Wir haben dort, immerhin sechs, sieben Mann, in zehn Kapiteln eine Grundlegung der Architekturtheorie versucht. Das war wirklich extraordinär und fiel aus dem Rahmen, weil wir Psychologie, Soziologie, Semiologie und Technikwissenschaften einbezogen in die Betrachtungsweise, wie wohl Architektur für die neue Gesellschaft, die wir anstrebten, am besten entwickelt werden sollte. Unser Werk wurde dann in kontrollierten Exemplaren von knapp 300 Stück verteilt, aber nie öffentlich diskutiert.

Ist das ein Stück gültige Architekturgeschichte, oder sehen Sie heute, unter anderen Bedingungen, manches ganz anders?
     Bruno Flierl: Wir hatten überhaupt kein übertriebenes Selbstbewußtsein, wenn uns damals schon klar war, daß wir das Niveau der internationalen Diskussion über diese Probleme erreicht hatten, ja einen Schritt vorausgegangen waren. Architektur

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als gebaute Umwelt des Lebens gesellschaftlicher Individuen zu begreifen, nicht des Menschen als Abstraktum, sondern konkret, in konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen, da haben wir einen theoretischen Anfang gemacht. Gemeinsam mit der Kulturtheorie der DDR, die um diese Zeit mit Staufenbiel, Hanke und Mühlberg repräsentiert war. So sind wir später auch in die Diskussion gekommen über das wesentlichste Problem: Im Gegensatz zur bisherigen marxistischen Theorie formulierte ich – fußend auf dem Philosophen Lothar Kühne – die räumliche Dimension des Gesellschaftlichen. Die marxistische Gesellschaftstheorie hatte die gesellschaftliche Tätigkeit des Menschen immer als kooperative arbeitsteilige Tätigkeit analysiert und betrachtet. Es reduzierte sich alles auf das Kriterium der Zeit. Letztes Kriterium aller produktiver Tätigkeit ist die Zeit, das ist richtig. Aber alle, zumal arbeitsteilige und dann wieder kooperierte Tätigkeit der Individuen ist auch räumlich dimensioniert. Von der Stadtplanung und Territorialplanung, der Planung eines Hauses mit seinen vielen Räumen wissen wir, wie wichtig es ist, die Tätigkeit über den Raum zu verknüpfen und philosophisch gesehen die Einheit von Raum und Zeit herzustellen.

Ein Theorieansatz also, der bei den »reinen Marxisten« sicher nicht gefragt war.
     Bruno Flierl: Nein, weil er eine Gesell-

schaft voraussetzte, die auch verfügen kann über Raum und Zeit, ihre eigenen Möglichkeiten. Und der reale Sozialismus der DDR knirschte ökonomisch, war demokratisch nicht entfaltet, geistig nicht kommunikativ und in den Kalten Krieg und die Rüstung eingespannt. Wir hatten eigentlich eine Theorie des kommunistisch emanzipierten Menschen vor Augen, das heißt, einer Gesellschaft, in der die Individuen von allem Zwang befreit über sich selbst verfügen.
     Lothar Kühne ist in diese Zukunft möglicher Gesellschaftlichkeit, sei sie utopisch oder nicht, so weit vorgestoßen, daß er sich von dort die Kriterien der Kritik am realen Sozialismus holte. Das machte ich in meinem Denken für Architektur auch. Damit waren wir zwar nicht im Verdacht, wir würden unsere Kriterien aus der gesellschaftlichen Realität des Kapitalismus beziehen – was wir tatsächlich nicht taten und auch nicht wollten –, aber wir bezogen sie aus einer Zukunft, zu der die DDR gar nicht fähig und willens war.

Die gebaute Umwelt des Lebens der Menschen blieb unter Verhältnissen des gesellschaftlichen Eigentums ein Traum. Seit die Mauer fiel, mischen Sie sich wieder ein, bringen sich ein, versuchen zu gestalten.
     Glauben Sie, unter den neuen Verhältnissen Ihre Träume verwirklichen zu können?

     Bruno Flierl: Ich habe nie die Illusion gehabt, daß es unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen möglich sei, zu verwirk-

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lichen, was in der DDR nicht ging. Durch die Entwicklung seit 1990 bin ich immer mehr zu der bitteren Überzeugung gelangt, daß meine Grundauffassung von der kapitalistischen Gesellschaft bestätigt wird.
     Und: Ich habe keine theoretische Konzeption, wie ich dieser Gesellschaft, in die ich geraten bin, helfen kann. In dem Sinne, daß sie sich entwickelt. Ich weiß nicht, welches Modell ich dieser Gesellschaft empfehlen soll. Deshalb mache ich etwas anderes. Ich analysiere und beobachte den Prozeß des Zusammenwachsens dieser geteilten Stadt Berlin. Bei kritischer Verteidigung des von der östlichen Seite Geschaffenen, um es einzubringen in ein gemeinsames Ganzes. Es geht ja darum, zwei unterschiedlich gelebte und gebaute Städte in Berlin zusammenzubringen. Da war ich, so wie sich das im Jahr 1990 zu entwickeln begann, zunächst einiger Hoffnung. Mit der Währungsunion und dem Einigungsvertrag änderte sich das. Alle DDR- Stadtplaner waren »freigesetzt«, fielen gesellschaftlich als Kraft aus. Was gebaut wurde, kam aus Investitionen des Westens, auch was geplant wurde, kam vom Westen. Insofern war dann die Anfang 1991 gegründete Institution »Stadtforum« zunächst ein Hoffnungsschimmer. Ich war dort zwar nicht Mitglied, aber ständiger Teilnehmer in der ersten Zeit. Und wir hatten auch einige Aufgaben zu erledigen, die wir gern taten, nämlich Modelle auszuarbeiten für die Innenstadt,
Ideen zu entwickeln, wie Berlin zusammenwächst. In diesem »Stadtforum« herrschte eine wissenschaftliche und fachlich fundierte Atmosphäre. Es waren hervorragende Diskussionen, aber man konnte auch beobachten, wie die Politik dabei lief: Alle Informationen gingen in den Senat, wurden intern ausgewertet und zu Beschlüssen umfabriziert. Die durften wir dann in der Presse lesen. Die Enttäuschung darüber, daß das Einbringen der neuen Bundesbürger, von den Politikern immer beschworen, gar nicht gewollt war, kulminierte dann beim ersten großen Beschluß des Bonn- Berlin- Ausschusses 1993. Alle Diskussionen im »Stadtforum« waren damit zunichte gemacht, es wurde autoritär festgelegt, was in der Mitte Berlins, vor allem auf der Spreeinsel, zu passieren hat und was nicht. Alle Bemühungen, alle Diskussionen auch von den wenigen kritisch mitdenkenden ehemaligen DDR- Bürgern, waren null und nichtig. Das hat meine weitere Verhaltensweise bestimmt. Hoffnung, daß da wirklich etwas zu verändern ist im Sinne von Entwicklung, ist dem Anspruch gewichen, wenigstens Wesentliches zu bewahren und zu verteidigen.

Unlängst erschienen im Verlag für Bauwesen zwei Bücher von Ihnen, »Gebaute DDR. Über Stadtplaner, Architekten und die Macht« und »Berlin baut um – Wessen Stadt wird die Stadt?«. Woran arbeiten Sie zur Zeit?
     Bruno Flierl: Ich werde mich auch wei-

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terhin über Berlin und auch über die DDR äußern, das ist klar. Jetzt habe ich mir erst einmal vorgenommen, zu Ende zu bringen, was ich wegen der Auseinandersetzungen in Berlin in der Nach-DDR- Zeit zurückgestellt hatte, obwohl ich es fleißig durch Reisen weiterbetrieben habe: ein Buch über die Hochhausentwicklung im 20. Jahrhundert, »Hochhaus und Stadt«, »100 Jahre Hochhäuser« oder so ähnlich. Da werde ich Hochhäuser nicht nur als Bauwerke der Höhe und der architektonischen Gestalt nach beurteilen und vergleichen. Mein Thema ist vielmehr Hochhaus und Stadt, es geht um die Analyse gebauter Gesellschaftlichkeiten. Von Amerika, wo es angefangen hat mit den Hochhäusern am Ende des 19. Jahrhunderts, bis nach Asien, wo nun die Hochhäuser Amerikas entthront werden.

Und was halten Sie vom Potsdamer Platz?
     Bruno Flierl: Wenn noch einige dieser Shopping- Center und Malls in der Stadt gebaut werden, kann es gut sein, daß die Leute in der Art mit den Füßen abstimmen, daß sie gar nicht mehr hingehen. Die Arkaden vom Potsdamer Platz, so hieß es ja, seien freudig angenommen worden. Der Bereich Potsdamer Platz ist, vom Stadtraum her gesehen, kein Platz, sondern eine Insel in einem Berlin, das ringsherum überhaupt noch nicht lebt. Man muß abwarten, wie die »Durststrecke« zwischen Potsdamer Platz und Friedrichstraße bewältigt wird.

Da sind staatliche Einrichtungen, das ehemalige Herrenhaus wird zum Sitz des Bundesrates umgebaut, das ehemalige Luftfahrtministerium ist jetzt Finanzministerium, da ist Regierung, da ist Staat und eben keine Flanierstrecke. Und wie wird der Leipziger Platz aussehen? Er war ja früher eher ein ruhiger Platz. Der lebendige Punkt war der Kreuzungspunkt Potsdamer Platz. Jetzt haben wir ein ganzes Areal, aber die Verbindung zur lebendigen Stadt besteht nur über die Potsdamer Straße, von der man aber gar nicht so ohne weiteres zum Potsdamer Platz kommt. Dazwischen befindet sich nämlich das Kulturforum, noch immer genauso öd und langweilig, wie es früher war. Die Verbindung bis zum Zoo hinüber geht durch ein Diplomatenviertel, das wieder reaktiviert wird, und die Verbindung zum Reichstagsgebäude über eine Ebertstraße, an der auch Bundeseinrichtungen entstehen werden, ist auch nicht gerade eine lebendige Strecke. Es kann passieren, daß der Potsdamer Platz ein Ort ohne Urbanität wird.

Das Gespräch führte Hans-Jürgen Mende

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