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Joachim Bennewitz
Adolf Stoecker: Theologe, Politiker und Antisemit

Adolf Stoecker, eine der widersprüchlichsten Gestalten der wilhelminischen Zeit, ist, insbesondere in den letzten Jahren, in ebenso widersprüchlicher Weise behandelt worden. So befaßte sich ein Beitrag in der »Berlinischen Monatsschrift« 8/97 nur mit seinem Wirken als Sozialpolitiker. Deshalb soll ein weiteres Mal von ihm die Rede sein.
     Am 11. Dezember 1835 als Sohn eines Halberstädter Schmiedes und späteren Wachtmeisters geboren, studierte der junge Mann in Halle und Berlin Theologie, trat mit 24 Jahren in Riga eine Hauslehrerstelle an und wurde 1863 Pfarrer in Seggerde bei Gardelegen. Schon 1866 ließ er sich von der patriotischen Hochstimmung mitreißen, wie es in einer Biographie heißt, und 1870 meldete er sich sofort nach Kriegsbeginn als Feldprediger, wurde jedoch erst 1871 Divisionsprediger in der lothringischen Stadt Metz. Seine Arbeit in den Kriegsmonaten machte ihn offensichtlich bekannt, weshalb er schon 1874 auf die durch einen Todesfall frei gewordene Stelle als vierter

Hofprediger in Berlin berufen wurde. Kaiser Wilhelm I. (1797–1888, Kaiser ab 1871) schätzte seine Dienste sehr, so konnte Stoecker den Monarchen auf Reisen und zu Kuraufenthalten begleiten. In den Jahren 1878 bis 1890 stellte sich Stoecker voll in den Dienst der selbstgewählten Aufgabe, die aufstrebende Sozialdemokratie zu bekämpfen. Diese Aktivitäten hatten Stoecker inzwischen zum ausgewiesenen Antisemiten gemacht, und das führte schließlich 1889 zu seiner Ablösung durch Kaiser Wilhelm II. (1859–1941, Kaiser 1888–1918). Fortan war er noch Reichstagsabgeordneter und Vorstandsmitglied der Konservativen Partei sowie Mitglied in deren reaktionärstem Flügel (»Kreuzzeitungspartei«). Am 9. Februar 1909 starb er bei Bozen. Begraben ist er auf dem Kirchhof der Dreifaltigkeitsgemeinde in der Kreuzberger Bergmannstraße.
     Diese kurzgefaßte Biographie gibt nur einen sehr unvollkommenen Einblick in das Leben eines Mannes, der seine Stellung bei Hofe und in der Kirche dazu benutzte, extrem konservative und antisemitische Ziele zu verfolgen und mit allen ihm zu Gebote stehenden Möglichkeiten zu propagieren. Damit befand er sich in einer dem damaligen Zeitgeist entsprechenden Richtung, womit auch der zeitweilig große Zulauf zu seinen Versammlungen zu erklären ist. Doch gelang es ihm schließlich nicht, seine Ziele nachhaltig durchzusetzen. Sein Einfluß bei der Masse der Berliner
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verblaßte sehr schnell, und schließlich geriet er auch beim Kaiser, der ihn anfangs unterstützt und geschützt hatte, in Ungnade und mußte Anfang April 1889 eine schriftliche Erklärung zur Aufgabe des »politischen Parteikampf(es) überhaupt für sich wie für die christlichsoziale Partei« abgeben. Wirklich buchstabengetreu hat er sich Zeit seines Lebens jedoch nie daran gehalten.
     Zwei Momente waren es, die die Haltung Stoeckers beeinflußten und seine politische Laufbahn bestimmten: die Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie und die nach 1869 im Gebiet des Norddeutschen Bundes gefallenen letzten Beschränkungen der Judenemanzipation. Das erste versetzte nicht nur die Herrschaftshäuser, sondern weite Teile des Bürgertums in Sorge um die zukünftige Entwicklung der Monarchie, das zweite trug zu einer latenten Sorge um den Platz auf ökonomischem Terrain im neugeschaffenen Deutschen Kaiserreich bei. Diese Sorge hatte sich, insbesondere nach den Auswirkungen des »Gründerkrachs«, nicht nur auf die großen Kapitalvereinigungen beschränkt, sondern bis zum Handwerkerstand durchgängig auch alle Schichten des Mittelstandes erfaßt. Man war zu dem Schluß gekommen, daß »die Juden« zu sehr an Einfluß gewonnen hätten und an den Rückständen bei der Prosperität des »angestammten« Unternehmertums ebenso schuld wären wie an anderen Problemen im Lande. Vor allem hatte sich die
Meinung verbreitet, der Einfluß jüdischer Kräfte im gesamten Staatswesen habe so sehr zugenommen, daß »die Deutschen« auf allen Gebieten um ihre gottgewollte Vorherrschaft besorgt sein müßten. Beide Momente veranlaßten schließlich die Leitung der Evangelischen Kirche, verstärkt zu sozialen Fragen Stellung zu nehmen. Letztlich aber mit dem Ziel, das Verhältnis von Thron und Altar zum Volk zu harmonisieren.
     In dieser Situation ging Stoecker an die Gründung einer Partei. Am 3. Januar 1878 fand dazu die (erste) »Eiskellerversammlung« (BM 1/96) in dem gleichnamigen Berliner Lokal statt. Doch sie erreichte ihr Ziel nicht, die etwa 1 000 Anwesenden gaben einer Erklärung gegen Stoecker und für die Sozialdemokratie ihre Zustimmung, so daß erst zwei Tage später im kleinsten Kreise die Gründung vollzogen werden konnte. Dennoch scheint sich in den folgenden Monaten, ausgelöst durch die Redegewalt Stoeckers, der Zulauf zu seinen Versammlungen gut entwickelt zu haben. Die Christlichsoziale Arbeiterpartei (CSAP) jedoch, die schon vom Namen her als Gegenpart zur Sozialdemokratie angelegt war, erreichte zu keiner Zeit nennenswerte Mitgliederzahlen oder gar Erfolge bei Wahlen. Sie änderte daher im Januar 1881 ihren Namen in Christlichsoziale Partei (CSP), den sie bis zu ihrem Aufgehen in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) im
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Eine ebenso tüchtige wie schwarze Schar setzt sich unter Adolfs bewährter Führung in Bewegung, um der Wahrheit nachzujagen und den Erbfeind zu bekämpfen. »Kladderadatsch« vom 23. Februar 1896
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Jahre 1918 behielt. Zugleich schloß sie sich der Deutschkonservativen Partei (DKP) als selbständige Gruppe an.
     Stoecker wurde 1881 Reichstagsabgeordneter der deutsch- konservativen Gruppen und verfocht, vergeblich allerdings, das Ziel der Gründung einer »christlich- demokratischen Volkspartei auf sozialer Grundlage«. Es gelang ihm jedoch, nicht unbedeutende Geldmittel für die CSP aufzutreiben. Vor allem der Berliner Kaufhausbesitzer Rudolph Hertzog (1815–1894) wird dabei genannt, der möglicherweise als Übermittler von Zuwendungen aus verschiedenen Fonds fungierte. Zu den Gönnern in hohen Kreisen zählten in dieser Zeit neben dem späteren Kaiser Wilhelm II. der preußische Innenminister Robert von Puttkamer (1828–1900) und Alfred Graf von Waldersee (1832–1904), nachmaliger berüchtigter Oberbefehlshaber der europäischen Truppen beim chinesischen Boxeraufstand 1900/1901. Reichskanzler von Bismarck, der noch 1879/80 – nachdem auch sein jüdischer Hausbankier Bleichröder (1822– 1893) ins Visier Stoeckers geraten war – beabsichtigt hatte, die CSAP wie die Sozialdemokraten zu verbieten, hat später über viele Jahre die Tätigkeit Stoeckers mehr wohlwollend denn ablehnend begleitet – trotz seiner Befürchtungen, daß sich aus der CSAP »ein von der Staatsregierung unabhängiges protestantisches Zentrum (gemeint war eine protestantische Zentrums-
partei, d. V.) neben dem katholischen« entwickeln könnte.
     So erreichte die Partei Stoeckers zwar ein bemerkenswertes Anwachsen der konservativen Kräfte in Berlin, nicht jedoch einen echten Gegenpol zur Sozialdemokratie.
     Dies und die Versuche, sich gegen alle Kräfte der besonderen Unterstützung des Kronprinzen zu versichern und Bismarcks Politik zu behindern, führten schließlich zum Sturz Stoeckers. Er spielte fortan nur noch die Rolle einer Symbolfigur, besonders in Versammlungen, war aber nicht mehr treibende Kraft der Partei. Er konzentrierte sich fortan mehr auf die soziale Arbeit, besonders die von ihm bereits 1877 gegründete Berliner Stadtmission, ohne jedoch die Partei zu vernachlässigen. Um die Jahreswende 1895/96 traten bei den Deutsch- Konservativen große Spannungen auf, die in offenen Auseinandersetzungen ausgetragen wurden und schließlich zur Herauslösung der CSP führten. Dazu sagte Stoecker in einer Versammlung: »Ich habe in den Zeitungen gelesen: die Konservativen gehen jetzt nach rechts, Stoecker nach links. Nein, meine Herren, das werden Sie nie erleben. Wir gehen noch rechtser.«1) Noch bis zu seinem Tode hielt er die führende Funktion in seiner Partei besetzt.
     Stoecker war einer der Wegbereiter des Antisemitismus in Deutschland. Sein berühmtberüchtigt gewordener Vortrag vom 19. September 1879 mit dem Titel »Un-
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sere Forderungen an das moderne Judentum« gipfelte in dem mit lebhaftem Beifall bedachten Aufruf: »Wir bieten den Juden den Kampf an bis zum völligen Siege und wollen nicht eher ruhen, als bis sie hier in Berlin von dem hohen Postament, auf das sie sich gestellt haben, herabgestürzt sind in den Staub, wohin sie gehören.«2) Damit wurde er zum Auslöser einer maßlosen Attacke gegen alles Jüdische, das sich nicht mit der Rolle eines geduldeten Fremdlings mit dem Makel der angeblichen Christenfeindschaft begnügen wollte. Er hatte Auswirkungen bis in die Zeit der vierziger Jahre unseres Jahrhunderts. Dabei ignorierte Stoecker die unübersehbaren Assimilationsbestrebungen unter den deutschen Juden bewußt und legte dar: »Die Juden sind und bleiben ein Volk im Volke, ein Staat im Staat, ein Stamm für sich unter einer fremden Rasse. Alle Einwanderer gehen zuletzt in dem Volke auf, unter welchem sie wohnen; die Juden nicht. Dem germanischen Wesen setzen sie ihr ungebrochenes Semitentum, dem Christentum ihren starren Gesetzeskultus oder ihre Christenfeindschaft entgegen. Wir können sie darum nicht verurteilen; solange sie Juden sind, können sie nicht anders. Aber wir müssen uns mit klarer Erkenntnis vor den Gefahren schützen, die in einer solchen Vermischung liegen.«3) Und er beklagte, daß sich mehr als 40 Millionen Deutsche unter den »materiellen und gei-
Wie der Katzenjammer aussieht, unter dem die Conservativen in Folge von Adolfs Austritt leiden. »Kladderadatsch« vom 16.Februar 1896  

stigen Druck von einer halben Million Juden« haben stellen lassen, daß der Begründer der deutschen Sozialdemokratie der Jude Lassalle gewesen sei, daß so viele ihrer Führer Juden seien. Dennoch, Juden könnten »durch aufrichtige Bekehrung völlig die unseren werden«. Stoecker kannte keine

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blutbestimmte Rasse, sondern nur die Religion. Konvertierte Juden waren für Stoecker keine Juden mehr!
     Ein Biograph Stoeckers, dem die Überlieferung vorstehender Zitate zu verdanken ist, setzte dem noch hinzu, nachdem er den Satz Treitschkes, »Die Juden sind unser Unglück«, als vollständig berechtigt bezeichnete: »Wenn wir heute einen Kampf gegen den Schmutz in Wort und Bild zu führen haben, wenn unser modernes Theater in Ehebruch und Zoten ertrinkt, wenn in der Kunst das Perverse und Stümperhafte sich breit macht, wenn dem Reichsgesetz zuwider die öffentlichen Häuser florieren und der Mädchenhandel blüht, wenn in der Politik die kritische Besserwisserei, die Zersetzung und Dekomposition der positiven Arbeit dem Staatsmann das Leben schwer machen – wohin Ihr faßt, Ihr werdet den Juden fassen.«4) An anderer Stelle bekräftigte er seine Übereinstimmung mit Stoecker so: » ... die Judenfrage. Diese Frage war ebenso wichtig wie gefährlich wegen der Machtstellung, welche das Judentum im öffentlichen Leben errungen hatte. Die Juden beherrschten damals den Fortschritt (gemeint ist die deutsche Fortschrittspartei, d. V.), und der Fortschritt beherrschte Berlin.«
     1880 beteiligte sich Stoecker an der sogenannten Antisemitistenpetition, die, mit etwa 255 000 Unterschriften versehen, am 13. April 1881 dem Reichskanzler übergeben
wurde. In ihr wurde das Verbot jüdischer Einwanderung ebenso gefordert wie der Ausschluß aller Juden von obrigkeitlichen Ämtern und aus dem Volksschulwesen sowie die Beschränkung der Tätigkeit von Juden in Justiz und im höheren Schulwesen. Sie enthielt auch die Andeutung der Möglichkeit eines künftigen antijüdischen Vorgehens auf dem Verwaltungswege. Rudolf Virchow (1821–1902) allein war es, der im November 1881 im Reichstag die zwiespältige Rolle der Regierung beim Zustandekommen der Petition zur Sprache brachte, ohne jedoch Gehör zu finden. Virchow vermutete auch Unterstützung aus Bismarcks »Reptilienfonds«. (1869 wurde dem damaligen preußischen Ministerpräsidenten der Vorwurf gemacht, er hätte aus beschlagnahmten Vermögenswerten einen geheimen Fonds zur Korruption der Presse und anderer Institutionen gebildet.)
     Nicht auf politischem Parkett, sondern in der Presse gab es Widerspruch gegen die haßerfüllten antisemitischen Vorstöße, wie ein kleines Gedicht offenbart:
     Es macht der Missionar im fernen Land
     Aus Kannibalen – Menschen, wie bekannt.
     In Deutschland macht schon zu verschied'nen Malen
     Ein Prediger aus Menschen – Kannibalen.5)

Auch in satirischen Blättern wie dem »Kladderadatsch« war Stoecker lange Zeit beliebte Vorlage für Texte und Karikaturen.
     Er empfand sich selbst als »Begründer

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der antisemitischen Bewegung« (in Preußen oder gar Deutschland) und erklärte am 24. Januar 1893 im Preußischen Abgeordnetenhaus, daß er »die Judenfrage aus dem literarischen Gebiet in die Volksversammlungen und damit in die politische Praxis eingeführt« habe. Er fühlte sich dabei in Übereinstimmung mit protestantischen Vorbildern, nicht zuletzt mit Martin Luthers antijüdischen Äußerungen. Gegenüber anderen bereits bestehenden antisemitischen Richtungen waren bei ihm rassistische Elemente nicht oder nur geringfügig vorhanden. Dennoch blieb eine verhängnisvolle Wirkung im Lande nicht aus. Inzwischen hatte sich an Stoeckers Wirken eine weitreichende antisemitische Bewegung angeschlossen, »eine lieblose Judenhetze, die es nur auf Erfolge, Beifall bei der Menge und geschäftliche Schädigung der Juden absah«.6)
     Eine gute Vorbedingung für das, was sich in der Folgezeit trotz aller Abschwächung und geistigen Rückdrängung des militanten Antisemitismus entwickeln durfte. Wenn man heute die Redetexte Stoeckers oder seiner Apologeten liest, wird die Verwandtschaft mit dem deutlich, was später in solchen Werken wie »Mein Kampf« oder in Artikeln des »Stürmer« niedergeschrieben wurde. Es ist also keineswegs ungerechtfertigt, den Hofprediger und christlichen Sozialarbeiter mit den Judenverfolgungen im Faschismus deutscher Prägung in Zu-
sammenhang zu bringen. Dabei hatte Stoecker stets zwischen getauften und nicht getauften Juden differenziert. Sein Bannstrahl traf die, die nicht konvertiert waren. Bei getauften setzte er offenbar eine Charakteränderung voraus. Im Gegensatz also zur späteren NS- Gesetzgebung, die solche Unterschiede nicht mehr machte. Was Anlaß zu Gehorsamsleistungen bei Amtsträgern der Deutschen Evangelischen Kirche in dieser Zeit war. Dafür mögen zwei Beispiele dienen:
     Am 6. Dezember 1938 wendet sich der württembergische Landesbischof D. Wurm, der sich in jenen Tagen wiederholt auch von der Kanzel gegen die Exzesse der »Reichskristallnacht« ausgesprochen hatte, mit einem Widerspruch zu den November- Pogromen an den Reichsjustizminister Gärtner. Er unterläßt aber nicht, in seinem Brief zu schreiben: »Ich bestreite mit keinem Wort dem Staat das Recht, das Judentum als gefährliches Element zu bekämpfen.
     Ich habe von Jugend auf das Urteil von Männern wie Heinrich von Treitschke und Adolf Stöcker über die zersetzende Wirkung des Judentums auf religiösem, sittlichem, literarischem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet für zutreffend gehalten ...«7) Am 22. Dezember 1941 schließlich, bezeichnenderweise kurz vor dem Weihnachtsfest, versendet die Kirchenkanzlei der DEK ein Rundschreiben folgenden Inhalts (Auszug) an die Landeskirchen: »Der Durch-
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bruch des rassischen Bewußtseins in unserem Volk, verstärkt durch die Erfahrungen des Krieges, und entsprechende Maßnahmen der politischen Führung haben eine Ausscheidung der Juden aus der Gemeinschaft mit uns Deutschen bewirkt. Dies ist eine unbestreitbare Tatsache, an welche(r) die deutschen evangelischen Kirchen nicht achtlos vorübergehen können. Wir bitten daher ... geeignete Vorkehrungen zu treffen, daß die getauften Nichtarier dem kirchlichen Leben der deutschen Gemeinde fernbleiben. Die getauften Nichtarier werden selbst Mittel und Wege suchen müssen, sich Einrichtungen zu schaffen, die ihrer gesonderten gottesdienstlichen und seelsorgerlichen Betreuung dienen können. Wir werden bemüht sein, bei den zuständigen Stellen die Zulassung derartiger Einrichtungen zu erwirken.
     In Vertretung gez. Dr. Führle«8) Dabei soll aber nicht verschwiegen werden, daß Landesbischof Wurm gegen diese Verfügung – erfolglos allerdings – schriftlichen Protest einlegte.
     Nun wäre es mit Sicherheit ungerechtfertigt, Stoecker zu unterstellen, daß er die fabrikmäßig betriebene Vernichtung der europäischen Juden, hätte er sie erleben müssen, gutgeheißen hätte. Daß jedoch zwischen dem 60 Jahre vorher begonnenen Weg und der »Endlösung der Judenfrage« Zusammenhänge bestehen, wird niemand bestreiten können. Stoecker muß sich da-
her im nachhinein den Vorwurf gefallen lassen, in vorderster Reihe zu denen gehört zu haben, die die Gräben ausgehoben hatten. Und: Die von ihm selbst beklagte Steigerung des Judenhasses über seine eigenen Argumente und Forderungen hinaus hätte ihn warnen sollen. Zu seinen Lebzeiten wäre noch Gelegenheit zum Nachdenken gewesen.

Quellen:
1     »Das Volk« vom 9. Februar 1896
2     Zitiert nach Walter Frank, Hofprediger Adolf Stoecker und die christlich- soziale Bewegung, Berlin 1928, S. 106
3     Dietrich von Oertzen, Adolf Stoecker, Lebensbild und Zeitgeschichte, Schwerin 1912, S. 151
4     Ebenda, S. 155
5     Aus »Reform« (Hamburg o. D.), zitiert nach Oertzen, S. 232
6     Max Braun, Adolf Stoecker (Volksausgabe), Berlin 1912, S. 120
7     Zitiert nach Kurt Meier, Kirche und Judentum, Halle/S. 1968, S. 68
8     Akten der DEK, Hannover- Herrenhausen, Akte Nr. C 3/170, 171 und 172, zitiert nach Meier

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Berlinische Monatsschrift Heft 3/99
© Edition Luisenstadt, 1999
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