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Hans Aschenbrenner
15. März 1909
»6 Tage sollst du strampeln ...«

Tausende Berliner drängen sich am Abend des 15. März 1909 vor den Ausstellungshallen am Zoologischen Garten, um im improvisierten Wintervelodrom den Beginn des ersten Sechstagerennens auf europäischem Boden zu erleben. Zwei Stunden vor Mitternacht ist der Start festgesetzt. 144 Stunden lang werden die Sechstagefahrer – 15 Mannschaften, die aus je zwei Athleten bestehen, die einander ablösen – auf ihre Rundenjagd gehen. Die Berliner kennen Vierundzwanzigstunden- Rennen und die spannenden ein-, zwei- und dreistündigen Dauerrennen hinter Motoren. Jetzt aber wagt man sich an eine neue Radsportvariante, die »Sixdays«, wie sie bereits seit 1896 im New Yorker Madison Square Garden alljährlich ausgetragen werden, zunächst als Einerrennen, seit 1899 – die Polizei war wegen »Menschenschinderei« eingeschritten – mit Zweiermannschaften.
     Auch wenn erklärte Gegner von der »Fahrt der Irren« sprechen, später sogar vom »Treffpunkt der Unterwelt« (ein gefaßter Raubmörder erklärt im Polizeiverhör, eine Nacht beim Radrennen verbracht zu

haben), sehr viele Berliner finden Gefallen an dem, wie eine bekannte Zeitung das Spektakel zutreffend charakterisiert, »Übersport, mehr ein prickelndes Schauspiel für nervenbehaftete Großstadtmenschen«. Sie belagern die Kassen, berappen für den Stehplatz zwei Goldmark; der Logenplatz kostet zwölf Goldmark.
     Alle Plätze sind längst besetzt, als sich der Uhrzeiger auf zehn bewegt. Die Raumverhältnisse zwangen zur Anlage einer 150-Meter- Bahn. Die Kurven sind vier Meter hoch, die Lauffläche der Bahn ist fünf Meter breit. Die Holzbahn hat unten, wo sie den Zement berührt, gerade noch einmal einen grünen Anstrich erhalten. Unter der Überschrift »Momentbilder aus dem Velodrom am Zoo« veröffentlicht das »Berliner Tageblatt« vom 16. März 1909 viele interessante Einzelheiten: »Die Pfosten der Brücke, die von der Galerie zur Bahn hinunterführen, sind mit Stroh und Sackleinewand umwickelt, um einer etwaigen Kollision ihre Härten zu nehmen. Wie Hühnerställe oder wie kleine Jahrmarktsbuden, aus Latten und Jute zusammengeleimt, ziehen sich an der einen Längsseite des Innenraumes die kleinen Bettgestelle hin, auf denen die Rennfahrer, um keine Sekunde zu verlieren und nicht erst die Kabinen aufsuchen zu müssen, ein paar Minuten Schlaf suchen werden. Eine tausendköpfige Menge blickt von der Galerie auf die Bahn hinab. In den vordersten Reihen sitzen die Habitués der Rennbahn.
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Die Musik schmettert einen Militärmarsch, aber niemand hört auf ihn ... Die Rennfahrer und Manager hantieren an den Rädern, die Felgen werden geprüft, die bunten Trikots werden angezogen. Die sehnigen Figuren der Rennfahrer kontrastieren zu den oft behäbigen Managern. Von Minute zu Minute wächst die Erregung. Die letzte Hand wird an die Toilette gelegt. Das Spiel kann beginnen.«
     Und so geht es los: eine Ehrenrunde für alle 30 Rennfahrer, dann Probestart. Blitzlichter flammen auf. Auf der Bahn bleiben jene 15 Fahrer, die das Rennen beginnen werden. Als Altmeister August Lehr den Startschuß abgibt, setzen sie sich in Bewegung. Nur langsam fährt man vorwärts, sehen doch die Regeln vor, daß während der ersten fünf Runden nicht gespurtet werden darf. Dann kommen die ersten Vorstöße, auch der erste Sturz eines Franzosen in den Graben, bei dem ein deutscher Fahrer mitgerissen wird.
     Die Rennbestimmungen folgen dem New Yorker Reglement und sollen dazu beitragen, ein solches Mammutrennen jederzeit im Griff zu behalten. So hat die Ablösung eines Fahrers von der Innenkante der Bahn aus zu erfolgen, wobei der ablösende Fahrer sich vor das Feld legen und seinen Partner herankommen lassen muß. Von hinten an dem Feld vorbeispurtend darf nicht abgelöst werden. Bei einem Pneumatik- oder Maschinendefekt werden, wie es formuliert
ist, fünf Runden Erlaubnis gegeben, und wenn der Defekt dann noch nicht behoben ist, kann die Direktion ausnahmsweise die Erlaubnis verlängern, wenn der Fahrer keine böswillige Absicht, sprich Einlegen einer Ruhepause, erkennen läßt. Bei einem Sturz wird dreimal geläutet, worauf den Fahrern Vorstöße untersagt sind, eventuell gewonnenes Terrain zählt dann nicht. Mit fünfmaligem Läuten beginnt das Rennen wieder. Jede gewonnene oder verlorene Runde muß vom Rennausschuß und der Direktion anerkannt werden. Fahrer, die disqualifiziert werden, sei es wegen unreellen Fahrens, unanständigen Betragens oder Gehorsamsverweigerung, haben keinen Anspruch auf eventuell gewonnene Preise oder Entschädigungen. Falls eine Mannschaft nicht durch Krankheit oder sonstige stichhaltige Gründe entschuldigt ist, muß sie das Rennen selbst dann fortsetzen, wenn sie ihre Position nicht verbessern kann, es sei denn, sie wird von der Direktion zum Aufhören aufgefordert.
     Den Berichten vom Verlauf des Rennens kann unschwer entnommen werden, daß es dabei so manche Durststrecken gegeben hat. Zeitungen schreiben von »schlotternden Lemuren«, die um die Bahn gekrochen seien. Für den Fall, daß mitunter viele Stunden lang in einem solchen Radmarathon nichts Sonderliches passieren würde, hat man Vorsorge getroffen. So weiß das »Berliner Tageblatt« vorab (15. März) zu berichten: »Von der Rennleitung ist deshalb für musikalische
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Unterhaltung zur Genüge gesorgt. Am Tage werden Militärkapellen spielen, während der Nacht von 12 Uhr bis 6 Uhr morgens wird der bekannte Dirigent Einödshofer konzertieren. Im übrigen bieten die Büfetts und die eingerichteten Bars auch für die Zuschauer zur Genüge Erfrischungen und Stärkungen. – Jeden Morgen um neun Uhr muß das Velodrom von den Zuschauern geräumt werden.«
     Der Mehrheit der Zuschauer gefällt das Spektakel, das vom Veranstaltertrio Direktor Otto Buchwald, Rennleiter Georg Hölscher und Sportjournalist Fredy Budzinski von der »Radwelt« (120 000 Auflage täglich) geschickt inszeniert wurde. Der Kronprinz erscheint sogar dreimal mit großem Gefolge in der Hofloge. Bei seinem zweiten Besuch am 19. März kommt er unangemeldet und äußert den Wunsch, einen Sportler hinter Motorradführung fahren zu sehen. Um 11 Uhr wird daraufhin das Rennen für einige Zeit unterbrochen, »und Thomas Robl fuhr, nachdem die Sechstage- Fahrer abgestiegen waren, hinter dem Schrittmacher Krüger eine Anzahl von Runden unter hellem Jubel des Publikums«, wie der »Berliner Lokal- Anzeiger« tags darauf informiert. Selten genug und deshalb um so willkommener sind den Fahrern angesichts der 144-Stunden- Tortur solche Pausen. Gegen Schluß des Rennens gibt es die dritte Unterbrechung für eine Stunde, weil sich die Fahrer nicht mehr auf den Maschinen halten können.
     Nach sechs Tagen, am 21. März um zehn Uhr abends, haben schließlich die beiden US-Amerikaner Moran und Mac Farland – Sieger der letzten New Yorker Sixdays – die Nase vorn. Erst in der 98. Stunde gelingt es ihnen, den entscheidenden Rundenvorsprung herauszufahren und das niederländisch- französische Paar Stol/ Berthet auf Platz 2 zu verweisen. Alle anderen Konkurrenten liegen, wie es in der Abschlußtabelle verbrämt umschrieben wird, weit zurück bzw. waren ausgeschieden. Die Sieger legten insgesamt 3865,750 Kilometer zurück.
     Am 27. Dezember 1909 startet das zweite Sechstagerennen in Berlin, erneut im improvisierten Velodrom am Zoo. Es siegt der Deutsche Walter Rütt im Verein mit dem Australier Clark. Die »Vossische Zeitung« schreibt am 3. Januar 1910 nicht gerade begeistert: »6 Tage sollst Du strampeln, den siebten ruhen. Dies Gebot amerikanischer Sensationslust, das mit wirklichem Sport herzlich wenig zu tun hat, hat nun auch in der Reichshauptstadt seine eifrigen Anbeter gefunden. Das Geschäft bringt es einmal so mit sich.«

Bildquelle:
»B.Z. am Mittag« vom 22. März 1909

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