96   Geschichte und Geschichten »Gebraut und gesoffen«  Nächste Seite
Jan Feustel
»Gebraut und gesoffen«

Ausstellung im Heimatmuseum Friedrichshain

Zur Alltagsgeschichte gehört, was man so ißt und trinkt. Und kein Nahrungsmittel ist so eng mit der Geschichte gerade des Bezirks Friedrichshain verwoben wie das Bier!
     Schon seit dem Mittelalter war das Bier in Berlin die bürgerliche »Nahrung«. Nur wer das Bürgerrecht besaß, durfte auch brauen. Und kein Volksgetränk entsprach damals im norddeutschen weinarmen Raum solchen hygienischen Ansprüchen wie das Gerstengebräu. Das Berliner Weißbier galt um 1800 geradezu als Nationalgetränk. Im 19. Jahrhundert verdrängte das untergärige bayrische Bier – schneller zu trinken, leichter zu zapfen und unproblematisch auf Flaschen abzufüllen – immer stärker die traditionelle Weiße.
     Aber für dieses Lagerbier benötigte man weiträumige Kellerräume – und so zogen die neuen industriemäßig organisierten Großbrauereien auf die Höhen rings um das alte Stadtzentrum. So fanden auch zwei der größten untergärigen Bierfabriken Berlins auf der Friedrichshöhe an der Landsberger ihren Standort. Der bayrische Brauerssohn Georg

Patzenhofer verhalf mit tiefdunklem, stets qualitätsvollem Bier nach fränkischem Vorbild seiner 1855 gegründeten Brauerei zu wirtschaftlicher Blüte. Das Böhmische Brauhaus braute erstmals in Berlin ab 1868 Bier nach böhmischer Art, wie es der Gründer Armand Knoblauch aus einer alten Berliner Kaufmannsfamilie dort während des Feldzugs 1866 kennengelernt hatte. Eine dritte Brauerei auf Friedrichshainer Gebiet entwickelte sich erst 50 Jahre später zum marktbeherrschenden Großbetrieb – das gezuckerte obergärige Caramel-Malzbier machte nicht nur den Konsumenten stark, der es trank. Die Engelhardt-Brauerei AG stieg mit diesem Produkt seit der Jahrhundertwende auf zum größten Malzbierproduzenten der Welt.
     1917 übernahm sie die Victoria-Brauerei in Stralau, wo noch heute die beeindruckende Architektur des Flaschenkellerturmes von 1929 die Silhouette der Halbinsel prägt. Solche Betriebsübernahmen waren typisch für die Entwicklung der Berliner Brauindustrie – nach der Umwandlung der Großbrauereien in Aktiengesellschaften kam es hier zu einem starken Konzentrationsprozeß.
     Als 1920 die Actienbrauerei Friedrichshöhe, ehemals Patzenhofer, mit der Schultheiss-AG fusionierte, entstand der größte Bierkonzern des europäischen Festlands. Um 1900 schon war Berlin die führende Braustadt Deutschlands geworden. Aber auch die sozialen Kämpfe jener Zeit spiegeln sich in der Brauereigeschichte wider. Im großen Bierboykott
SeitenanfangNächste Seite


   97   Geschichte und Geschichten »Gebraut und gesoffen«  Vorige SeiteNächste Seite
von 1894 versuchten Gewerkschaften und Sozialdemokratie, den organisierten Großbrauereien durch Bierverzicht der Arbeiterschaft soziale Zugeständnisse abzuringen. Sie zogen dabei letztlich den kürzeren. Denn das Bier und der Besuch in der Eckkneipe waren aus dem Alltag der kleinen Leute nicht wegzudenken.
     Bei den beengten Wohnverhältnissen diente die Gastwirtschaft als erweitertes Wohnzimmer – und auch die SPD und andere Arbeiterorganisationen nutzten die Wirtshaussäle nebst Bierkonsum für ihre Versammlungen und Festkommerse. Biergärten, wie sie sich neben jeder großen Brauerei erstreckten, waren traditionelle Ausflugsziele der Unterschichten, und bei Volksfesten wie dem Stralauer Fischzug floß der Gerstensaft mehr als reichlich. Selbst die Kultur beruhte in den Wohnbezirken der kleinen Leute auf Bierbasis – ohne den Ausschank im eigenen Biergarten und den Kredit einer Brauerei hätte auch das berühmte Rose-Theater seine Bühnenkunst nicht darbieten können. In den Kneipen und Bouillonkellern des Berliner Ostens hielt Heinrich Zille mit Zeichenstift und Fotoapparat »sein Milljö« fest, und rings um den Schlesischen Bahnhof (heute Ostbahnhof) traf sich die Unterwelt in Kaschemmen und Verkehrslokalen der Ringvereine – natürlich stets mit diskretem Hinterausgang für den Fall einer Razzia.
     Von den Arbeiterparteien über den »kleinen Mann von nebenan« bis zu Kriminellen

Georg Patzenhofer

und Prostituierten – für die meisten Friedrichshainer stellte die Gaststätte mit entsprechendem Bierkonsum ein unverzichtbares kommunikatives Zentrum dar. Da hatte die Agitation der Abstinenzler nicht allzuviel Wirkung. In Friedrichshain wurde nicht nur gebraut, sondern auch gesoffen ...
     Der Weg des Biers vom Braukessel bis zur gezapften Molle gehört hier unverzichtbar zur Sozial- und Kulturgeschichte, prägte lokale Architektur wie bildende Kunst, machte Politik. Die Ausstellung, die sich den

SeitenanfangNächste Seite


   98   Geschichte und Geschichten »Gebraut und gesoffen«  Vorige SeiteAnfang
Auch im Hammelkopp-Keller in der Andreasstraße floß das Bier in Strömen
Weg des Bieres nachzuzeichnen bemüht, wird vielleicht dazu anregen, darüber nachzudenken, was unsere Alltagskultur dem Gerstensaft verdankt.
     Historische Fotografien, Werbeanzeigen und -schilder, Gläser und Flaschen illustrieren die Brau- und Schankgeschichte. Ein Spielzeug-Bierfuhrwerk zeigt, wie vertraut schon die Allerjüngsten mit dem Gerstensaft waren. Es bleibt zu hoffen, daß Biergenuß in vernünftigen Maßen auch weiterhin zur Kommunikation der Friedrichshainer unter-
einander beiträgt und daß die hiesigen Gaststätten stets Zentren der Sozialisierung bleiben mögen. Hopfen und Malz – Gott erhalt's!

Die Ausstellung kann bis zum 15. September 1999 im Heimatmuseum Friedrichshain, Alte Feuerwache, Marchlewskistraße 6, besucht werden. Öffnungszeiten: Dienstag und Donnerstag von 11–18 Uhr, sonnabends 13–18 Uhr

Bildquelle:
Heimatmuseum Friedrichshain

SeitenanfangAnfang

© Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de