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Dietrich Nummert
Pergamon wurde seine Passion

Der Ingenieur Carl Humann (1839–1896)

Manchen Archäologen ärgert, daß ein Dilettant den Pergamon- Altar entdeckt hat. Wer war dieser Mann, der Berlin einen Besuchermagneten schenkte?
     Carl Wilhelm Humann kam am 4. Januar 1839 in Steele bei Düsseldorf zur Welt. Sein Vater war, wie ein Schulfreund Carls berichtet, »Gastwirt, Kirchenrendant, Auktionator, also Universalist, auch Strikemäker, d. h. Witzbold, ein kenntnisreicher, gewandter, selbstbewußter Mann ...« Die Mutter, Maria Catharina, geborene vom Kolke, eine Gastwirtstochter, trug schwer an dem Leid, daß vier ihrer Kinder – Wilhelm, Theodor, Huberta und Caroline – die Schwindsucht dahinraffte.
     Carl, dem ein Lehrer gesagt hatte, »Humann, Sie sind ein Esel! Aus Ihnen wird nichts!«, machte aus der Schulzeit das ihm Gemäße. Vieles beeinflußte seinen Reifeprozeß: Familie, väterliche Kneipe, Landschaft und Zeit. Deutschlands Zerstückelung war Gesprächsthema, materielle Not Alltag, zugleich jagten Entdeckungen, Erfindungen


Carl Humann

einander und begeisterten. Carl brillierte in Mathematik und Zeichnen. Mitschüler, Verwandte waren darüber des Lobes voll. Ein Schulfreund schrieb: »An der Tafel war er die höchste Instanz.« Seine Bilder hingen in Vaters Lokal.
     In Vaters Wirtschaft mochten die Gäste den Jungen. Natürlichkeit, Offenheit und Gastfreundschaft schienen ihm angeboren, und der Umgang mit Gästen machte ihm Freude; später, als er ein offenes Haus in

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Smyrna führt, wird es gerühmt werden. In der Schule gründete er die Vereinigung ARION. Der Name gibt weiteren Hinweis auf Humanns Interessen, denn Arion hieß der legendäre griechische Sänger – Hellenen- Kult wucherte, und Schüler wurden davon angesteckt.
     Als Thema des Abituraufsatzes wählte Carl »Undank ist der Welt Lohn«: Menschen der Gegenwart könnten nicht gerecht über aktuelle Leistungen urteilen, da die Großen ihrer Zeit weit vorausgeeilt seien, nicht zuletzt auch, weil sie voller Haß und Neid seien. Die Nachwelt hingegen könne gerecht urteilen, sie könne die Ergebnisse ihres Tuns einordnen. Die These läßt Humanns Denkweise ahnen.
     Die Beurteilung auf dem Reifezeugnis enthielt, nach Überlieferung von Studienrat Josef Holtermann, lobende Worte: Humann fasse schnell und klar auf, er sei beharrlich fleißig, seine Arbeiten zeigten besonnene Darstellung, er besitze gute historische Kenntnisse, verfüge im Lateinischen über einen leichten Stil, in Mathematik bekunde er große Gewandtheit, im Mündlichen habe er am 3. August 1859 als einziger Prüfling die Note vorzüglich erhalten.
     Spätestens nach dem Abitur ist die Berufswahl aktuell. Carl Humann scheint damit keinerlei Probleme gehabt zu haben. Er nahm eine Stelle als Ingenieur- Aspirant beim Bau der Bahnstrecke Essen- Steele- Höntrop- Bochum an. Vermutlich hat sie
Bruder Franz vermittelt, denn der sieben Jahre ältere arbeitete als Ingenieur bei Krupp. Carl jedenfalls lernte beim Bahnbau solide Vermessungstechnik.
     Ein Jahr danach fuhr er nach Berlin und schrieb sich in die Matrikel der Königlichen Bauakademie ein (die 1879 mit der Gewerbeakademie zur Königlichen Technischen Hochschule zusammengelegt wurde). Zum Jahreswechsel 1860/1861 schrieb er den Eltern: »Es geht mir so gut, als es mir bei der Berliner Kost mit einem Steeler Magen eben gehen kann. Mit meinem Husten und der Brust geht es ganz gut, trotzdem ich den ganzen Tag über den Zeichenbrettern und die halbe Nacht über den Büchern liege. Jetzt habe ich 14 Tage Weihnachtsferien und bringe den Tag meist im Museum zu, wo ich mein Skizzenbuch ... fülle, oder ich besuche die mannigfaltigen hiesigen Fabriken und Mühlen, wo es gewaltig viel zu lernen gibt; also im Museum Baukunst, in den Fabriken Bauwissenschaft, zu Hause Beides ...«
     »Mit meinem Husten ...« Berlin bot nicht gerade heilsame Natur für einen Tuberkulosekranken. Hausarzt Dr. Voß riet Carl dringend zu einem Aufenthalt im Süden. Indessen weilte Bruder Franz in der Türkei, und als er am 18. September 1861 schrieb: »Komm hierher!«, da gab es für Carl kein Halten. Bei Richard Schöne, dem späteren Generaldirektor der Königlichen Museen, finden wir vermerkt, Humann »sei seit dem 15. November 1861 im Orient«.
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Anfang des folgenden Jahres wirkte er auf Samos, grub, wie er berichtet, »mit wenigen Mitteln einen Theil des Hera-Tempels«, das Heraion, aus, welches der Bruder bereits vor ihm zu sichern begonnen hatte. Überdies setzte er Carl bei der Erneuerung des Hafens Tigani (Tiganion) ein. Und weiter ging es ohne Pause. Das Conversations- Lexikon meldet: »Humann ... erhielt 1862 vom englischen Gesandten den Auftrag, einen Palast auf einer Insel im Marmara- Meer zu bauen, baute 1864 in Palästina.« Auf der Insel wollte er so lange bleiben, bis Botschafter Sir Bulwer »das Geld aufgeht oder bis er die Insel dem Sultan schenkt ...«, schrieb er, und nebenbei: »Hier in der Türkei lebt man in der That viel freier als in Preußen oder einem anderen deutschen Vaterlande ...
     Jeder kann sich Geld verdienen, wie er will, ohne daß der Staat sich patriarchalisch ins Mittel legt ...« Geld verdienen wollte und mußte er natürlich auch. Er versuchte es in Konstantinopel (Istanbul) mit einer Export- Import- Firma für Schmirgel. Das Gemenge aus Korund, Magneteisenerz und Quarz brachte ihm Gewinn. Zufrieden berichtete er dem Vater: »Mein ... jetziges Einkommen beläuft sich auf etwa 3 000 Taler und wird bald steigen.«
     Von der türkischen Hauptstadt aus unternahm Humann oft Reisen ins Land. Sie erfolgten »meist unter der Ägide des mir persönlich sehr zugetanen Großwesirs Fuad Pascha ...« Humann reiste nicht als Tourist.
Er vermaß Wege, sondierte historische Landschaften, spürte Vergangenes auf, zeichnete und beschrieb es, beteiligte sich an dem von Franz betriebenen Tiefbau- Unternehmen, übernahm selbst, nachdem die erforderlichen Konzessionen erteilt waren, Straßenbauten wie die von Ayvalik über Dikeli, Bergama und Soma nach Kirkasatsch oder die von Balik- Esri (Balikesir) nach Panderma (Bandirma) am Marmara- Meer.
     »Eine dieser Reisen«, notierte er, »führte mich im Winter 1864/65 an die Küste von Äolien ...« Und natürlich: »Für einen Zögling der Bauakadmie, der seine halbe Zeit mit Zeichnen nach der Antike im Museum verbracht, lag nichts näher, als dem nur fünf Stunden von Dikeli entfernten Pergamon einen kurzen Besuch abzustatten.« Der Weg führte ihn die Ebene hinauf, »bis endlich ..., eine Stunde bevor man die Stadt erreicht, die hohe Akropolis von Pergamon in der Ferne breit und majestätisch vor mir lag«. Dann betrat er den von Ruinen und Gestrüpp überzogenen Berg, sah Trümmer, »daneben rauchte der Kalkofen, in den jeder Marmorblock ... zerkleinert wanderte ...
     Das war also übrig geblieben von dem stolzen uneinnehmbaren Herrschersitz der Attaliden!«
     Bei aller Trauer darüber, daß Einheimische sich aus dem alten Pergamon mit Baumaterial versorgten – Humann war nicht der Mann, der resignierte. Kurz nach seinem
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Besuch in der Feste hatte er erreicht, daß der Kalkbrennerei Einhalt geboten, die Stätte geschützt wurde.
     Mehr konnte er vorerst nicht tun. Er setzte Reisen und Straßenbau fort. Und kümmerte sich um Besucher, die ihn auf den Touren begleiteten. »Manche Nacht schlafe ich in den Zelten der Jourouken, ... oft ruhe ich auch bei den Räubern aus, mit denen ich auf dem besten Fuße lebe;
Er kannte sich inzwischen aus zwischen Traianeum, Bibliothek und Altar. Zwei Fragmente des Altarreliefs sandte er nach Berlin. Aber dort hielt man sich bedeckt. Auch Curtius hüllte sich in Schweigen. Wilhelm von Bode (1848–1929), Generaldirektor der Berliner Museen, schreibt rückblickend: Als Humann die ersten Tafeln vom Altar dem Museum zum Geschenk gemacht habe,
ich bin weder ein Wucherer noch ein reicher Mann, ich führe ein 6läufiges >Spielwerk< bei mir und bin als stets Reisender quasi Stammgast. Als ich mit Franz und Baron Sternberg von Pergamon hierher ritt, lagen 7 Mann hinter einem Felsen auf der Lauer. Als wir vorbei kamen, grüßten sie ehrerbietig, worüber der Baron eine Eselsfreude hatte, weil er zum ersten Male in seinem Leben Räuber sah.«
     Und immer wieder Pergamon. Der bekannte Archäologe Ernst Curtius (1814–1896), der auf die Genehmigung wartete, im griechischen Olympia zu graben, folgte der Einladung Humanns, und dieser führte ihn, »wie ein Pascha gebietend« (Curtius), durch die Ruinen.

Teilansicht des Pergamon-Altars
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sei ihm von Direktor Bötticher weder ihre Ankunft gemeldet, geschweige Dank ausgesprochen worden. War Neid der Grund, akademischer Dünkel?
     Pergamon indessen wurde Humanns Passion. Er bewahrte »manches Marmorbildwerk vor dem Weg in die Kalköfen«, ärgerte sich, wenn ein Hochrelief, welches er heute bewundert hatte, am folgenden Tag zerstört war. In Berlin bemühten sich Vertraute vergeblich, die Ausgrabung auf den Weg zu bringen. Erst als 1877 Alexander Conze (1831–1914) Direktor der Skulpturensammlung der Königlichen Museen wurde, kann Humann seine Pläne verwirklichen.
     Nach längerem Marathon durch Behörden traf am 17. August 1878 die Grabungsgenehmigung ein. Und am 9. September (nach anderen Quellen am 8.) eröffnete Carl Humann die erste Grabungskampagne.
     Wenig später schon schwelgte er: »Wir haben nicht ein Dutzend Reliefs, wir haben eine ganze Kunstepoche ... gefunden.« Ein Jahr später »waren vom großen Fries 94 und vom kleineren Telephosfries ... 35 Platten geborgen, dazu zahlreiche Statuen, Büsten, rund 130 Inschriften, etwa 100 Friesbruchstücke sowie zahlreiche Kleinfunde«. Der ersten Grabung folgte 1880/81 die zweite und von 1883 bis 1886 die dritte. Immer neue großartige Funde kamen ans Licht. Humanns Können erwies sich jedoch nicht nur beim Aufspüren, Ausgraben, Vermessen und Deuten.
Nach seinen ersten Besuchen in Pergamon hatte er das Problem erkannt: »Nun zur Hauptsache! Wie kommt alles nach Berlin?«
     Pergamon lag »nur fünf Stunden« von Dikeli entfernt, fünf Stunden schwierigster Weg. Humann war vorbereitet. Die sperrigen, zwischen zwei und drei Tonnen schweren Platten ließ er »in Transportkisten aus Bohlen und Brettern einschlagen ...«, auf Schleifen, das waren flache Holzschlitten mit breiten, unbeschlagenen Kufen, verladen und mit Ochsengespannen zur Küste schleppen. In Dikeli waren sie längst noch nicht am Ziel. Die Platten mußten mühsam auf Leichter verladen und nach Smyrna gebracht werden. Dort lagen, rechtzeitig herbefohlen, drei Kanonenboote der Königlichen deutschen Marine. »Comet«, »Lorelei« und »Meteor« brachten die kostbare Fracht nach Deutschland.
     Als Carl Humann im Sommer 1880 nach Berlin kam, waren die Reliefs Tagesgespräch, man schwelgte, man fühlte »sich London ebenbürtig«. Endlich, jubelte das offizielle Berlin. Man bereitete Humann einen triumphalen Empfang, eine Zeitung schrieb, »wie ein siegreicher Feldherr«. Allen Einladungen zu Tees, Diners, Festen und Auszeichnungen zu folgen war Humann unmöglich. Der Universität Greifswald beispielsweise konnte er für die Verleihung der Ehrendoktorwürde nur per Brief danken: »Ein Schatzgräber, zumal ein vom Glück begünstigter, ist zwar an manche Überraschung gewöhnt, daß aber
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die Pergamenischen Ausgrabungen mir die Ehre einbringen sollten, von Ihrer hochgeehrten Fakultät zum Doktor der Philosophie ernannt, Ihrer altehrwürdigen Alma mater Adoptiv- Sohn zu werden, das konnte ich wahrlich nicht erwarten ... Sie haben mich damit in Ihre Tafelrunde gezogen, und ich will mit dem Rechte des Gastes fröhlich daran Platz nehmen ...«
     Ob er auch fröhlich Platz nahm, wenn er in Berlin offiziellen Empfängen beiwohnen mußte, bleibt fraglich. Bei Conze, Mommsen und anderen Bekannten weilte er gewiß gern. Auch den Einladungen des Kronprinzen Friedrich Wilhelm (1831–1888), des späteren Kaisers Friedrich III., folgte er mit Freude. Eine ganze Generation baute damals auf den Thronfolger, hoffte auf Liberalisierung und Toleranz. Aber der krebskranke Monarch starb bereits nach 99 Tagen Herrschaft.
     Wieder in der Türkei, stürzte Humann sich in die Arbeit, erfüllte Bitten seiner Berliner Gefährten, beispielsweise Mommsens, verwendete darauf viel Zeit, reiste zu Forschungen nach Ankara, nach Commagena, wirkte dann wieder in Pergamon, wo er akribisch Funde zeichnete, beschrieb, inventarisierte und Architekturreste, jedes Fundamant einmaß und kartographierte.
     1884 wurde er Berliner Museumsdirektor mit Amtssitz in Smyrna (Izmir). Er war nun ein bekannter Mann, und mehr Gäste als je kehrten bei ihm ein. Sein Stoßseufzer: »Es
ist etwas Schreckliches mit der Berühmtheit.« Trotzdem blieb sein Haus, er hatte am 24. November 1874 im Wattenscheider Standesamt mit Louise Werwer die Ehe geschlossen, allen Besuchern offen. Seine Frau schrieb einer Freundin: »Die Besucher haben uns arm gemacht.«
     Die Gäste hingegen schwärmten. Und der nimmermüde Straßenbauer, Ausgräber, Forschungsreisende, Kartograph fühlte sich reich und wohl in dem fremden Land. Mit »heiligem Ernst« hatte er sich »in die Kultur und Wesensart der Bewohner ... eingefühlt«. »Er duldete keine Beleidigungen ihrer religiösen Gefühle«, schrieb der Mitarbeiter Humanns Carl Schuchardt (1859– 1943).
     Am 2. April 1896 diktierte Humann seiner Tochter einen Brief an Generaldirektor Schöne: »Im Übrigen geht es mir gar nicht gut ... Jetzt bin ich schon 8 Monate recht leidend, und Tag für Tag weiter heruntergekommen ... Meine Frau hat als Krankenpflegerin einen bösen Winter hinter sich ...« Am 8. April beendete Louise Humann den Brief und sandte ihn ab. Am 12. April starb Carl Humann. Er wurde in Smyrna begraben. Als 1967 der dortige Friedhof aufgelassen wurde, bestattete man seine Gebeine auf dem Burgberg von Pergamon.

Bildquellen
Archiv Autor, Archiv LBV

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Berlinische Monatsschrift Heft 2/99
© Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de