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Frank Eberhardt
Aus dem Stadtbild verschwunden:
Die Waisenbrücke

Ein schöner und kurzer Spaziergang führt vom Ephraimpalais im Nikolaiviertel entlang der Mühlendammschleuse zur Jannowitzbrücke. Der aufmerksame Beobachter kann kurz vor der Jannowitzbrücke eine kleine Plattform entdecken, die rechterhand in der Spree steht. Hier spannte sich bis zu ihrer Zerstörung 1945 eine der ältesten und bekanntesten Brücken über die Spree – die Waisenbrücke (siehe unser Titelbild). Sie verband die Neue Friedrichstraße (heute Littenstraße) Alt-Berlins mit der am anderen Ufer der Spree verlaufenden Wallstraße des ehemaligen kleinen Stadtteils Neukölln am Wasser.
     Die anfänglichen Bemühungen, eine Verbindung zwischen den mittelalterlichen Städten Berlin und Kölln im Bereich der späteren Waisenbrücke zu schaffen, sind schon aus dem ältesten Plan der Stadtbefestigung ersichtlich. An der Stelle, wo die Stadtmauer der mittelalterlichen Städte Berlin und Cölln das Ufer der Spree erreichte, war eine Sperre – ein Wasserbaum – im Fluß eingebaut. Sie bestand aus einem Pfahlwerk, das von

der damaligen Paddengasse (später Kleine Stralauer Straße, mit der Anlage des Rolandufers beseitigt) auf der Berliner Seite bis zur Fischerbrücke (etwa an der heutigen Ostseite der Fischerinsel) in Kölln hinüberreichte. Das Pfahlwerk hatte einen schmalen Schiffsdurchlaß, in den über Nacht zur Absperrung ein Holzstamm gezogen wurde. Das war der sogenannte Oberbaum am Eintritt der Spree in die damalige Stadt. (Es gab natürlich auch einen Unterbaum beim Austritt des Flusses aus der Stadt, der sich etwa an der Stelle der heutigen Friedrichsbrücke an der Museumsinsel befand). Es ist nicht bekannt, ob der Oberbaum auch zur Überquerung des Flusses diente. Der Zugang zum Wasser durch die Paddengasse auf der Berliner Seite könnte allerdings auf eine solche Möglichkeit hindeuten, so wie später der Vorläufer der heutigen Oberbaumbrücke trotz Sperrfunktion auch als Brücke diente. Für die Durchfahrt der Schiffe war er mit einer Zugbrücke versehen. Auf dem um 1660 entstandenen Lindholzschen Plan1) ist die Lage des Oberbaums durch eine punktierte Doppellinie im Zuge der alten Stadtbefestigung gut zu erkennen.
     Als 1658 bis 1683 die Festungsanlage um Berlin und Cölln errichtet wurde, mußte diese Flußsperre durch einen neuen Oberbaum ersetzt werden, der geringfügig weiter stromaufwärts lag. Er verband die Bastion 8 auf der Berliner Seite, das »Stralower Bollwerck«, mit der Bastion 7 auf der Köllner
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Ausschnitt aus dem um 1660 entstandenen Lindholz- Plan

 

Seite, dem »Bollwerck im Moraß«. Diese neue Sperre in der Spree ist ebenfalls auf dem Lindholzschen Plan eingetragen (wie auch schon die Lage der um 1660 noch nicht erbauten Festungsmauer angegeben wird). Auch der Stadtplan nach La Vigne von 1685 sowie die planartige Stadtansicht (Vedute) von Johann Bernhard Schultz von 16882) zeigen diesen Oberbaum bei inzwischen fertiggestellter Festungsanlage. Während jedoch La Vigne ihn durchgehend ohne Öffnung zeigt, stellt ihn die Vedute von Schultz mit einer Öffnung für Schiffe dar. Aus dieser Darstellung von Schultz ist auch deutlich erkennbar, daß der Oberbaum keinen Klappenteil für die Durchfahrt der Schiffe wie
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andere Brücken hatte. Eine Brücke für die Einwohner stellte er also nicht dar. Ein solcher Übergang am Eintritt der Spree in die Stadt wäre auch eine Schwachstelle der Festung gewesen. Auf der Berliner Seite ist jetzt keine Straßenanbindung mehr ersichtlich, und auf der Seite von Kölln, genauer dem neuen Stadtteil Neukölln am Wasser, befand sich der bis an die Spree reichende Teil der Bastion 7.
     Wenn man heute die rechte Ufermauer der Spree zwischen der Plattform der Waisenbrücke und der Schiffsanlegestelle betrachtet, erkennt man in der Ausbuchtung in Höhe des Wasserspiegels drei Löcher in der Mauer. Sie markieren die Stelle, an der der Festungsgraben um Berlin auf die Spree traf. An dieser Stelle etwa befand sich der Oberbaum auf der Berliner Seite.
     Die Notwendigkeit zum Bau einer Brücke ergab sich erst, als nach der Anlage der Festung dieser neue Stadtteil ausgebaut wurde und der Verkehr zunahm. Von Neukölln am Wasser führten nur zwei Brücken nach Alt-Kölln, die im Zuge der Roßstraße und der Grünstraße den Schleusenkanal überquerten. Nach Alt-Berlin gab es dagegen keine Verbindung, man mußte stets den großen Umweg über den Mühlendamm nehmen. Deshalb wurde Anfang des 18. Jahrhunderts wenige Meter neben dem Oberbaum in Weiterführung der Neuen Friedrich- und Wallstraße die sogenannte Blockhaus oder Blocks- Brücke errichtet. Sie erhielt diesen
Namen nach einem Blockhause, das am Stralauer Tor anstelle eines alten Wehrturms errichtet worden war und zur Sicherung der Spree diente. Die Blocks- Brücke war wie die anderen eine hölzerne Joch- Brücke, die in der Mitte Wippklappen für die Durchfahrt der Schiffe aufwies.
     Bei der Beseitigung der Festungswerke und dem Bau einer weiter außerhalb liegenden Stadtmauer wurde auch der Oberbaum flußaufwärts verlegt und an der Stelle der heute bekannten Oberbaumbrücke errichtet. 1724 wurde hier die erste Oberbaumbrücke gebaut, die das Schlesische und das Stralauer Tor verband. Das Blockhaus mit seiner Schutzfunktion war damit überflüssig und wurde abgerissen. Die Brücke erhielt nun den Namen Waisenhaus- oder Waisenbrücke nach einem in unmittelbarer Nähe in den Jahren 1697 bis 1701 erbauten Waisenhause.
     Die Waisenbrücke war um diese Zeit mit einer Länge von 83 Metern eine der bedeutendsten Brücken der Stadt. Ihre Breite betrug 6,90 Meter, die des Fahrstreifens 4,30 Meter.
     Über das Aufbringen der Baukosten und über die Unterhaltspflichten von Brücken entstanden damals sowohl bei Neuals auch bei Umbauten zwischen dem Landesherrn und den beteiligten Gemeinden sehr häufig Streitigkeiten. Diese Rechtsstreitigkeiten waren Anlaß für König Friedrich I. (1657–1713, König ab 1701), im Jahre 1709 und noch einmal 1712 durch besondere Ausschüsse die Brückenbau- und Unterhaltspflicht im ein-
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zelnen festlegen zu lassen. In dem Bericht wird festgestellt, daß die Unterhaltung der »Brücke am Stralauer Thore nach dem Blockhause« aus der Fortifikations- Bau- Kasse erfolgen sollte. Damit kann belegt werden, daß die (erste) Waisenbrücke um diese Zeit bereits bestanden hat. Ihr genaues Baujahr ist nicht bekannt.
     Die Holzbrücken waren sehr reparaturanfällig. So wurde 1831 von der Königlichen Oberbaudeputation festgestellt, daß die Waisenbrücke sowohl im Oberals auch im Unterbau so schadhaft ist, daß sie abgetragen und von Grund auf neu erbaut werden muß. Bis zum nächsten Jahr ließe sich der Neubau zwar durch die vorgenommenen Reparaturen hinhalten, alsdann müsse aber der Neubau erfolgen; 1832 wurde sie wieder als Holzbrücke errichtet.
     Damals waren die Ufer der Spree am Stadtrand noch nicht so stark bebaut wie heute. Beiderseits befanden sich Holzplätze, worauf heute noch der Name Holzmarktstraße hinweist. Das Holz wurde auf dem Fluß antransportiert, hier ans Ufer gezogen und in der Nähe gelagert. Auch neben der Waisenbrücke befand sich auf der Seite von Neukölln am Wasser eine sogenannte »Auf- und Pferdeschwemme«. Sie diente nicht nur zum Anlanden von Holz, sondern an diesen flachen Stellen wurden auch die Pferde in die Schwemme getrieben.
     Am 29. August 1842 erschien in der »Haude und Spenerschen Zeitung« ein Artikel
mit der Überschrift Die Aufschwemme an der Waisenbrücke. Der Artikel endete mit den Worten: »Hiermit vereinigen wir noch den nicht weniger dringenden Wunsch, daß der zwischen der Insel- und Waisenbrücke durch die gegenwärtige Dürre am Ufer bloßgelegte Moorgrund ein heilsames Einsehen veranlassen möchte, damit durch eine gründliche Reinigung desselben den daraus aufsteigenden, faulen Dünsten ihr bisheriger Nahrungsstoff entzogen und somit die oftmals davon infizirte Luft gereinigt werde. Nicht entbehrliche Neuerung noch überflüssige Ausschmückung, sondern des Lebens erste Bedingungen: Erhaltung und Wohlseyn sind der Zweck, dessen Erreichung diese Ziele anstreben wollen. Möchten sie nicht unbeachtet bleiben!«
     Schon im Februar hatte die Stadtverordneten- Versammlung beschlossen, die Auf- und Pferdeschwemme an der Waisenbrücke zu beseitigen. Doch das dafür zuständige Königliche Polizeipräsidium lehnte das ab, da in der Nähe kein anderer Platz für derartige Zwecke gefunden werden konnte. Erst über zwanzig Jahre später, 1864, wurde eine Übereinstimmung erzielt und die Aufschwemme geschlossen. Das Ufer wurde in gerader Linie bis zum Ansatz der Brücke hinausgeschoben und im folgenden Jahr die dadurch gewonnene Fläche der ehemaligen Schwemme mit Boden aufgefüllt. Auf dem Titelbild ist das schräge Spreeufer an der linken Flußseite gut zu erkennen. Am rechten Flußufer
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befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits eine Kaimauer. An der Stelle der ehemaligen Schwemme befindet sich heute der Märkische Platz, am Spreeufer eine Schiffsanlegestelle.
     Eine neue Phase des Brückenbaus setzte ein, nachdem die Stadt die Verantwortung für alle Brücken übernommen hatte. Rudi Liening schrieb 1966 in einem Artikel über die Brücken in Berlin: »Aus alten schriftlichen Vorgängen ist ersichtlich, daß die Stadt 1785 nur zwei Brücken zu verwalten hatte. Dies waren die alte Grünstraßenbrücke und die kleine Jungfernbrücke. Die übrigen wurden vom preußischen Staat verwaltet, der sich aber auch in dieser Hinsicht wenig Sorgen machte. Das beweist der fast katastrophale Zustand der Berliner Brücken in der Mitte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt, nämlich im Jahre 1876, schob der preußische Staat die Verantwortung für die Verwaltung dieser Bauwerke dem Magistrat zu. Die alten Brücken, deren Mittelteile bei jedem durchgeschleusten Kahn geöffnet werden mußten und somit den steigenden Wagenverkehr empfindlich störten, wurden nun zum Teil durch sehr anschauliche und künstlerisch ausgestattete Bauwerke ersetzt.«3)
     Bis 1769 besaß Berlin nur eine einzige Steinbrücke: die heutige Rathausbrücke.
     Alle anderen waren aus Holz. Allerdings verbesserte sich in den folgenden Jahren die Situation deutlich. Der »Neueste Berliner Fremdenführer« aus dem Jahr 1836 zählt
von insgesamt 42 Brücken in Berlin bereits 14 steinerne auf, sieben mit Steinpfeilern und Holzbelag sowie vier mit eisernen Bogen auf Steinpfeilern. Trotzdem waren noch 17 Brücken ganz aus Holz erbaut, dazu gehörte auch die Waisenbrücke.
     Nach langwierigen Verhandlungen gingen am 1. Januar 1876 die fiskalischen Brücken endlich in städtisches Eigentum über. Der Staat zahlte bis 1881 noch eine jährliche Rente, bis er 1882 auch diese durch eine Summe von 11 Millionen Mark ablöste. Die aufblühende Reichshauptstadt, der stark zunehmende Verkehr auf den Straßen und auf dem Wasser und die wachsende Bevölkerung erforderten mehr und bessere Übergänge zwischen den Stadtteilen, die durch die Spree getrennt waren. Es setzte ein regelrechter Brückenbauboom ein. An 55 Übergängen wurden in den nächsten Jahren Um- und Neubauten vorgenommen, hölzerne Brücken nur noch als Provisorien genutzt. Diese Um- und Neubauten erfolgten in engem Zusammenhang mit der Spreeregulierung.
     Dabei konnte der Hochwasserspiegel der Oberspree um 1,65 Meter abgesenkt werden.
     Dies ermöglichte auch den Neubau der Waisenbrücke in den Jahren von 1892 bis 1894 – dicht oberhalb der bisherigen Brückenstelle – als Steinbrücke. Sie überspannte den Fluß mit drei Öffnungen, von denen zwei die lichte Weite von 18,48 Metern aufwiesen, während bei der mittleren die Weite 20 Meter betrug.
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Infolge der Spreeregulierung war die Länge der neuen Brücke also um ca. 20 Meter geringer als bei der alten Brücke geworden. Dagegen war die Breite entsprechend den gewachsenen Anforderungen des Verkehrs erheblich vergrößert worden und betrug jetzt über 20 Meter, wovon 12 auf die Fahrbahn entfielen. Um während des Neubaus den Verkehr für Fußgänger und Fuhrwerke auf der alten Brücke nicht für längere Zeit zu unterbrechen, mußte sogar der rechts vom Klappenjoch befindliche Teil der alten Holzbrücke abgebrochen und flußabwärts in geschwenkter Lage auf neuen Pfahljochen wieder aufgestellt werden.
     Gewölbe und Pfeiler der neuen Brücke wurden aus Klinker gemauert, die Verkleidung der Sichtseiten erfolgte mit rotem Sandstein. Aus dem gleichen Material wurde auch das Geländer hergestellt. Da die neuen Brücken- Bauwerke in ihrer Stilrichtung den in der Nähe stehenden Gebäuden angepaßt werden sollten, lehnte sich die Architekturform der Waisenbrücke an die romanische Bauweise an. (Das nahe gelegene Märkische Museum mit seinem Turm im mittelalterlichen Backsteinstil wurde aber erst 1901–1907 errichtet!) Besonderer Wert wurde auf die Ausbildung der Pfeilervorköpfe gelegt. Über kurzen, gedrungenen Halbsäulen erhoben sich kanzelartig ausgekragte, nach den Bürgersteigen hin sich öffnende Aufbauten.
     Attraktiv waren auch die Gaslaternen, die auf Sockeln aus rotem Granit ruhten und
künstlerisch gestaltet waren. In dieser Größe und Form versah die Waisenbrücke ihren Dienst bis kurz vor Kriegsende.
     In den letzten Kriegstagen wurde sie zerstört, 1963 die letzten Reste der Brücke abgebaut. Bis auf die oben erwähnte kleine Plattform weist nichts mehr auf sie hin.
     Es wäre gut, wenn an dieser Stelle eine Tafel den Besuchern etwas von der Geschichte der Waisenbrücke und dieser Gegend erzählen würde.

Quellen:
1     Heinz Spitzer und Alfred Zimm, Berlin von 1650 bis 1900. Entwicklung der Stadt in historischen Plänen und Ansichten, VEB Tourist Verlag, Berlin/ Leipzig 1987, S. 14/15 und Tafel 2
2     Strassen- Brücken der Stadt Berlin, herausgegeben vom Magistrat, Berlin 1902, 2. Bd., Tafel 1 und 2 sowie 1. Bd., S. 3 und 124 ff.
3     Rudi Liening, Die Brücken in Berlin, Schriftenreihe des Stadtarchivs Berlin, Jhrg. 3, Berlin 1966, S. 90 ff.

Bildquelle:
Heinz Spitzer und Alfred Zimm, Berlin von 1650–1900. VEB Tourist Verlag, Berlin/ Leipzig 1987

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