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Achim Hilzheimer
Berlins Bräuche zum Jahreswechsel

Um die Jahreswende herum, vor allem während der sogenannten »Zwölften« – den geheimnisumwitterten Tagen zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar –, gibt es etliche Bräuche. Mitunter sind sie sich sehr ähnlich, oder sie wiederholen sich in dieser oder jener Ausprägung. Wie aber kam es zu dieser auffallenden Vielzahl von Bräuchen zur Jahreswende?
     Heute ist es selbstverständlich, das neue Jahr am 1. Januar zu begrüßen. Doch über lange Zeiten hinweg war der Termin des Jahresanfangs umstritten. So beging man in Rom den Neujahrstag am 1. März, bis der von Julius Cäsar im Jahre 45 vor unserer Zeitrechnung eingeführte Julianische Kalender den Jahresanfang auf den 1. Januar verlegte. Dennoch galt noch jahrhundertelang – u. a. in Frankreich – der 1. März als Beginn des neuen Jahres, in Venedig sogar bis 1797. Das Kirchenjahr begann bis ins 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung am 6. Januar zu Epiphanias, dem Tag der Erscheinung des Herrn, später war es der 23. Dezember. Schließlich legte Papst Innozenz XII. 1691 den Anfang eines neuen Jahres für die Katholische Kirche

auf den 1. Januar fest. Im Byzantinischen Reich galten der 25. März und Ostern als Jahresbeginn und im alten Rußland der 1. September.
     Dies und vor allem jahreszeitlich bedingte Faktoren sind Ursache dafür, daß sich viele Bräuche in verschiedenen Formen entwickelten.
     Für den Jahreswechsel typisch sind Silvester und Neujahr. Dabei sind sie naturgemäß schwer zu trennen: Gehört das Silvesterfeuerwerk zum Jahresende oder läutet es das neue Jahr ein? Dem, der feiert, ist die Antwort auf diese Frage egal. Mit Lärm und Feuerschein verabschiedet man das alte und begrüßt das neue Jahr.
     Das neue Jahr wurde mit Trommeln, Pfeifen, Schießen und Peitschenknallen eingeleitet. Lärm sowie Fackeln und Feuer sollten böse Geister und Dämonen vertreiben, sie daran hindern, im neuen Jahr ihr Unwesen zu treiben. Zugleich sollte die Natur aufgeweckt werden: Je lauter das Getöse, um so reicher die Ernte im kommenden Jahr! In den meisten Neujahrsbräuchen der Gegenwart erkennen wir auch heute noch die alten Zauber- und Fruchtbarkeitsriten, Lärmen, Läuten, Schießen, Schlagen, Speisen, Opfergaben. Aber die tragenden Gestalten dieser Bräuche sind verblaßt oder vergessen.
     Kein anderes Datum im Jahr als gerade diese Nacht von Silvester zu Neujahr verlockt mehr dazu, hinter den Schleier zwi-
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Sternsinger, Bilderbogen aus dem 18. Jahrhundert
schen Gegenwart und Zukunft schauen zu wollen. Diese Nacht zählt zu den Losnächten, in denen man über seine Zukunft das Los ziehen oder werfen kann – durch Bleigießen, Pantoffelwerfen usw. Wie weit das Bleigießen hierzulande heute noch verbreitet ist, läßt sich schwer sagen. Seit einigen Jahren jedenfalls findet man zur Zeit der Jahreswende in vielen Schreib- und Haushaltswarengeschäften Bleigießsortimente, mit denen man sein Glück versucht und ein bißchen in der Zukunft stochern kann.
     Glaube und Aberglaube sind vielfach verwoben. So sprang man z. B. in Berlin- Brandenburg, Sachsen und Niedersachsen um Punkt 0.00 Uhr vom Tisch herab ins neue Jahr. Das »Prost Neujahr«, die Neujahreswünsche sollten Unglück fernhalten. Wer als erster gratulierte und dem oder den anderen das Neujahr abgewann, hatte Glück und bekam zusätzlich ein kleines Geschenk.
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Wer aber als »besserer« Herr mit steifem Hut durch die Straßen Berlins und westdeutscher Städte schritt, der mußte bis zur Jahrhundertwende damit rechnen, daß ihm der Hut eingeschlagen wurde – ein Neujahrsgruß besonderer Art (s. a. BM 12/98). Wem am Neujahrstag ein Schwein begegnen sollte, dem ist gewissermaßen das rosige Glück leibhaftig über den Weg gelaufen. Da dies schwerlich der Fall sein wird, hilft man nach – man verschenkt Glücksschweine. Auch das Zusammentreffen mit einem Schornsteinfeger verheißt Glück – also kommt sein Konterfei in ein zu verschenkendes Blumentöpfchen oder zu einem Neujahrsgruß. Weitere Glücksboten sind auch an diesem Tag das Hufeisen, der Glückspilz und das vierblättrige Kleeblatt. Da sie im Original ebenfalls schwer zu haben sind, zieren sie Glückwunschkarten, die seit Generationen mit den besten Grüßen und Wünschen für die kommenden 365 Tage verschickt werden.
     Einst verbrannte man in der Neujahrsnacht seine alten Kalender – aller Ärger des Vorjahres sollte in Flammen vergehen. Aber bereits 1843 erließ die Polizei wegen der damit verbundenen Brandgefahr ein Verbot »gegen die heidnische Unsitte«.
     Am ersten Tag des neuen Jahres versucht man so zu leben, wie man es das ganze Jahr haben möchte, und vermeidet möglichst alles, was eine schlimme Vorbedeutung haben könnte. Von den Silvesterspeisen muß
man etwas bis Neujahr lassen, sonst hat man das ganze Jahr Mangel auf dem Tisch. Vom Festkarpfen werden Schuppen im Geldbeutel aufbewahrt, die Wohlstand und Glück verheißen. Vom alten ins neue Jahr darf kein Schmutz liegenbleiben, sonst bekommt man das Heim nie sauber. Ausgeliehenes wünscht man vor Abend zurück. Natürlich darf auch keine Wäsche über den Jahreswechsel hängen bleiben. Man geht am 1. Januar möglichst nicht zum Arzt oder zum Apotheker, man gibt kein Geld aus. Wer Neujahr Geld in der Tasche hat, hat das ganze Jahr keine finanziellen Sorgen.
     Am Neujahrsmorgen begegnet man am liebsten jungen Leuten und nicht alten, besonders ungern alten Frauen. Unangenehme Arbeit unterbleibt. Man läßt sich gerne beschenken, trägt viel Geld bei sich und schüttelt es, zieht neue Kleidung an – dann bleibt man gesund und glücklich. Gesundheit erhält sich auch, wer sich in einer Schüssel wäscht, in der Geldstücke im Wasser liegen.
     Am 1. Januar 1812 begann die Königliche Eisengießerei Berlin mit der Herausgabe von Eisenkarten, die jährlich als Geschenk nur an den König und an Standespersonen vergeben wurden. Gestalter der ersten Plakette war übrigens L. Beyershaus. Geschäftsleute – nicht nur in Berlin – hielten es für selbstverständlich, ihren Kunden und Geschäftspartnern ein kleines Präsent
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mit Neujahrswunsch zu übergeben – ein Brauch, der heute mehr denn je verbreitet ist. Die Bäcker produzierten eigens Neujahrsbrezeln mit aufgeklebten Sinnsprüchen – heute gibt es meist vorgefertigte Patisseriewaren. Apotheker überreichten ihren guten Kunden kleine Schokoladentäfelchen oder Fläschchen mit selbstgefertigtem Parfum; heute gibt es meist Kalender oder kleine Pröbchen. Nicht selten kam es vor, daß zahlungssäumige Kunden ein Vergißmeinnicht bekamen.
     Noch heute ist bei den Berliner Rudersportlern die Eierfahrt zu Neujahr üblich. Früher hielt jede Wirtschaft am Ufer am 31. Dezember eine Mandel (16 Stück) Eier bereit, die derjenigen Bootsmannschaft gehörte, die als erste im neuen Jahr das Lokal per Boot besuchte. 1957 waren drei über siebzigjährige Mitglieder des Ruderklubs am Wannsee die Glücklichen. Als Erster hatte dieser Ruderklub das Restaurantboot am »Großen Fenster«, einer Bucht an der Havel, erreicht. Der Wirt erhöhte die Gabe auf 36 Eier, die den Ruderern dann von ihm zubereitet wurden, um an Ort und Stelle mit Korn und Bier verzehrt zu werden. Auch der Ruderklub Rahnsdorf hält ehern an diesem Brauch fest.
     Zu den neueren Traditionen gehört auch der Berliner Neujahrslauf. Erstmals fand er am 1. Januar 1972 in Ostberlin statt, und über 1 200 Teilnehmer kamen im Volkspark Friedrichshain zusammen. Der erste Ge-
samtberliner Neujahrslauf durch den Tiergarten startete am 1. Januar 1990, um 14.00 Uhr. Die Nacht davor war die Geburtsstunde einer weiteren Berliner Tradition: Seit dem Jahreswechsel vom 31. Dezember 1989 zum 1. Januar 1990 feiern Berliner und ihre Gäste aus nah und fern das Ereignis am Symbol von Trennung und Wiedervereinigung, dem Brandenburger Tor.
     Doch zurück zu den überlieferten Winterbräuchen. Gleich nach Neujahr begann früher der Bockbierrummel nach der Devise:
     Und wenn der Bock zum Spunde drängt,
     Dann geht es los.
     Wer heut allein zu Hause bleibt
     Der ist ein Trauerkloß.

     Der 6. Januar, der Dreikönigstag, spielt im Bewußtsein der heutigen Berliner kaum noch eine Rolle. Dieser Tag, in einigen Gegenden auch »Oberst« genannt, ist der letzte Tag der »Zwölften«. Nach dem Dreikönigstag begann man wieder mit der Arbeit, die in den »Zwölften« nur eingeschränkt gestattet oder gar ganz verboten war. Seine verschiedenen Bezeichnungen – Dreikönigstag, altes Neujahr, Großneujahr oder Hochneujahr, wie man ihn zum Teil heute noch in Sachsen bezeichnet, Kleines Neujahr, Dritter Heiliger Abend, Epiphanias – spiegeln auch die Geschichte des Neujahrstages wider.
     Seit Jahrhunderten feiert die Kirche an diesem Tag die Erscheinung des Herrn. Seitdem das Geburtstagsfest auf den 25. Dezem-

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ber verlegt wurde, wird am 6. Januar den Magiern, den Sterndeutern, den Weisen aus dem Morgenland gehuldigt, die nach Matthäus 2, 1–12 dem Christkind Weihrauch, Gold und Myrrhe als Gaben brachten. Diese wurden später die Heiligen Drei Könige genannt, auch wenn weder ihre Anzahl, noch ihre Hautfarbe oder ihr Königtum überliefert sind. Seit der Überführung ihrer vermeintlichen Reliquien durch Rainald von Dassel im Jahre 1164 nach Köln nahm ihre Verehrung in Deutschland einen großen Aufschwung. Und wohl sogar erst danach wurde die Hautfarbe eines der Könige schwarz: Die Könige sollten nun wahrscheinlich die damals bekannten Erdteile Europa, Afrika und Asien symbolisieren.
     Eigentümlich dabei ist auch, daß in der Literatur wie auch in künstlerischen Darstellungen einmal Caspar, ein andermal Melchior als Mohr dargestellt wird. Ähnlich ist es mit der Bezeichnung ihres Alters – einmal wird der eine als Jüngling, der andere als Greis wiedergegeben, ein anderes Mal ist es umgekehrt.
     Einst galten die Heiligen Drei Könige als Beschützer in allen Nöten, unter anderem waren sie auch die Schutzpatrone der Reisenden. Wenn heute auch längst außerhalb der katholischen Lande der Glaube an ihre Nothelferschaft erloschen ist, so erinnern doch noch Namen von Gasthäusern, wie »Zu den drei Kronen«, »Zum Stern«, »Zu den drei Königen«, »Zum Moh-
ren« usw. an ihre einstige Wirksamkeit. In den Apotheken des 17. und 18. Jahrhunderts bot man Weihrauch, Gold und Myrrhe als vielbegehrte »Heilmittel der Drei Könige« an.
     Selbst in Berlin sind an diesem Tage Sternsinger unterwegs. Die Kinder und Jugendlichen, die zuvor meist vom Bischof oder einem Priester auf einer Aussendungsfeier gesegnet werden, ziehen als Drei Könige kostümiert von Haus zu Haus. Meist trägt einer von ihnen oder ein vierter Sänger eine Stange mit dem Stern. Der Darsteller des Mohren hat ein rußgeschwärztes Antlitz. Die Kinder klopfen an die Haustüren, singen geistliche Lieder, bringen Glückwünsche dar und schreiben mit geweihter Kreide die Anfangsbuchstaben der Könige mit der Jahreszahl versehen über die Haustür: »19 C + M + B 99«. Bevor sie weiterziehen, erhalten die Sternsinger noch ein Geldgeschenk. Koordiniert vom Päpstlichen Missionswerk für Kinder in Deutschland (Aachen), dient das Engagement der Sternsinger heute vor allem der Unterstützung der Kinder armer Länder.
     In den vergangenen Jahren gewann der Valentinstag (14. Februar) auch bei den Berlinern zunehmend an Bedeutung. Valentin bedeutet »der Gesunde, Starke«. Schon seit Mitte des 4. Jahrhunderts gab es ihm zu Ehren eine Kirche in Rom. An dieser Stelle soll Valentin, Bischof von Turin, um 268 den Märtyrertod gestorben sein. Er gilt als Pa-
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tron der Bienenzüchter und der Verlobten sowie als Stifter einer guten Ehe. Wahrscheinlich weil sein Name ähnlich klingt wie »fallen«, ist er auch der Schutzheilige gegen die Fallsucht, die Epilepsie. In Deutschland galt der Valentinstag lange Zeit als Schicksals-, Los- und Unglückstag.
     Unter Einflüssen vor allem aus den USA hat sich der Charakter des Valentinstages geändert. Gefördert vom Handel, nimmt die Sitte des Schenkens zum Valentinstag in Deutschland immer mehr zu. An diesem Tage erhalten Schulfreunde, Verwandte, Ehefrauen und junge Mädchen »Valentins- Grüße« mit aufgemalten Herzen und Sprüchen oder andere Aufmerksamkeiten. Zunehmend tauchen auch Luftballons in Herzform an diesem Tag auf – der Kommerz blüht.
     Als der Tag der Brautleute bildete sich der Valentinstag im 19. Jahrhundert vor allem in Frankreich heraus. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten französische und belgische Blumenhandlungen mittels gezielter Werbekampagnen für diesen Anlaß beachtliche Verkaufserfolge erzielen. Das Blumenschenkfest für Brautleute und Liebende kam zwischen 1948 und 1950 auch in der Schweiz, in Deutschland und Österreich buchstäblich »auf den Markt«. Besonderen Anteil daran hat die Fleurop- Kommission in Deutschland, die 1950 einen Werbefeldzug für das Blumenschenken am Valentinstag startete.
Im Februar wird natürlich auch manch ein Berliner vom Faschingstrubel erfaßt, der am 11. November mit dem Sturm auf das Rote Rathaus eingeläutet wurde. Aber zweifelsfrei ist Berlin nur ein Nebenschauplatz des närrischen Treibens.
     Und auch das »Märzenbier« ist keine Berliner Erfindung, obschon es auch hier gerne genossen wird. Heute ist es ein eigens für diese Zeit hergestelltes Bier. Der Brauch aber stammt aus Bayern. Es ist der Brauch des »letzten«, des »alten« Bieres oder eben des »Märzenbieres«. Getrunken wurde einst das letzte Bier des alten Jahres. Es war das von den Landbrauereien im Frühjahr gesottene, in den kühlen Sommerkellern gereifte und nun zur Neige gehende Lagerbier. Das letzte Bier aus diesen kühlen Verliesen galt als vorzüglicher Festtrank.
     Während er seine »kühle Blonde« genießt, läßt der Berliner seine Gedanken bereits vorausschweifen: auf den baldigen Frühling.

Bildquelle:
Archiv LBV

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