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Friedrich Tietz
Vom verschollenen Schulgarten

Berliner Erinnerung aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts

Daß die jetzige, von allen möglichen Gefährdungen und Mißlichkeiten begleitete Gegenwart in absehbarer Zukunft als »die gute alte Zeit« interpretiert und nostalgisch überzuckert wird, ist offenbar eine menschliche Schwäche, die so alt ist wie das Gedächtnis der Menschheit. Während heutzutage in Berliner Kulturgeschichten neben den angeblich »goldenen Zwanzigern« gern an das gemütliche Leben der Biedermeierzeit angeknüpft wird, waren deren Zeitzeugen in Wirklichkeit zutiefst verunsichert über die Umbrüche, die die Industrialisierung mit sich brachte. Wer in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Berlin mit den Erfahrungen der Revolution 1848/49, der Verminderung von Raum-, Zeit- und Standesunterschieden durch das Vordringen der Eisenbahn und dem Verfall des überkommenen Handwerks lebte, dachte voller Nostalgie an die Beschaulichkeit eines Lebens vor der Eisenbahn, vor Gasbeleuchtung der Straßen und vor dem Ruß in der Luft, der bei Nordwind aus dem »Feuerland« über die Stadt geweht wurde. Wer Berlin 1829 verlassen und

erst 1853 wieder zum ständigen Aufenthalt gewählt hatte, mußte den Unterschied zwischen der Zeit vor einem Vierteljahrhundert und der Gegenwart besonders deutlich empfinden.
     Das traf nun auf den Verfasser des folgenden Feuilletons voll und ganz zu. Friedrich Tietz, 1803 in Königsberg geboren, kam nach dem Jurastudium in der Mitte der zwanziger Jahre als Referendar im preußischen Justizdienst nach Berlin, trat hier aber bald als Verfasser gern gespielter lokalbezogener Lustspiele (z.B. 1829: »Die Komödie in Zehlendorf«) mehr hervor als durch Leistungen an seiner Arbeitsstelle. 1829 quittierte er schließlich den Dienst, verließ Berlin und begann ein recht unstetes Leben als Theaterautor und -direktor; das beendete er jedoch 1853 in Altona, um nun wieder nach Berlin zurückzukehren, wo er 1854 mit seinen »Bunten Erinnerungen an frühere Persönlichkeiten, Begebenheiten und Theaterzustände aus Berlin und anderswo« seine zweite Berliner Schriftstellerkarriere eröffnete. Diese wies ihn noch über ein weiter es Vierteljahrhundert als fruchtbaren Lustspiel- und Schwankdichter aus. Tietz starb in Berlin am 6.Juli 1879.
     Kurt Wernicke

     Als noch nicht Kroll erfunden und der Vergnügungssinn der Berliner noch ein bescheidener war, klang das Wort »Schulgarten«, wie es sich auf Zetteln von bei weitem kleineren Umfange an den Straßenecken präsentirte, als gegenwärtig, eben so lockend,

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wie jetzt Bal mabile – Italienische Nacht u. dgl. m. Der Schulgarten war das Amüsements- Alpha und Omega der Berliner Mittelklasse – Schönheitsjäger der höheren Stände daneben stark vertreten. Schütteln wir 25 Jahre Vergangenheit von unsern Schultern und machen wir uns leichten Fußes dorthin auf den Weg, der bald zu erkennen war, wenn man nur mit der Menschenströmung schwamm, die in zwei Armen – durch das Potsdamer und das Brandenburger Thor – sich nach dem ersehnten Heiterkeits- Meere ergoß. Zum Hingange wählen wir die Leipziger Straße an einem schönen Sommer- Nachmittage, am besten an einem Sonntage.
     Welch ein buntes Gewühl in der schönen breiten Straße! Unteroffiziere mit kurzgeschwänzter Uniform und dem mit weißen Fangschnüren drappirten Czacko – ebenfalls schon zu den entschwindenden Erinnerungen zählend – ihre Liebchen zärtlich am Arme führend, die ihren dienenden Stand noch nicht unter großen Cachemiren und reich garnirten Strohhüten verbargen, – Handwerksgesellen à la Rösicke im »Fest der Handwerker« costümirt, mit »Vatermörder, Schleife, Bolivar und Pfeife«, – Commis' aus dem Gewürzladen, kennbar an den rothen, dicken Händen ohne Handschuhe, – lustige Studenten in burschikoserer Tracht, als heute, die mit den Farben ihrer Landsmannschaften prangende Pfeifenquaste aus der Tasche des Flausches baumelnd, - an diesen flotten Burschen vorüberstreichend Griset-
ten, die damals noch den deutschen Namen »Schneidermamsells« führten, in kurztailligen, knapp über die hübsche Wade reichenden, mit kalbskeulenförmigen Aermeln prangenden Kleidern, – in gemessenem Schritte das Heer der Geheim- Secretaire mit ihren Ehehälften am gekrümmten Arme, während in ihre Fußtapfen das neunzehnjährige Töchterlein im bescheidenen, aber nicht ohne anmuthigen Koketterie- Anflug aufgeputzten Kleidchen niedergeschlagenen Auges trippelt und dieses nur momentan aufschlägt, um sich den kecken Lieutenant zu betrachten, der dem hübschen Mädchen unter den vorjährigen Strohhut schaut. Als drittes Glied hinter diesem zweiten weiblichen der geheimsecretairlichen Marschcolonne trottelt in schiefgetretenen Stiefeln das »jüngste Kind der Laune« des vielgeplagten Aktenmannes, in der linken eine in Papier gewickelte Butterstulle tragend, die zur Ersparung der Kosten im Schulgarten für den Magen des blondhaarigen, schafsmienigen Fritze bestimmt war, von welcher aber der gierige Jüngling, schon ehe das Thor erreicht ist, die gut gesalzene Butter – »4 Jroschen des Pfund« – abgeleckt hat.
     Zwischen diesen verschiedenen Sorten »berliner Menschheit« bewegt sich das elegante Völkchen der Auskultatoren und Referendarien, eine Jünglingsraçe, die vor 25–30 Jahren einen Haupttheil im berliner Gesellschaftsleben ausmachte und mit vieler Geschicklichkeit die Stufen desselben
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hinaus- und hinabzusteigen verstand, je nachdem oben die vierundzwanzigjährige Geheimräthin oder unten eines Schneiders oder Schusters Töchterlein größere Attractionskraft auf das vielfassende Herz eines solchen jugendlichen künftigen Justizministers ausübte. Im Jahre 1826 erkannte man sie vornehmlich an bunten seidenen Freischützwesten, gerutschten Hosen, die Fußspitzen ängstlich den verlorenen Bügel suchend, die Hand krampfhaft in die Mähne des geplagten Miethsgauls gekrallt, während dieser, besonnener als sein Ritter, der scharf dahertrabenden gelben leipziger Eilpost ausweicht, aus deren Wagenfenster die gerötheten Gesichter rheinischer Weinreisender
ungeheuren Vatermördern und an braunen, großköpfigen Fischbeinhüten, sowie an der ungenirten Art und Weise, mit der sie – auch auf unserem Gange durch die Leipzigerstraße bemerken wir dies – in die geöffneten Fenster des hohen Parterre's hineinstieren, an welchen hinter Hortensien und Balsaminen – Gummibäume und Epheu waren dazumal noch nicht Mode – zarte Banquiers- und Rentierstöchter zu sitzen pflegen.
     Während dies Getreibe die Leipzigerstraße auf den Trottoirs – damals aus kleinen, stiefelfeindlichen und schusterfreundlichen Steinen bestehend – belebt, wackeln mitten in der Straße, gehüllt in Staub, mehrere noch in der Entwickelungsperiode begriffene Droschken, wiegen sich Herrschafts- Equipagen, gefüllt mit schönen und unschönen Exemplaren der zarteren Hälfte des menschlichen Geschlechts, galoppiren Sonntagsreiter mit bis zum Knie herauf-

Berliner Grisette um 1840
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in das berliner Getümmel schauen. Auch die schöne Zeit der Eilposten ist verschwunden im Dampf der Locomotiven, – noch 100 Jahre und man wird in Curiositäten- Cabinetten vielleicht einen »vorweltlichen Postillon« im kolossalen Spiritusglase so bewundern, wie wir jetzt staunend im ägyptischen Museum vor den schwarzen Mumien stehen.
     Wir sind langsam vorwärts gekommen, die Hitze hindert uns an schnellerem Laufe. Jetzt haben wir das Potsdamer Thor erreicht und hier theilt sich der Menschenstrom. Links nach den Gärten, aus denen jetzt das Geheimratsviertel emporgewachsen, strömt die niedere Klasse, namentlich nach dem »blauen Himmel«, dem Schauplatz von Blum's »Stündchen vor dem Potsdamer Thor«, bevölkert von schmachtenden Buchbindersfrauen, stürmischen Thierarzneischülern, kolossalen Kindermädchen (à la Lina-Gern), verwegenen Unteroffizieren und bescheidenen Rekruten. – In die Potsdamerstraße hinein wogt es nach Schöneberg und Steglitz, – in die Bellevuestraße rollen die Equipagen der Reichen, zum Höfjäger vielleicht, »wenn dort am Sonntag die Gesellschaft nicht zu gemischt sein sollte!« – Wir aber, als mittelständischer Staatsbürger, halten uns, wie es einem loyalen Unterthan zukommt, rechts und suchen, wohl bedenkend, daß der Mensch sein ganzes Leben lang lernen soll, den Schulgarten.
     Von der jetzigen »Schulgartenstraße« und ihren stattlichen Häusern damals keine
Spur! Ein ungepflasterter Sandweg, – ähnlich wie der, welcher sich jetzt noch links vom Potsdamer Thore die Mauer entlang hinzieht, – rechts die Stadtmauer, die uns stets zu dem bescheidenen Wunsch begeistert, so viel Thaler zu besitzen, wie sie Ziegel, – links defekte Bretterzäune, hinter welchen hohe Pappeln, Linden, Kastanien und Eichen emporragen, zu den Privatgärten, den Pertinenzien der Bellevuestraßen- Häuser gehörend. Eine lockende Musik tönt uns entgegen; schweißtriefend von beschwerlicher Durchwatung des Sandweges, langen wir vor einer kleinen, nur noch schwach in rostigen Angeln hängenden Thüre eines Bretterzaunes an. Ein winziger Tisch mit einem Vergnügungsopferteller darauf, daneben ein Mann mit verlangendem Kassirer- Antlitz. Herren zahlen zwei (»jute«) Groschen, Damen sind frei. Wir befinden uns im Schulgarten.
     Dieser Schulgarten bestand aus einem ziemlich großen, mit hohen Bäumen bepflanzten Raum, an dessen Hinterseite nach der Mauer zu ein einfaches einstöckiges, oben mit vier oder fünf Dachstuben versehenes Häuschen, vor welchem ein bedeckter Kiosk für das Orchester stand, während nach vorne sich ein geräumiger, mit zahlreichen Obstbäumen, Lauben und Laubengängen ausgestatteter, sonst vernachlässigter Garten bis zur Bellevuestraße ausbreitete, wo ebenfalls ein Ein- oder Ausgang – je nachdem – sich befand. Wir finden
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dort ungefähr 1 200 Menschen versammelt, – darunter vielleicht zwei Drittel weibliche Individuen – was ungefähr mit dem jetzigen Besuch von 3–4000 bei Kroll in gleichem Verhältnisse steht, wenn man bedenkt, daß damals Berlin etwa 230 000, jetzt 450 000 Einwohner zählt. Von einem trefflichen Musikchor – als solches galt damals vorzugsweise das der Garde- Artillerie – hören wir Melodieen von Weber, Spohr, Boieldieu, zückt von Rebenstein als Hans Kohlhaas, fühlen sich von kunstsinnigem Schauder durchrieselt, wenn sie an Ludwig Devrient als Franz Moor denken und stimmen unisono ein unauslöschliches Gelächter an, als der »junge Gern« der gestern den Schelle gespielt hat, an ihrem Tische vorübergeht.
     Und die blonden, braunen, schwarzen Töchter? Es ist »duster« geworden, wir sehen sie nicht. Da flammen an allen Bäumen
Rossini, Spontini ausführen. An einer Unzahl von Tischen hat das Publikum Platz genommen, vorzugsweise bequeme Väter mit langer Pfeife, sorgsame Mütter und von diesen bewachte Töchter, beschäftigt mit dem Stricken von Strümpfen für große und kleine Füße. Auf dem Tische thront die unausweichliche »kühle Blonde« für »Vatern«, der Kaffee für das zarte Geschlecht. Lieutenants in Civil- Maske, Referendarien, Studenten und privilegirte jugendliche Nichtsthuer, die Cigarre zwischen den Lippen, umschweben und umsäuseln den Damenflor.
     Der Abend sinkt nieder. Die Väter von verschiedenen Tischen rücken einander näher und entscheiden über das Schicksal der Türkei, die damals auch schon von den Russen bedroht wurde, – die Mütter nähern sich ebenfalls, kritisiren die Stich und die Wolff als Maria Stuart und Elisabeth, sind ent-

Ein Droschkenkutscher wartet auf Kundschaft
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bunte Lämpchen auf, keine Krollschen Gassterne, sondern bescheidene Oelfeuerchen, die namentlich in die dichten Laubengänge hinein nur ein ungewisses Licht verbreiten. Dort wandelt, männlich und weiblich, was sich lang gesucht, endlich gefunden, in traulicher Armverschlingung auf und nieder, er ihre Lippen mehr beachtend, als das verwechselte mir und mich, das echt berlinisch diesen in dem Strom der Rede entströmt. Glühende Schwüre von ewiger Liebe fliegen hin- und herüber, wie glühende Johanniskäferchen. Und wenn der morgende helle Tag erscheint, ist die Gluth verschwunden, die der Schwüre und der Johanniskäfer. Unterdeß ist der Unterhaltungsstoff der Väter und Mütter versiegt; »Vater« hat den letzten Kümmel auf die Weiße gesetzt und »Mutter« nach genossener Cotelette der verschwundenen Tochter erinnert. Sie geht auf Entdeckungsreisen aus; – »Rieke!« »Male!« tönt es aus der Mutter Munde, bis sie endlich das vestalische Töchterchen findet, »dort, wo man sich selbst vergißt«, aber nicht bei Fanchon, sondern bei einem Jünglinge, der sich beim Nahen der Alten entweder »verkrümelt«, oder muthig genug ist, der voraussichtlich- künftigen Schwiegermama Stand zu halten und die verehrte Familie nach Hause zu begleiten.
     Wohl Euch, ihr würdigen Väter und Mütter, wenn ein solcher eleganter Lilienknicker mit gelben Glacée- Handschuhen die schwiegerväter- und mütterlichen Hoffnun-
gen zur Wahrheit zu machen ehrlich genug ist und nicht eine »Geschichte« daraus wird, wie sie einer unserer Freunde, der damals auch ein habitué des Schulgartens war, auf seltsame Weise im Gespräch mit einem tauben Geheimsecretair erfahren haben will. Unser Freund sitzt nämlich eines Abends dort neben besagtem »Geheimen«, der, wie andere Gebrechliche eines Opernguckers, sich einer großen Hörtrompete bediente, als eben Spontini's Ouvertüre zur »Agnes von Hohenstaufen« vom Orchester herabbrauste und in demselben Augenblick ein damals bekannter, jetzt wie der Schulgarten verschollener Schneidermeister vorüberging. »Spontini ist ein tüchtiger Meister«, ruft unser Freund dem alten Secretair in die Hörtrompete. – »Ja«, erwiederte Jener, »aber theuer.« – »Doch tragen seine Leistungen alle den Charakter großer Originalität an sich, nur arbeitet er etwas schwer«, fährt unser Freund fort. – Darauf der Taube: »Ja wohl und alles zu eng, trotzdem er lauter französische Gesellen hat.« – Der Freund schaut verdutzt den Alten an, von dem er wohl wußte, daß er taub, aber nicht, daß er verrückt sei, fragt aber weiter: »Wie gefällt Ihnen seine Agnes?« – »Ist mit meiner Nichte Auguste eingesegnet,« erwiederte der alte Herr. – »Eingesegnet? Hm! hm! – Sind Sie mit dem Sujet als dramatischem Stoffe zufrieden? – »Mauvais sujet« – antwortete der Taube – »kenne Sie ganz genau.« – »Aber was sagen Sie zu der Ausstattung?« – »I, wird
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nicht weit her sein; wer die heirathet, kann sich schneiden.« – »Die Agnes?« fragt unser Freund erstaunt. – »Nun ja, die mit dem Optikus- Sohn die Liebschaft hatte und jetzt, wie die böse Welt sagt, auf einige Zeit nach Luckenwalde verschwunden ist.« – »Agnes von Hohenstaufen in Luckenwalde? Spontini's Agnes?« ruft der Freund erstaunt und erst dann geht ihm ein Licht auf, als der Herr Geheimsecretair ausführlicher sich über die Großvaterfreuden ausläßt, die des Schneidermeisters Loppihn Agnes ihrem Papa von Luckenwalde mitgebracht.
     Ehe wir auf immer von dem Schulgarten Abschied nehmen, noch ein paar Worte über eine curiose Colonie die sich dort im Sommer 1827 angesiedelt und von der einige Mitglieder vielleicht jetzt zu unsern Lesern gehören. Acht bis zehn junge Leute waren es, – Auskultatoren, Studenten, beginnende Musiker und dergleichen lustiges Volk – die im vorhergegangenen Winter Theater, Brühl'sche Bälle, Maskeraden und andere Amüsements mehr gekostet, als der halbjährige Wechsel gestattete.
     Der Manichäer stürmische Schaar wurde unangenehm. Keine Ruh und Rast im stillen Zimmer. Man trat zu einem Rath zusammen und beschloß, den Sommer in abgeschiedener Gegend sich der Sparsamkeit und des Studiums zu befleißigen und so einzubringen, – an Geld und Gelehrsamkeit – was der Winter zu viel gekostet. Für ein Billiges wurden drei Dachstuben des Wirtshauses im
Schulgarten gemiethet, mit dem Wirthe ein sehr wohlfeiler Mittagstisch kontrahirt. So entfloh man städtischer Verlockung, manichäerischem Drängen und zog hinaus in die »ländliche Stille« des Gastgartens. Es bildete sich – wußte die Jugend doch nicht, was sie Ausgelassenes anstellen sollte – dort ein »Staat im Staate,« jedoch in unschuldigster Weise ohne hochverrätherische Nebenabsicht, ein lustiger Phantasiestaat: das »Reich des Uebermuths.«
     Eine monarchische Spitze fehlte. Minister regierten. Ein junger Musiker – jetzt führt er ehrenvoll den Taktstock – übernahm das »Auswärtige«, weil er mit Noten Bescheid wußte. An ihn gelangten die »Noten« der auswärtigen Schneider- und Schustermächte. Der musikalische Minister quittirte über den Empfang der Noten und tröstete die Gläubiger des Staates in zierlichen Briefen mit der Hoffnung, daß sie, wenn der Michaelis- Termin die Kassen der Staats- Angehörigen gefüllt, vielleicht auch in die angenehme Lage versetzt werden würden, über den Betrag der Noten quittiren zu können.
     Ein Philosophie Studirender wurde Minister des Handels und zog in Begleitung des einzigen stiefelwichsenden Burschen, im Solde der Colonisten, jeden Sonnabend und Mittwoch zum Gendarmenmarkt, um massenhafte Ankäufe von Brod, Butter und Käse für die Colonie zu machen. – Etwaige Streitigkeiten wurden von dem Justizminister,
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einem beredten Auskultator, der als jetziger Tribunalsrath a. D. sich an die Jugendschnurren erinnern mag – wenn irgend möglich geschlichtet. Wenn nicht, fiel die Sache dem Kriegsminister anheim, einem bewährten »Paukanten«, der ein Schlachtfeld in des Gartens entlegenen Gründen auswählte und alles Nothwendige zum Kampf arrangirte. »Und die Paukerei ging los!« Floß dabei ausnahmsweise Blut, war in der Person eines Mediciners das »Medicinal- Collegium« vertreten. Der wackere Doctor ist eher gestorben, als seine damaligen Patienten, – ein achtungswerther Fall im medicinischen Leben. Nicht allein Rappierwunden, auch andere Gebrechen heilte das Medicinal- Collegium des Uebermuths.
     Unser Finanzminister, der seine Sorgen in Burgunder zu ertränken pflegte, war von diesem Franzosen dafür mit einer rothen Nase belohnt, die den eitlen Jüngling fatal genirte. Vielfältige Mittel halfen nicht. Endlich wurde in geheimer Sitzung eine »Operation des Uebermuths« beschlossen. Der Patient mußte sich auf's Sopha legen; mit dem Stahl und Stein eines damaligen Feuerzeugs wurden Funken auf das glühende Gesichtsglied geschleudert, um in homöopatischer Weise Feuer mit Feuer zu vertreiben. Und wunderbar genug, die Nasenröthe verlor sich und machte einer zierlichen Naseweißheit Platz. Wir bemerken dabei, daß seit der Begründung der
Colonie sämmtlicher Burgundergenuß aufgehört, der Genuß der Blonden an dessen Stelle getreten war.
     Auch Leute mit publicistischer Begabung zählte die kleine Colonie und von diesen wurde eine zweimal in der Woche erscheinende »Uebermüthige Staatszeitung« als Manuscript für Freunde herausgegeben, die in ausgelassener Weise die Verhältnisse dieses übermüthigen Colonie- Lebens und Treibens besprach. Wir zweifeln, daß die hiesige Bibliothek ein Exemplar jener Zeitung besitzen dürfte, haben aber noch vor Kurzem das treffliche Blatt auf dem Schreibtisch eines cidevant Colonisten erblickt.
     Als im Herbste die Wechsel aus der Heimath einliefen, wurden die Verhältnisse des übermüthigen Staates auf befriedigende Weise geordnet und die Bürger der Colonie siedelten wieder nach Berlin über. Einige derselben haben wir noch in neuester Zeit bei Stehely gesehen, andere nicht mehr, weil sie ein für Lebende unzugängliches Logis bezogen haben – auf verschiedenen Kirchhöfen. Requiescant in pace! Es waren lustige Bursche. Sie sind verschollen – wie der Schulgarten.
Aus: Friedrich Tietz, Bunte Erinnerungen an frühere Persönlichkeiten, Begebenheiten und Theaterzustände aus Berlin und anderswoher, Berlin 1854

Zeichnungen: Theodor Hosemann

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