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und insbesondere ihrer progressivliberalen Grundlinie. Gemessen an den gesellschaftlichen Verhältnissen im wilhelminischen Deutschland, vertrat sie recht konsequent die Ansichten und Interessen jener Arbeiter, Angestellten und Mittelständler, die nicht auf Partei- oder parteinahe Blätter orientiert waren.
     Die »Morgenpost« blieb in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nicht die einzige Tageszeitung im Ullstein-Verlag. 1904 kam die »B. Z. am Mittag« hinzu; 1904 kauften die fünf Söhne Leopold Ullsteins, die das Unternehmen nach dem Tode ihres Vaters gemeinsam weiterführten, die »Berliner Allgemeine Zeitung« und 1913 die »Vossische Zeitung« an. Doch in der Auflagenhöhe und damit in der Massenwirksamkeit war die »Morgenpost« unangefochtener Spitzenreiter. Neben den Wochenblättern, Zeitschriften und Büchern, die der Verlag nun ebenfalls herausgab, sicherte sie der Firma steigenden Umsatz, entscheidenden Vorsprung vor den Berliner Konkurrenten Scherl und Mosse, ja den Aufstieg zum damals führenden deutschen Pressekonzern.
     1922 wurde die »Berliner Allgemeine Zeitung« mit der »Berliner Abendpost« zusammengelegt und zur Abendausgabe der »Berliner Morgenpost« umfunktioniert. Im weiteren Verlauf der zwanziger Jahre erhöhten sich die täglichen Auflagen der »Morgenpost« auf 600 000 und bis zum Anbruch der Nazi-Herrschaft auf 700 000 Exemplare. Da-
Gerhard Fischer
100 Jahre »Berliner Morgenpost«

Von sämtlichen Tageszeitungen, die heute in Berlin hergestellt werden, kann als einzige die »Berliner Morgenpost« von sich sagen, daß sie – nur durch die Ereignisse bei und nach Ende des Zweiten Weltkriegs unterbrochen – schon seit dem vorigen Jahrhundert erscheint. Am 20. September 1898, vor hundert Jahren also, kam die erste Ausgabe heraus. (BM 9/94) Schon der Untertitel »Neues Berliner Lokalblatt« im Zeitungskopf ließ erkennen, worauf es dem Verlag und der Redaktion bei der Gründung ankam: Vornehmlich das Geschehen in der preußisch-deutschen Hauptstadt, deren politisches, wirtschaftliches, geistiges Leben sollte so vielseitig wie möglich journalistisch widergespiegelt und beeinflußt werden.
     Für den vormaligen Papiergroßhändler Leopold Ullstein (1826–1899) war die »Morgenpost« nicht der erste Schritt auf dem Feld der Tagespublizistik, aber sein erfolgreichster. Bis zum Herbst 1899, also binnen Jahresfrist seit dem Start, kam sie auf eine tägliche Auflage von 160 000 Exemplaren. Das verdankte sie dem billigen Preis – 10 Pfennig für ein Wochenabonnement –, dem blühenden Geschäft mit Kleinanzeigen

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mit hatte sie unter den deutschen Tageszeitungen die größte Zahl von Abonnenten. Das schrieb ein damaliger Verlagsdirektor in erster Linie ihrem »Verbraucher-Standpunkt« zu. Daß die Redaktion sich ihm anpaßte, wirkte absatzfördernd, läßt allerdings im Rückblick auch die Grenzen des bürgerlichen Journalismus in der Zeit der Weimarer Republik sichtbar werden.
     Nach Hitlers Machtantritt 1933 wurde der Ullstein-Verlag schrittweise »arisiert« und 1937 in »Deutscher Verlag« umbenannt. Zwar erschien die »Berliner Morgenpost« weiter, doch nun de facto als ein Organ des Nazi-Pressetrusts Franz Eher Nachf. München, des »Zentralverlages der NSDAP«. Zahlreiche jüdische Mitarbeiter von Verlag und Redaktion der »Berliner Morgenpost« wurden entlassen und verfolgt, in die Emigration getrieben oder deportiert und ermordet. Stellvertretend für sie alle genannt seien Paul Hildebrandt (1870–1948), der von 1943 bis 1945 im KZ Buchenwald eingekerkert war, und Elise Münzer (1869–1942), die in Malý Trostinec umgebracht wurde.
     1945 verfügten die Alliierten, daß kein Blatt mehr unter früherem Namen herausgegeben werden dürfe. So erschien die ehemalige »Morgenpost« ab 1949 zunächst unter dem Titel »Berliner Anzeiger« wieder. Träger der westalliierten Lizenz waren die Geschäftsleute Klemm und Wilmenroth. Hergestellt wurde das Blatt im Druckhaus Tempelhof, seit seinem Bau 1925/26 bei den
Berlinern als »Ullsteinhaus« bekannt. Anfang 1952 wurde die Familie Ullstein, vertreten durch den aus britischem Exil zurückgekehrten Rudolf Ullstein (1873–1964), den letzten seinerzeit noch lebenden Sohn des Verlagsgründers, wieder in ihre Eigentumsrechte eingesetzt. Er kaufte den »Berliner Anzeiger« auf und ließ am 26. September 1952 die »Berliner Morgenpost« erstmals unter ihrem alteingeführten Namen wieder erscheinen.
     Ab 1956 erwarb der Hamburger Großverleger Axel C. Springer (1912–1985) nach und nach die Aktien der Ullstein AG – zunächst die Sperrminorität, bis 1960 die Mehrheit – und somit auch die »Berliner Morgenpost«. Als er im gleichen Jahr die AG in eine GmbH umbildete und 1961 aus ihr das Druckhaus Tempelhof als rechtlich selbständige Tochtergesellschaft ausgliederte, blieben die Ullstein-Verlagsobjekte, auch die »Morgenpost«, in seiner Hand. Seit von 1961 bis 1966 in der Kochstraße 50 das Verlagshaus Axel Springer samt dem Druckereigebäude neu errichtet worden ist, entsteht die »Berliner Morgenpost« wieder vollständig im traditionsreichen Berliner Zeitungsviertel, in dem sie vor einem Jahrhundert im Hause Kochstraße 23 ihren Ursprung hatte.
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