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Winfried Ilgenstein
Seitenhiebe für Muckertypen

Der Dramatiker Heinrich Ilgenstein
(1875–1946)

»Sein Humor ist niemals verletzende Witzelei, seine Satire nie pessimistisches Schwarzsehen, sondern ein gütiges Belächeln menschlich- allzumenschlicher Torheit. Daß seine Werke fast ausnahmslos den Schleier einer leisen Wehmut tragen, macht sie einem besonders lieb«, schrieb E. v. Hollander 1925 anläßlich des 50. Geburtstages Heinrich Ilgensteins in der »Königsberger Hartungschen Zeitung«.
     Der heute fast vergessene Dramatiker und Lustspielautor Heinrich Ilgenstein wurde einst in einem Atemzug mit Hauptmann und Wedekind genannt. So im Januar 1914 im Berliner »Theater- und Kunstspiegel«, der die jüngsten Aufführungen von Stücken dieser drei Autoren rezensierte. Gerhart Hauptmann kommt dabei denkbar schlecht weg. In seinem Drama »Bogen des Odysseus« habe er »nur ein süßsaures Gemisch von antiken Unklarheiten und vermischten Modernismen« fabriziert. Noch weniger Gnade vor den Augen des Rezensenten findet Frank Wedekind. In seiner Komödie »Simson« sei

Heinrich Ilgenstein
die »Verzerrung ins Erotische und Modern-Perverse zu gering, als daß sich ein weiteres Eingehen darauf verlohnte«. Den literarischen Wert suche man vergebens. Ilgensteins Lustspiel »Kammermusik« dagegen wird ohne Abstriche gelobt. Es sei »eine von den vielen Novitäten, die erst über die Provinz in die Reichshauptstadt kamen. Und der Provinzerfolg blieb ihr auch in der Metropole treu.« Unter den Vorzügen des Stückes werden insbesondere die Seitenhiebe »für gewisse Muckertypen der Gegenwart« genannt.
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Anliegen des Autors ist es, Doppelmoral zu entlarven: Ein Damenklub und andere Zeitgenossen tarnen sich als Tugendwächter, um desto besser in vermeintlich schmutziger Wäsche wühlen zu können. Das Verwirrspiel um Maskierungen und Demaskierungen, angesiedelt im Theatermilieu, ergibt ein raffiniertes Spiel im Spiel. Die Berliner Erstaufführung am 24. Januar 1914 im Komödienhaus am Schiffbauerdamm konnte mit glanzvollen Namen aufwarten, allen voran Ida Wüst und Otto Gebühr.
     »Kammermusik«, bereits 1912 im Königsberger Neuen Schauspielhaus uraufgeführt,
Im selben Jahr wurde »Kammermusik« von Paul Scheinpflug vertont, Premiere war am 3. Februar 1922 im Deutschen Opernhaus. Der Film bemächtigte sich 1925 des unterhaltsamsatirischen Stückes. Henny Porten spielte hier ebenso die Hauptrolle wie danach im Film »Skandal um Eva«, dessen Manuskript nach Ilgensteins Lustspiel »Skandal um Olly« entstand. 1928 hatte »Der Tenor der Herzogin«, Operette von Eduard Künnecke, Berliner Premiere, den Text schrieb Richard Keßler nach Ilgensteins »Kammermusik«. Ein Autor in den »Goldenen Zwanzigern« auf der Höhe seines Er-
kann als Ilgensteins erfolgreichstes Stück gelten. Es hielt sich auch mehr als ein Jahrzehnt auf den Spielplänen deutscher Bühnen. Ende 1920 ging es im Berliner Trianon-Theater wiederum über die Bretter, die – damals wohl mehr als heute – die Welt bedeuteten. Hans Albers spielte in diesem »Stück ohne literarische Prätensionen«, wie der »Berliner Lokal-Anzeiger« am 27. November urteilte, das aber noch immer die Gunst des Publikums hatte. »Der Verfasser, etwas minder elegant herausstaffiert als seine glücklicheren Kollegen vor der Kulisse, konnte strahlend und unbeholfen zum wiederholten Male danken«, berichtete das Blatt.

Aus Heinrich Ilgensteins Gästebuch: der Pianist Wilhelm Backhaus

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folgs. Im Juni 1925 stand sein letztes Lustspiel, »Liebfrauenmilch«, bei Max Reinhardt auf dem Spielplan. »Es entbehrt aller aufgebauschter Gewagtheiten«, vermerkte Hugo Markus, offenbar ein Bewunderer Ilgensteins, in »Reclams Universum«, Leipzig, am 18. Juni 1925, und fügte beinahe bedauernd hinzu: »Es gibt nicht einmal einen Ehebruch.« Höchstes Lob schließlich: Man könne den Schöpfer von »Liebfrauenmilch« wohl »nicht ganz mit Unrecht den Ibsen des deutschen Lustspiels nennen«.
     »Der Tenor der Herzogin« nach Ilgensteins »Kammermusik« wurde im Februar 1930 auch in Prag, im Neuen deutschen Theater, unter großem Beifall aufgeführt. In eben dieser Zeit reifte der Entschluß des erfolgreichen Autors, Deutschland zu verlassen. Im Gegensatz zu vielen anderen Intellektuellen hatte er frühzeitig die gefährliche innenpolitische Entwicklung erkannt, die in Hitlers Machtantritt mündete. Heinrich Ilgenstein und seine Frau Elisabeth, geborene Siebert, studierte Philologin, Jahrgang 1879, verließen 1930 ihre Wohnung in Charlottenburg, Königsweg 24, am Lietzensee, wo sich in ihr Gästebuch viele bekannte Persönlichkeiten eingetragen hatten. Später kamen nicht wenige hinzu. So der Dirigent Bruno Walter, der Pianist Wilhelm Backhaus, die Schauspielerinnen Käthe Dorsch, Henny Porten, Ida Wüst und ihr Kollege Alexander Moissi, Intendant Georg Hartmann vom Deutschen Opernhaus, die Büh-
nenagentin Ella Entsch, die Schriftsteller Walter von Molo, Ludwig Fulda, Hermann Kesser. Das kinderlose Ehepaar emigrierte in die Schweiz, nach Gentilino bei Lugano. Heinrich Ilgenstein starb dort am 5. April 1946, seine Frau am 9. Juni 1961. Die Rechte am literarischen Nachlaß gingen auf den Neffen Winfried Ilgenstein über.
     Heinrich Ilgenstein, am 3. Juni 1875 in Memel geboren, Ostpreuße mit salzburgischen Eltern, hat in Berlin an der Friedrich-Wilhelms- Universität Literatur, Geschichte und neuere Sprachen studiert. 1900 promoviert er zum Dr. phil. mit einer Arbeit, die 1902 als literarische Studie »Möricke und Goethe« im Berliner Verlag Richard Schröder veröffentlicht wird. Zu dieser Zeit hat der junge Mann sicherlich noch keine Ambitionen, Lustspielautor zu werden. Der ernste Stoff, die zeitkritische Sicht beschäftigen ihn.
     Zunächst aber geht es um den Aufbau einer Existenz. Ende November 1903 schreibt er aus Berlin W, Pallasstraße 14, IV. Stock, an den Schriftsteller Hermann Sudermann, bittet ihn um Fürsprache bei seiner Bewerbung als Feuilletonredakteur an der »Frankfurter Zeitung« (Ilgenstein: »Frankfurt am Main natürlich«), der späteren FAZ. Man scheine dort »nicht ganz abgeneigt«, ihm diesen Posten zu übertragen, »auf die große Anerkennung hin, die mein Büchlein >Goethe und Möricke< allgemein in der Presse gefunden« habe – vor Aufregung zitiert er seinen eigenen Buchtitel falsch. Sudermann jedenfalls,
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Zeichnung aus einer Rezension der Uraufführung von »Kammermusik« 1930
auf dessen »freundliches Wohlwollen« der Petent hofft, kann oder will nichts für ihn tun. Ilgenstein bleibt jedoch auch als arrivierter Bühnenschriftsteller ein freundschaftlicher Bewunderer Sudermanns, wie ein Geburtstagstelegramm von 1925 beweist.
     Das Jahr 1906 wird zu einem ersten Festpunkt in Ilgensteins publizistischem Lebenslauf. Er gibt in Berlin »Das Blaubuch, Wo-
chenschrift für öffentliches Leben, Literatur und Kunst« heraus, zusammen mit dem Sozialtheologen Albert Kalthoff, geboren 1850 in Barmen, 1888 Pastor in Bremen. Die Zeitschrift versammelt eine ganze Schar später bekannt gewordener junger Autoren um sich und geht mit der kaiserlichen Obrigkeit wiederholt respektlos um.
     Mut vor Fürstenthronen und seine Abnei-
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gung gegen die wilhelminischen Adelsallüren beweist Heinrich Ilgenstein 1909 mit einem Bändchen »Preußenspiegel, Studien aus einem Kulturstaat«, die Titelzeichnung zeigt einen Altar, auf dem ein kaiserlicher Adlerhelm prangt, flankiert von Kerzenleuchtern. Glossierend heißt es darin: »Es gibt viele Erben in Preußen, denen das Leben Ahnenkult und jedes Kind nur ein Enkel ist. Das nennen wir konservativ. Ihre Lust ist es, zu sein, und der Sinn dieses Seins nur, sich fortzupflanzen. Diesen ist das Überkommene ein Besitz und jedes Jahr nur ein neues Glied zu der Kette, die sie aus Tradition und Geschichte schmieden. Wenn diese Menschen von der Zukunft reden, meinen sie immer die Vergangenheit, meinen sie immer: Möchte es doch künftig so bleiben. Das wirkliche Leben aber schreitet rücksichtslos über Tote und Halbtote dem zukünftigen entgegen.«
     Noch mehr Anstoß erregt in derselben Schrift sein Eintreten für den von Polizei und Justiz jahrelang kujonierten Schuster Wilhelm Voigt, der sich nach Ilgensteins Ansicht ehrlich sein Brot verdienen wollte – »Ehrlicher als mancher Bankdirektor! Ehrlicher als mancher Minister!« – und schließlich ins Zuchthaus kam, weil »der genial erdachte und genial ausgeführte Handstreich von Köpenick« die heuchlerische Gesellschaft lächerlich gemacht hatte.
     Ilgenstein: »Am Tage der Verhaftung verkündete man breitspurig, der König hätte sich wiederholt Berichte eingefordert und geruht, sich auch über die Ergreifung Voigts allerhöchst eindringlich Vortrag halten zu lassen. Ist das alles? fragte man sich. Nennt sich nicht der König bei jeder Gelegenheit den Hüter des Rechts und den Schirm der Unterdrückten? Wäre es nach dem Vortrage über den Fall Voigt nicht die vornehmste Pflicht des Monarchen gewesen, sich über
Aus Heinrich Ilgensteins Gästebuch: der Schriftsteller Hermann Kesser
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das unsittliche und unerhörte Gebaren der Polizeiorgane zu äußern und dagegen zu protestieren, daß einer seiner >Untertanen< schutzlos wie in einem mittelalterlichen Räuberstaat von Ort zu Ort gehetzt wird?«
     Dies war nun zu frech. Wegen des Verdachts auf Majestätsbeleidigung sitzt Ilgenstein 1910 in Moabit ein halbes Jahr in Untersuchungshaft, ohne daß es zur Anklage kommt. Die kaiserliche Justiz gibt sich wohl mit der abschreckenden Wirkung der U-Haft zufrieden. Aus der schon damals weithin bekannten Anstalt schreibt er mit dem Absender Berlin NW, Alt-Moabit 12, an seine Verlobte Elisabeth, sein »liebes Elschen«, daß seine Gefängniszeit ihr »sehr gut zu stehen anfängt«, weil sie »mit jedem Tag größer und liebenswerter« vor ihm stehe. 1912 heiraten die beiden.
     Die Untersuchungshaft hat den Herausgeber Ilgenstein zwar vorsichtig gemacht, aber ihn nicht seiner Ironie beraubt. So veröffentlicht er im »Blaubuch« 1/1911 ein satirisches Kapitel mit dem Titel »S. M.«, Nachdruck aus dem Buch »Bekenntnisse eines Barbaren« von G. S. Viereck, erschienen bei Maritima, Berlin. Darin heißt es: »S. M. – seine Majestät – nennen die Deutschen unter sich ihren Kaiser. Eine wundervolle Persönlichkeit ist S. M.! Ganz Deutschland
ist von ihr durchdrungen. Er ist überall, ein wahrhaft großer Mann – vielleicht die größte zeitgenössische Erscheinung.«
Dazu der Herausgeber in einer Fußnote: »Wir betonen, daß wir uns mit dem Inhalt des Artikels nicht identifizieren, schon um nicht wegen unerlaubter Verhimmlung des Staatsoberhauptes angezeigt, prozessiert und hingerichtet zu werden. >Es ist unglaublich<, schließt der Verfasser, >welche Opfer Deutsche, selbst kühle Geschäftsleute, für ein Lächeln von den kaiserlichen Lippen

Aus Heinrich Ilgensteins Gästebuch: der Dirigent Bruno Walter

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bringen!< Ja, ja, man will Leute kennen, die sogar den gesunden Menschenverstand opfern.«
     1909 erscheint Ilgensteins erster Roman, »Die beiden Hartungs«, angesiedelt im Milieu seiner ostpreußischen Kindheit, in dem ein buckliger Junge vom äußeren Schwächling zum innerlichen Helden wird. 1910 folgt als erstes Drama »Die Wahrheitssucher«, ebenfalls mit humanistischer Grundaussage und individueller Sicht. 1916 ediert wiederum der Erich Reiss Verlag den Roman »Haß regiert«. Er weist Ilgenstein mitten im Krieg als Kriegsgegner aus, sehr im Gegensatz zu seinem weitaus berühmteren Dramatikerkollegen Gerhart Hauptmann, dessen Gedicht »Komm wir wollen sterben gehen« (1915) durchaus als frühe ideologische Einstimmung auch auf den Zweiten Weltkrieg gelten kann. Ilgensteins Abneigung gegen Hauptmann ist aus konträrer Grundhaltung verständlich.
     Die Herausgeberschaft der Zeitschrift für Literatur, Wirtschaftsleben und Kunst »Die Gegenwart« übernimmt Ilgenstein 1910 von Paul Lindau, der das überparteiliche und weitgehend oppositionelle Blatt zu Ansehen geführt hatte. Sitz des Verlages: Bülowstraße 56, also identisch mit dem Sitz des Erich Reiss Verlages. Die Zeitschrift wird von den Nazis zunächst verboten, dann aber als eigenes Top-Organ »Das Reich« mit tiefbraunem Inhalt und einem Layout fortgeführt, das sich die nach 1945 britisch
lizenzierte »Zeit« in manchem zum Vorbild nahm.
     Die Bekanntschaft, später Freundschaft des Autors Ilgenstein mit seinem jüdischen Verleger Erich Reiss (in anderer Schreibweise auch Reiß) sollte sich für diesen als sehr hilfreich, wenn nicht sogar lebensrettend erweisen. Reiss war von den Nazis ins Konzentrationslager Oranienburg gebracht worden, und Ilgenstein – wahrscheinlich durch das Berliner Büro informiert – betrieb von der Schweiz aus die Ausreise des Verlegers in die USA via Schweden, indem er ein »vom KZ verlangtes Kopfgeld« (Ilgenstein in einem Brief vom 13. August 1945 an Reiss) schickte und zu dessen Lebensunterhalt in Stockholm beitrug, bis die Papiere für die Überfahrt nach New York beisammen waren. Als Zeichen des Dankes hat Reiss von den USA aus bei der Einbürgerung des Ehepaares Ilgenstein in der Schweiz geholfen, die offenbar erst nach Kriegsende möglich wurde. »In dem furchtbaren Geschehen des Kriegsausbruchs war es mir ein großer Trost zu wissen, daß Du auf dem Wege nach Amerika warst, sozusagen in letzter Stunde«, heißt es in dem Brief aus Gentilino. Unter den unzähligen Manuskripten des Heinrich Ilgenstein ist dies eine winzige, aber keineswegs die geringste Äußerung.

Bildquelle: Privat, Deutsche Zeitung Bohemia, Prag 1930

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